Um "in Berlin unter Wienern statt in Wien unter Kremsern zu leben", kehrt Anton Kuh im Sommer 1926 seiner Geburtsstadt den Rücken und flieht aus der stickigen Enge in die großstädtische Atmosphäre Berlins. Und schreibt darüber. Der streitbare Intellektuelle Anton Kuh berichtete als brillanter Chronist in herausragenden Glossen über die laufenden Ereignisse seiner Zeit, als fulminanter Stegreif-Redner machte er Sensation. Dieser Band präsentiert vier Dutzend teilweise bisher noch nicht in Buchform veröffentlichte Texte Anton Kuhs zu Wien und Berlin: scharfsichtig, frech und voll polemischer Verve.
An Wiederbelebungsversuchen fehlt es nicht: Helmut Qualtinger hat in den frühen sechziger Jahren Texte von Anton Kuh auf Schallplatte eingelesen, vor gut dreißig Jahren erschien im Wiener Löcker Verlag eine Auswahl, 1994 legte Kremayr & Scheriau nach: der Qualitätsfeuilletonist ist in seiner Geburtsstadt nicht vergessen. Das zeigt auch der vorliegende neue Anlauf einer jüngeren Verlegergeneration. Versammelt sind knapp fünfzig, teils bislang unveröffentlichte Artikel aus den Jahren 1918 bis 1940. Herausgeber Walter Schübler, der eine Biogaphie sowie eine Werkausgabe vorbereitet, tritt an, Kuh vom Ruf zu befreien, er sei eine "Fußnote in der Karl-Kraus-Sekundärliteratur". Tatsächlich hat Kuh sich oft über die "Metaphysik des Beistrichs" und über die quasireligiöse Gemeinde des "Fackel"-Herausgebers lustig gemacht - wofür diese sich nach Kräften rächte. Als Kraus ankündigte, nach Berlin übersiedeln zu wollen, um es von dem Kritiker Alfred Kerr zu befreien, konterte Kuh lakonisch, die Stadt habe ein "wunderbares Mittel gegen Kleinkrieg: ihre Größe". Es ist durchaus vergnüglich, in diesen Schlaglichtern auf zwei gegensätzliche Metropolen zu stöbern. Im Falle Wiens hatte Anton Kuh noch während des Ersten Weltkriegs "Operettenvertrottelung" diagnostiziert, 1926 übersiedelte er nach Berlin. Von dort vertrieben ihn 1933 die Nationalsozialisten. 1938 emigrierte er nach New York. So jugendfrisch ist das Unternehmen Metroverlag, dass seine "Verlagsphilosophie" noch "in Arbeit" ist. Im Geiste Anton Kuhs möchte man sagen: Warum denn sachlich, wenn es auch persönlich geht. (Anton Kuh: "Jetzt können wir schlafen gehen!" Zwischen Wien und Berlin. Hrsg. von Walter Schübler. Metroverlag, Wien 2012. 238 S., geb., 19,90 [Euro]). hhm
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