Karl Heinz Bohrer gilt als einer der streitbarsten deutschen Intellektuellen. Als Leiter des Literaturteils der FAZ im eigenen Haus umstritten, als Herausgeber des Merkur für kühne Thematik berüchtigt, als Hochschullehrer eine Gegenfigur der Linken, als Wissenschaftler mit seiner zentralen Theorie der Plötzlichkeit eine Herausforderung für alle, die es gewohnt sind, sich geschichtsphilosophische Sinnhorizonte zurechtzubiegen.
Die unbeirrbare Erwartung, dass die banale Gegenwart umschlägt in das phantastische Jetzt - das ist Karl Heinz Bohrers Motor in seiner autobiographischen Geschichte. Sie spielt in europäischen Metropolen wie London und Paris, an deutschen und amerikanischen Universitäten, auf essayistischem wie auf wissenschaftlichem Terrain. Und immer wieder auf der Bühne der Beziehungen: zu Frauen, Freunden, Weggefährten und Gegnern. Intellektuelle Abenteuer wechseln mit erotischen Eskapaden. Dabei erzählt er konsequent aus der Perspektive des aktuellen Erlebens: aus dem Jetzt.
Die unbeirrbare Erwartung, dass die banale Gegenwart umschlägt in das phantastische Jetzt - das ist Karl Heinz Bohrers Motor in seiner autobiographischen Geschichte. Sie spielt in europäischen Metropolen wie London und Paris, an deutschen und amerikanischen Universitäten, auf essayistischem wie auf wissenschaftlichem Terrain. Und immer wieder auf der Bühne der Beziehungen: zu Frauen, Freunden, Weggefährten und Gegnern. Intellektuelle Abenteuer wechseln mit erotischen Eskapaden. Dabei erzählt er konsequent aus der Perspektive des aktuellen Erlebens: aus dem Jetzt.
»Karl Heinz Bohrer ist eine einzigartige Gestalt unter den deutschen Gelehrten ... « Thomas Steinfeld Süddeutsche Zeitung 20170325
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2017Die ganze Unerheblichkeit des sogenannten Lebens
Sinnsuche als Paradox: Karl Heinz Bohrer gibt sich in seinen Erinnerungen als Don Quijote der Geistesrepublik
Was wäre aus Karl Heinz Bohrer geworden, wenn diese Zeitung ihn nicht 1975 als Feuilletonkorrespondenten nach London entsandt hätte? Als Joachim Fest Herausgeber wurde, ersetzte er ihn als Literaturchef durch Marcel Reich-Ranicki. 2012 veröffentlichte Bohrer seine Kriegskindheitserinnerungen. "Jetzt", sein zweites autobiographisches Buch, enthüllt, dass an ihm ein Doppelgänger von Wilhelm Genazino verlorengegangen ist. "Die Wochenenden, an denen man draußen auf der Straße umherging, waren so deprimierend. Warum? Ich hatte die Vorstellung, dass der nicht arbeitende, feiertägliche, eintagsferiengelaunte Mensch dann die ganze Unerheblichkeit des sogenannten Lebens offenbarte. Denn eigentlich ereignete sich nichts."
Mit dem Koller des Frankfurter Flaneurs erklärt Bohrer, wie er seine Lebensarbeitsaufgabe fand: das Projekt hinter den literaturkritischen Bemühungen um die Rettung der ästhetischen Autonomie. "Es ging letztlich gar nicht um literarische Urteilskriterien. Es ging um das Selbst. Die Priorität von Alltäglichkeit war unerträglich geworden." Langeweile und Ekel: Diese Ur-Reflexe gegen das Gesellschaftliche begründen Bohrers Interesse am "Ereignis". Als "gewissermaßen asozial begabt" charakterisiert er sich - und erkannt haben soll dieses Talent zum Brückensprengen eine Frau, die der Gesellschaft den Krieg erklärte: Ulrike Meinhof.
Bohrer erinnert sich an eine wechselseitige Attraktion. "Als ob sie die Absicht verfolgte, meinen analytischen Literaturinstinkt anzuwenden auf die politische Situation, die sie umtrieb." Bevor Meinhof untertaucht, gibt es ein letztes Gespräch über die Vergeblichkeit von Bildungsreformen. Bei ihm bleibt ein "schlechtes Gewissen" zurück, weil er die "arbeitenden Massen" verdrängt hat. "Als Zehnjähriger hatte ich einmal, in aller Frühe, aus dem Eisenbahnfenster gesehen, wie in den Badezimmern, an denen wir vorbeifuhren, sich Männer zur selben Zeit rasierten. Ich fand das deprimierend und dachte nur: Niemals einen Beruf ergreifen wie alle anderen und mit ihnen zur selben Zeit aufstehen!" Also wurde er Journalist.
Die Versetzung bot die Chance, die Priorität der Alltäglichkeit zu überlisten. Bohrers "ganze England-Existenz war nichts anderes" als "eine neue Form, den Wochenenden mit fröhlichen, nichtarbeitenden Menschen zu entkommen". Dort gab es zwar auch Alltag; aber der blieb dem Deutschen fremd, der die Sprache nicht genau genug beherrschte. Seiner Abneigung gegen Hegel zum Trotz möchte Bohrer nämlich immer in Begriffen reden. Das Sinnliche, die Erscheinung, der Moment sind seine Themen. Aber er ist besessen von der Vorstellung, dass diese Ideen sich fixieren lassen. Daher der Wechsel von der Zeitung in die Universität, von London nach Bielefeld. "Wenn irgendetwas einen von den Tautologien des Alltags entfernte, wenn irgendetwas einen auf das Unerwartete stoßen ließ, wenn irgendetwas einen selbst verwandelte in ein anderes Selbst, was war es anderes als die Theorie?"
Ein Paradox über den Theoretiker steckt in dieser Verwandlungslehre. In der klassischen Philosophie richtet sich das theoretische Vermögen auf die Erkenntnis der wahren Welt. Für Bohrer ist die Theorie die Chiffre einer Gegenwelt, die er sich ausgedacht denkt. Er assoziiert die Theorie mit dem Theater. Dem Schleier der metaphysischen Tradition entspricht in Bohrers postmetaphysischem Denken der Vorhang. "Ja, die Theorie hatte, wenn sie wirklich eine Erfindung war, etwas Theatralisches." Bohrer blieb in England ein Zuschauer. Er füllte die Rolle des Korrespondenten brillant aus, weil er, seit er als Student Laurence Olivier auf der Bühne gesehen hatte, das Schauspielerische für den Schlüssel zum englischen Nationalcharakter hielt. Aus Westminster und Oxford berichtete er wie ein Theaterkritiker.
Der Alltag als Tautologie
Nicht nur der Alltag hat seine Tautologien, sondern auch das Außeralltägliche: Gesten der Intensität und Selbststeigerung. Am Autor dieses Buches, der uns in seine Künstlergarderobe einlädt, fasziniert das Theoretische stärker als jede der Theorien, deren Genese skizziert wird.
Ein Korrespondent schrieb nicht nur für die Zeitung, sondern schöpfte auch aus den Zeitungen, die vor vierzig Jahren nur lesen konnte, wer ein gedrucktes Exemplar vor sich hatte. "Die Art und Weise, wie eine Zeitung das darstellte, was passiert war, wurde zum Appell der Ereignishaftigkeit. Selbst banale Vorkommnisse täuschten, wenn von ihnen spannend berichtet wurde, über die mutmaßliche Sinnlosigkeit von allem hinweg." Anders gesagt: Auch die Zeitung verwendet Theorien, Schemata zur Exposition von Außergewöhnlichem. War Bohrers Abschied vom Journalismus ein Missverständnis? Nein: Zeitungsartikel hätte er nicht so nonchalant als Erfindungen ausgeben können wie Theoreme zur Voraussetzungslosigkeit der absolut modernen Literatur.
Eigenwillig verfährt der Autobiograph bei der Benennung der Nebenfiguren. Viele Kollegen und Schüler werden nur beim Vornamen genannt: Diese Okkupation der Geistesrepublik durch Vertraulichkeiten hätte Bohrer früher Stoff für eine seiner Provinzialismus-Glossen im "Merkur" geboten. Habermas wird fast immer als "der Philosoph" geführt. Er entpuppt sich als Alter Ego des Verfassers, steht für die diskursive Rückversicherung des Denkens, gegen die Bohrer revoltiert und der er doch ihr Recht zuerkennt. Der germanistische Doktorvater, dem Bohrer von Göttingen nach Heidelberg folgte, tritt nie unter seinem Namen auf. Dieser Erinnerungsbann ist die Strafe dafür, dass Arthur Henkels philologische Methode in Bohrers Referat darauf hinauslief, den Studenten den Geschmack am Neuen auszutreiben: Alles, was man las, erwies sich als Wiederholung von Mustern; erst recht alles, was man schrieb.
Ein löwenfreundlicher Löwenjäger
Gegen den Verdacht mangelnder Originalität nimmt Bohrer sogar den Protagonisten der Weltliteratur in Schutz, der die Risiken übermäßiger Lesefreude verkörpert. "Wenn Cervantes' Held gegen die Windmühlen anrennt, dann nicht einfach deswegen, weil er durch die Lektüre antiquierter Ritterromane verrückt gewesen wäre, sondern weil ihm gegen die Wirklichkeit etwas einfällt." Don Quijote nimmt die mutmaßliche Sinnlosigkeit von allem nicht tatenlos hin. Mit einem Vergleich hebt Bohrer an den Unternehmungen des sinnreichen Junkers ein Moment der Disziplinierung hervor: "Don Quijotes Einfall mit dem Orden der ,irrenden Ritter' hat die gleiche spirituelle Bedeutung wie Ignatius von Loyolas Gründung des Jesuitenordens, nachdem ihn Visionen überwältigt hatten." Die Ordensregel der irrenden Ritter erläutert Don Quijote nach der Begegnung mit dem Löwen, der bei offener Käfigtür kein Interesse daran zeigte, sich zum Kampf fordern zu lassen: "Ich also, da mein Schicksal es wollte, einer aus der Zahl der irrenden Ritterschaft zu sein, darf es nicht unterlassen, alles anzugreifen, was mir unter die Gerichtsbarkeit meines Amtes zu gehören scheint." Angriffslustig kennt man Bohrer, und so teilt er aus gegen Intellektuelle, Politiker und Journalisten, denen nicht im Traum einfällt, den Käfig konventionellen Denkens zu verlassen.
Die Gerichtsbarkeit, in deren Namen er ins Feld zieht, ist eine Art Feme: Als souveränes Individuum, frei geboren, wehrt er sich dagegen, dass das Leben berechenbar werden soll. Sein Gegner ist die ordentliche Gerichtsbarkeit unserer Debatten, deren Prozessordnung "der Philosoph" niedergelegt hat. Marxisten und Germanisten "zerrten die geheimsten, die sublimsten, die unübersetzbarsten Vorstellungen vor ihr Amtsgericht". Indem Bohrer sein Buch im Untertitel "Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie" nennt, meldet er sich als Erbe Don Quijotes - und unterwirft sich dem Amtsgericht. Das Donquichotteske seines Unternehmens ist ihm bewusst. Darin liegt die Donquichotterie.
Heinrich Heine, Bohrers liebster Schutzpatron, berichtete über seine Cervantes-Lektüre: "Wir fühlten, dass der Heldensinn des Ritters darum nicht mindere Bewunderung verdient, wenn ihm der Löwe ohne Kampflust den Rücken kehrte, und dass seine Taten umso preisenswerter, je schwächer und ausgedörrter sein Leib, je morscher die Rüstung, die ihn schützte, und je armseliger der Klepper, der ihn trug." Bohrers Leser bewundert gerührt, wie der Autor selbst dafür sorgt, dass seine Rüstung so verbeult aussieht. Der "satirische Sinn", den Bohrer an den Engländern schätzt, bewährt sich in der drastischen Benennung eigener Widersprüche.
Dieser Sinn für das Willkürliche in seinen Positionen kommt Bohrer erst auf den letzten Seiten abhanden, wenn er die Ereignisse kommentiert, über die er während der Niederschrift des Buches in der Zeitung las. Beziehungsweise die Nicht-Ereignisse: Grenzöffnung für Flüchtlinge und Brexit genügen seinem Ereignisbegriff nicht, was ihn nicht daran hindert, mit Sloterdijk und Safranski um die Wette zu schimpfen. Leider häufen sich gegen Ende auch die Fehler. Edmund Kean spielte Richard III. nicht Anfang des achtzehnten, sondern des neunzehnten Jahrhunderts.
Dem englischen Fußball empfiehlt Bohrer die erneute Einübung "des langen Balls in den Strafraum", der "im Zuschauer die Erwartung hochhielt, dass dort gleich etwas Explosives geschehen werde". Das kann doch wohl nicht wahr sein: dass das Ereignis das ist, was beim absehbarsten taktischen Manöver herauskommt? Man stellt sich das Erwartungsmanagement subtiler vor.
In diese Richtung deutet ein Witz aus Bohrers Heimatstadt, der ihm "einmalig" erscheint. Tünnes auf Löwenjagd in Afrika. Wie viele Löwen hat er denn erschossen? Keinen. "Als daraufhin Schäl seine Enttäuschung ausdrückt, sagt Tünnes selbstsicher: ,Für Löwe is datt vill.'" Hans Blumenberg zitiert den Witz in seinem Anekdotenbuch "Löwen" nach Odo Marquard, ohne kölnische Provenienz. Der Unterschied: Es ist ein Zuhörer, der dem beutelosen Jäger Trost spendet durch "das weise Zugeständnis", keiner "sei bei Löwen schon viel". Blumenberg schließt die Frage an, ob man dem "löwenfreundlichen Löwenjäger", um ihn endgültig zu trösten, nicht hätte sagen sollen, "er sei lebenslang auf der Löwenpirsch gewesen, wo es gar keine Löwen gebe". Karl Heinz Bohrer hat sich das dann und wann selbst schon gesagt. Sein Zweifel rechtfertigt seine Selbstsicherheit. Er jagt weiter, weil er vom Trost nichts wissen will.
PATRICK BAHNERS
Karl Heinz Bohrer: "Jetzt". Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
542 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sinnsuche als Paradox: Karl Heinz Bohrer gibt sich in seinen Erinnerungen als Don Quijote der Geistesrepublik
Was wäre aus Karl Heinz Bohrer geworden, wenn diese Zeitung ihn nicht 1975 als Feuilletonkorrespondenten nach London entsandt hätte? Als Joachim Fest Herausgeber wurde, ersetzte er ihn als Literaturchef durch Marcel Reich-Ranicki. 2012 veröffentlichte Bohrer seine Kriegskindheitserinnerungen. "Jetzt", sein zweites autobiographisches Buch, enthüllt, dass an ihm ein Doppelgänger von Wilhelm Genazino verlorengegangen ist. "Die Wochenenden, an denen man draußen auf der Straße umherging, waren so deprimierend. Warum? Ich hatte die Vorstellung, dass der nicht arbeitende, feiertägliche, eintagsferiengelaunte Mensch dann die ganze Unerheblichkeit des sogenannten Lebens offenbarte. Denn eigentlich ereignete sich nichts."
Mit dem Koller des Frankfurter Flaneurs erklärt Bohrer, wie er seine Lebensarbeitsaufgabe fand: das Projekt hinter den literaturkritischen Bemühungen um die Rettung der ästhetischen Autonomie. "Es ging letztlich gar nicht um literarische Urteilskriterien. Es ging um das Selbst. Die Priorität von Alltäglichkeit war unerträglich geworden." Langeweile und Ekel: Diese Ur-Reflexe gegen das Gesellschaftliche begründen Bohrers Interesse am "Ereignis". Als "gewissermaßen asozial begabt" charakterisiert er sich - und erkannt haben soll dieses Talent zum Brückensprengen eine Frau, die der Gesellschaft den Krieg erklärte: Ulrike Meinhof.
Bohrer erinnert sich an eine wechselseitige Attraktion. "Als ob sie die Absicht verfolgte, meinen analytischen Literaturinstinkt anzuwenden auf die politische Situation, die sie umtrieb." Bevor Meinhof untertaucht, gibt es ein letztes Gespräch über die Vergeblichkeit von Bildungsreformen. Bei ihm bleibt ein "schlechtes Gewissen" zurück, weil er die "arbeitenden Massen" verdrängt hat. "Als Zehnjähriger hatte ich einmal, in aller Frühe, aus dem Eisenbahnfenster gesehen, wie in den Badezimmern, an denen wir vorbeifuhren, sich Männer zur selben Zeit rasierten. Ich fand das deprimierend und dachte nur: Niemals einen Beruf ergreifen wie alle anderen und mit ihnen zur selben Zeit aufstehen!" Also wurde er Journalist.
Die Versetzung bot die Chance, die Priorität der Alltäglichkeit zu überlisten. Bohrers "ganze England-Existenz war nichts anderes" als "eine neue Form, den Wochenenden mit fröhlichen, nichtarbeitenden Menschen zu entkommen". Dort gab es zwar auch Alltag; aber der blieb dem Deutschen fremd, der die Sprache nicht genau genug beherrschte. Seiner Abneigung gegen Hegel zum Trotz möchte Bohrer nämlich immer in Begriffen reden. Das Sinnliche, die Erscheinung, der Moment sind seine Themen. Aber er ist besessen von der Vorstellung, dass diese Ideen sich fixieren lassen. Daher der Wechsel von der Zeitung in die Universität, von London nach Bielefeld. "Wenn irgendetwas einen von den Tautologien des Alltags entfernte, wenn irgendetwas einen auf das Unerwartete stoßen ließ, wenn irgendetwas einen selbst verwandelte in ein anderes Selbst, was war es anderes als die Theorie?"
Ein Paradox über den Theoretiker steckt in dieser Verwandlungslehre. In der klassischen Philosophie richtet sich das theoretische Vermögen auf die Erkenntnis der wahren Welt. Für Bohrer ist die Theorie die Chiffre einer Gegenwelt, die er sich ausgedacht denkt. Er assoziiert die Theorie mit dem Theater. Dem Schleier der metaphysischen Tradition entspricht in Bohrers postmetaphysischem Denken der Vorhang. "Ja, die Theorie hatte, wenn sie wirklich eine Erfindung war, etwas Theatralisches." Bohrer blieb in England ein Zuschauer. Er füllte die Rolle des Korrespondenten brillant aus, weil er, seit er als Student Laurence Olivier auf der Bühne gesehen hatte, das Schauspielerische für den Schlüssel zum englischen Nationalcharakter hielt. Aus Westminster und Oxford berichtete er wie ein Theaterkritiker.
Der Alltag als Tautologie
Nicht nur der Alltag hat seine Tautologien, sondern auch das Außeralltägliche: Gesten der Intensität und Selbststeigerung. Am Autor dieses Buches, der uns in seine Künstlergarderobe einlädt, fasziniert das Theoretische stärker als jede der Theorien, deren Genese skizziert wird.
Ein Korrespondent schrieb nicht nur für die Zeitung, sondern schöpfte auch aus den Zeitungen, die vor vierzig Jahren nur lesen konnte, wer ein gedrucktes Exemplar vor sich hatte. "Die Art und Weise, wie eine Zeitung das darstellte, was passiert war, wurde zum Appell der Ereignishaftigkeit. Selbst banale Vorkommnisse täuschten, wenn von ihnen spannend berichtet wurde, über die mutmaßliche Sinnlosigkeit von allem hinweg." Anders gesagt: Auch die Zeitung verwendet Theorien, Schemata zur Exposition von Außergewöhnlichem. War Bohrers Abschied vom Journalismus ein Missverständnis? Nein: Zeitungsartikel hätte er nicht so nonchalant als Erfindungen ausgeben können wie Theoreme zur Voraussetzungslosigkeit der absolut modernen Literatur.
Eigenwillig verfährt der Autobiograph bei der Benennung der Nebenfiguren. Viele Kollegen und Schüler werden nur beim Vornamen genannt: Diese Okkupation der Geistesrepublik durch Vertraulichkeiten hätte Bohrer früher Stoff für eine seiner Provinzialismus-Glossen im "Merkur" geboten. Habermas wird fast immer als "der Philosoph" geführt. Er entpuppt sich als Alter Ego des Verfassers, steht für die diskursive Rückversicherung des Denkens, gegen die Bohrer revoltiert und der er doch ihr Recht zuerkennt. Der germanistische Doktorvater, dem Bohrer von Göttingen nach Heidelberg folgte, tritt nie unter seinem Namen auf. Dieser Erinnerungsbann ist die Strafe dafür, dass Arthur Henkels philologische Methode in Bohrers Referat darauf hinauslief, den Studenten den Geschmack am Neuen auszutreiben: Alles, was man las, erwies sich als Wiederholung von Mustern; erst recht alles, was man schrieb.
Ein löwenfreundlicher Löwenjäger
Gegen den Verdacht mangelnder Originalität nimmt Bohrer sogar den Protagonisten der Weltliteratur in Schutz, der die Risiken übermäßiger Lesefreude verkörpert. "Wenn Cervantes' Held gegen die Windmühlen anrennt, dann nicht einfach deswegen, weil er durch die Lektüre antiquierter Ritterromane verrückt gewesen wäre, sondern weil ihm gegen die Wirklichkeit etwas einfällt." Don Quijote nimmt die mutmaßliche Sinnlosigkeit von allem nicht tatenlos hin. Mit einem Vergleich hebt Bohrer an den Unternehmungen des sinnreichen Junkers ein Moment der Disziplinierung hervor: "Don Quijotes Einfall mit dem Orden der ,irrenden Ritter' hat die gleiche spirituelle Bedeutung wie Ignatius von Loyolas Gründung des Jesuitenordens, nachdem ihn Visionen überwältigt hatten." Die Ordensregel der irrenden Ritter erläutert Don Quijote nach der Begegnung mit dem Löwen, der bei offener Käfigtür kein Interesse daran zeigte, sich zum Kampf fordern zu lassen: "Ich also, da mein Schicksal es wollte, einer aus der Zahl der irrenden Ritterschaft zu sein, darf es nicht unterlassen, alles anzugreifen, was mir unter die Gerichtsbarkeit meines Amtes zu gehören scheint." Angriffslustig kennt man Bohrer, und so teilt er aus gegen Intellektuelle, Politiker und Journalisten, denen nicht im Traum einfällt, den Käfig konventionellen Denkens zu verlassen.
Die Gerichtsbarkeit, in deren Namen er ins Feld zieht, ist eine Art Feme: Als souveränes Individuum, frei geboren, wehrt er sich dagegen, dass das Leben berechenbar werden soll. Sein Gegner ist die ordentliche Gerichtsbarkeit unserer Debatten, deren Prozessordnung "der Philosoph" niedergelegt hat. Marxisten und Germanisten "zerrten die geheimsten, die sublimsten, die unübersetzbarsten Vorstellungen vor ihr Amtsgericht". Indem Bohrer sein Buch im Untertitel "Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie" nennt, meldet er sich als Erbe Don Quijotes - und unterwirft sich dem Amtsgericht. Das Donquichotteske seines Unternehmens ist ihm bewusst. Darin liegt die Donquichotterie.
Heinrich Heine, Bohrers liebster Schutzpatron, berichtete über seine Cervantes-Lektüre: "Wir fühlten, dass der Heldensinn des Ritters darum nicht mindere Bewunderung verdient, wenn ihm der Löwe ohne Kampflust den Rücken kehrte, und dass seine Taten umso preisenswerter, je schwächer und ausgedörrter sein Leib, je morscher die Rüstung, die ihn schützte, und je armseliger der Klepper, der ihn trug." Bohrers Leser bewundert gerührt, wie der Autor selbst dafür sorgt, dass seine Rüstung so verbeult aussieht. Der "satirische Sinn", den Bohrer an den Engländern schätzt, bewährt sich in der drastischen Benennung eigener Widersprüche.
Dieser Sinn für das Willkürliche in seinen Positionen kommt Bohrer erst auf den letzten Seiten abhanden, wenn er die Ereignisse kommentiert, über die er während der Niederschrift des Buches in der Zeitung las. Beziehungsweise die Nicht-Ereignisse: Grenzöffnung für Flüchtlinge und Brexit genügen seinem Ereignisbegriff nicht, was ihn nicht daran hindert, mit Sloterdijk und Safranski um die Wette zu schimpfen. Leider häufen sich gegen Ende auch die Fehler. Edmund Kean spielte Richard III. nicht Anfang des achtzehnten, sondern des neunzehnten Jahrhunderts.
Dem englischen Fußball empfiehlt Bohrer die erneute Einübung "des langen Balls in den Strafraum", der "im Zuschauer die Erwartung hochhielt, dass dort gleich etwas Explosives geschehen werde". Das kann doch wohl nicht wahr sein: dass das Ereignis das ist, was beim absehbarsten taktischen Manöver herauskommt? Man stellt sich das Erwartungsmanagement subtiler vor.
In diese Richtung deutet ein Witz aus Bohrers Heimatstadt, der ihm "einmalig" erscheint. Tünnes auf Löwenjagd in Afrika. Wie viele Löwen hat er denn erschossen? Keinen. "Als daraufhin Schäl seine Enttäuschung ausdrückt, sagt Tünnes selbstsicher: ,Für Löwe is datt vill.'" Hans Blumenberg zitiert den Witz in seinem Anekdotenbuch "Löwen" nach Odo Marquard, ohne kölnische Provenienz. Der Unterschied: Es ist ein Zuhörer, der dem beutelosen Jäger Trost spendet durch "das weise Zugeständnis", keiner "sei bei Löwen schon viel". Blumenberg schließt die Frage an, ob man dem "löwenfreundlichen Löwenjäger", um ihn endgültig zu trösten, nicht hätte sagen sollen, "er sei lebenslang auf der Löwenpirsch gewesen, wo es gar keine Löwen gebe". Karl Heinz Bohrer hat sich das dann und wann selbst schon gesagt. Sein Zweifel rechtfertigt seine Selbstsicherheit. Er jagt weiter, weil er vom Trost nichts wissen will.
PATRICK BAHNERS
Karl Heinz Bohrer: "Jetzt". Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
542 S., geb., 26,- [Euro].
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