Sie lesen jetzt das Wort »jetzt« - und schon ist es vergangen. Das flüchtige Dasein der Gegenwart hat Philosophen und Physiker vor die größten Rätsel gestellt: Was ist die Zeit? Und warum fließt sie? Generationen von Wissenschaftlern haben sich vergeblich um Antworten bemüht, einige haben es aufgegeben. Nicht so Richard A. Muller. Er hat eine Theorie der Zeit aufgestellt, die neu ist und experimentell überprüfbar. Um sie vorzustellen, erklärt er zunächst mit großem Geschick die physikalischen Grundkonzepte wie Relativität, Entropie, Verschränkung, Antimaterie und Urknall. Darauf aufbauend entfaltet er seine provozierend neue Sicht mit all ihren Folgen für die Philosophie oder die Frage nach der Willensfreiheit. Eine kraftvolle und überzeugende Vision für die Lösung des alten Rätsels der Zeit.
»Muller hat einen bemerkenswert frischen und aufregenden Ansatz für die Erklärung der Zeit.«
Saul Perlmutter, Physik-Nobelpreisträger
»Ein provokatives und gut argumentiertes Buch über die Natur der Zeit.«
Lee Smolin
»Muller hat einen bemerkenswert frischen und aufregenden Ansatz für die Erklärung der Zeit.«
Saul Perlmutter, Physik-Nobelpreisträger
»Ein provokatives und gut argumentiertes Buch über die Natur der Zeit.«
Lee Smolin
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2018In den Gleichungen sind Vergangenheit und Zukunft nicht zu finden
Eine Sache des freien Willens statt der Entropie? Der Physiker Richard A. Muller versucht sich an einer Theorie der Zeit
Albert Einstein, der wie kaum ein anderer Physiker über den Begriff der Zeit nachgedacht hat, war über die Abwesenheit der Gegenwart in der Physik sehr beunruhigt. Wir wissen davon aus den Gesprächen, die er in seinen letzten Jahren mit dem Philosophen Rudolf Carnap geführt hat. Dieser berichtet: "Einmal sagte Einstein, das Problem des Jetzt beunruhige ihn ernstlich. Er erklärte, die Erfahrung des Jetzt bedeute etwas Besonderes für den Menschen, etwas von Vergangenheit und Zukunft wesentlich Verschiedenes, aber dieser wichtige Unterschied komme in der Physik nicht vor und könne dort nicht vorkommen. . . . es gebe etwas Wesentliches bezüglich des Jetzt, das schlicht außerhalb der Wissenschaft liege."
Tatsächlich kommt die Gegenwart in keiner der physikalischen Grundgleichungen vor, weder in Newtons Mechanik noch in Einsteins Relativitätstheorie. Deren Gleichungen beschreiben die Bewegung von Beobachtern durch die Raum-Zeit, wobei der Moment "Jetzt" auf einer solchen Kurve rein subjektiv ist. Der Autor des vorliegenden Bandes, Professor für Physik an der University of California in Berkeley, will das Jetzt in die physikalische Beschreibung der Natur einführen. In seiner Einleitung verspricht er vollmundig: "Erst jetzt verfügen wir über alle physikalischen Kenntnisse, um das Jetzt zu verstehen." Wird er diesem Anspruch gerecht? Der Leser muss geduldig bis fast auf Seite 400 vordringen, um dies beurteilen zu können.
Bis dahin präsentiert Muller die üblichen Themen, wie man sie von einem Sachbuch dieser Art erwartet. Dazu gehören eine Einführung in Einsteins Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie mit ihren neuartigen Begriffen von Raum und Zeit, deren Anwendung auf das Universum als Ganzes sowie Quantentheorie und Teilchenphysik. Wie so oft bei solchen Büchern sind etliche Erklärungen nur verständlich, wenn man mit der Materie bereits vertraut ist. Ansonsten kann man mit Sätzen wie "Die Quantenphysik postuliert, dass die Amplitude spukhaft ist, ein unerreichbarer Geist im Hintergrund, der die gesamte Realität in sich trägt", wohl wenig anfangen. Lesenswert hingegen sind die Teile, die sich mit Teilchenphysik und Kosmologie befassen, den Arbeitsgebieten des Autors. So war Muller in den siebziger Jahren an der Entdeckung der sogenannten Kosinusanisotropie in der kosmischen Hintergrundstrahlung beteiligt, deren Ursache die Bewegung des Sonnensystems relativ zu diesem Hintergrund ist. Einer seiner Studenten, Saul Perlmutter, ist Gründer des Supernova Cosmology Projects, mit dem Ende der neunziger Jahre der Nachweis gelang, dass unser Universum beschleunigt expandiert. Perlmutter erhielt dafür zusammen mit zwei Kollegen 2011 den Nobelpreis für Physik.
Das zentrale Anliegen des Autors ist aber die Zeit und vornehmlich deren Richtung. Der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft prägt die meisten Vorgänge in der Natur und ist auch für unser eigenes Leben entscheidend. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts lässt sich hier allerdings bei den Physikern ein Unbehagen beobachten. Grund dafür ist die Tatsache, dass die fundamentalen Gesetze der Physik keine Zeitrichtung auszeichnen; Vergangenheit und Zukunft sollten dann eigentlich ununterscheidbar sein, was in eklatantem Widerspruch zur Erfahrung steht. Der britische Astrophysiker Arthur Eddington widmete sein 1928 erstmals erschienenes Buch "Das Weltbild der Physik" einer philosophischen Deutung dieses Themas. Er prägte darin den Begriff "Zeitpfeil" für den beobachteten Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Verantwortlich für den Zeitpfeil sei, so Eddington, die Entropie, eine grundlegende physikalische Größe der Thermodynamik, die für ein abgeschlossenes System nie abnimmt und so etwas wie den Übergang von Ordnung in Unordnung beschreibt. Die Zunahme der Entropie ist beispielsweise dafür verantwortlich, dass zwar ein auf den Boden gefallenes Glas in viele Scherben zerbrechen kann, aber diese Scherben sich nicht spontan zu einem Glas fügen, obwohl keine Bewegungsgesetze der Mechanik das verbieten.
Muller ist mit Eddingtons Buch alles andere als einverstanden. Er meint, dass dessen Erklärung für den Zeitpfeil - die Zunahme der Entropie - willkürlich sei und empirisch nicht überprüft werden könne. Ziemlich harsch konstatiert er die Aufstellung einer Pseudotheorie.
Sicher sind manche Aussagen in Eddingtons Buch ihrer Entstehungszeit geschuldet; doch dass es einen Zusammenhang zwischen Zeitpfeil und Entropiezunahme gibt, werden heute die wenigsten Physiker bestreiten. Natürlich nimmt die Entropie nur insgesamt (für das ganze Universum) zu. Lokal gibt es immer Bereiche, in denen sie abnimmt; anders wäre Leben nicht möglich. All dies gilt eigentlich als verstanden.
Muller bemüht aber die Existenz des freien Willens, um die lokale Abnahme der Entropie zu erklären. Dabei tappt er in die Falle von "Maxwells Dämon", jenes hypothetischen Wesens, das wegen seiner genauen Kenntnis der Eigenschaften einzelner Moleküle eine Entropieabnahme erzeugen kann. Er führt wieder den Dualismus von Geist und Materie ein, was man vielleicht aus philosophischen Gründen erwägen kann, an der modernen Diskussion des Zeitpfeils aber vorbeigeht. Auch "Maxwells Dämon" wäre Teil der Materie.
Was ist aber jetzt mit dem Jetzt? Die Expansion des Universums schaffe, so Muller, "nicht nur neuen Raum, sondern auch neue Zeit. Der vorderste, expandierende Rand der Zeit ist das, was wir als Jetzt bezeichnen, und der Fluss der Zeit ist die ständige Erschaffung von neuen Jetzts." Das lässt den Leser ziemlich ratlos zurück. Dass diese Ideen in Widerspruch zur Relativitätstheorie stehen, erwähnt der Autor nur am Rande. Mullers Vorschläge zum Test seiner Theorie wirken bemüht und wenig überzeugend.
Carl Friedrich von Weizsäcker hat treffend bemerkt, dass die eingangs erwähnte Schilderung Carnaps von Einsteins Unbehagen an dessen Anliegen vorbeigehe. Das Unbehagen über die Nichtexistenz des Jetzt in der Physik sei bei Einstein nicht, wie Carnap nahelegt, emotional begründet, sondern von rein theoretischer Natur gewesen. Emotionale Gründe spielen freilich bei Muller eine Rolle, und seine Vorstellung vom Jetzt ist nichts als Pseudotheorie. CLAUS KIEFER
Richard A. Muller: "Jetzt". Die Physik der Zeit.
Aus dem Englischen von
Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 480 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Sache des freien Willens statt der Entropie? Der Physiker Richard A. Muller versucht sich an einer Theorie der Zeit
Albert Einstein, der wie kaum ein anderer Physiker über den Begriff der Zeit nachgedacht hat, war über die Abwesenheit der Gegenwart in der Physik sehr beunruhigt. Wir wissen davon aus den Gesprächen, die er in seinen letzten Jahren mit dem Philosophen Rudolf Carnap geführt hat. Dieser berichtet: "Einmal sagte Einstein, das Problem des Jetzt beunruhige ihn ernstlich. Er erklärte, die Erfahrung des Jetzt bedeute etwas Besonderes für den Menschen, etwas von Vergangenheit und Zukunft wesentlich Verschiedenes, aber dieser wichtige Unterschied komme in der Physik nicht vor und könne dort nicht vorkommen. . . . es gebe etwas Wesentliches bezüglich des Jetzt, das schlicht außerhalb der Wissenschaft liege."
Tatsächlich kommt die Gegenwart in keiner der physikalischen Grundgleichungen vor, weder in Newtons Mechanik noch in Einsteins Relativitätstheorie. Deren Gleichungen beschreiben die Bewegung von Beobachtern durch die Raum-Zeit, wobei der Moment "Jetzt" auf einer solchen Kurve rein subjektiv ist. Der Autor des vorliegenden Bandes, Professor für Physik an der University of California in Berkeley, will das Jetzt in die physikalische Beschreibung der Natur einführen. In seiner Einleitung verspricht er vollmundig: "Erst jetzt verfügen wir über alle physikalischen Kenntnisse, um das Jetzt zu verstehen." Wird er diesem Anspruch gerecht? Der Leser muss geduldig bis fast auf Seite 400 vordringen, um dies beurteilen zu können.
Bis dahin präsentiert Muller die üblichen Themen, wie man sie von einem Sachbuch dieser Art erwartet. Dazu gehören eine Einführung in Einsteins Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie mit ihren neuartigen Begriffen von Raum und Zeit, deren Anwendung auf das Universum als Ganzes sowie Quantentheorie und Teilchenphysik. Wie so oft bei solchen Büchern sind etliche Erklärungen nur verständlich, wenn man mit der Materie bereits vertraut ist. Ansonsten kann man mit Sätzen wie "Die Quantenphysik postuliert, dass die Amplitude spukhaft ist, ein unerreichbarer Geist im Hintergrund, der die gesamte Realität in sich trägt", wohl wenig anfangen. Lesenswert hingegen sind die Teile, die sich mit Teilchenphysik und Kosmologie befassen, den Arbeitsgebieten des Autors. So war Muller in den siebziger Jahren an der Entdeckung der sogenannten Kosinusanisotropie in der kosmischen Hintergrundstrahlung beteiligt, deren Ursache die Bewegung des Sonnensystems relativ zu diesem Hintergrund ist. Einer seiner Studenten, Saul Perlmutter, ist Gründer des Supernova Cosmology Projects, mit dem Ende der neunziger Jahre der Nachweis gelang, dass unser Universum beschleunigt expandiert. Perlmutter erhielt dafür zusammen mit zwei Kollegen 2011 den Nobelpreis für Physik.
Das zentrale Anliegen des Autors ist aber die Zeit und vornehmlich deren Richtung. Der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft prägt die meisten Vorgänge in der Natur und ist auch für unser eigenes Leben entscheidend. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts lässt sich hier allerdings bei den Physikern ein Unbehagen beobachten. Grund dafür ist die Tatsache, dass die fundamentalen Gesetze der Physik keine Zeitrichtung auszeichnen; Vergangenheit und Zukunft sollten dann eigentlich ununterscheidbar sein, was in eklatantem Widerspruch zur Erfahrung steht. Der britische Astrophysiker Arthur Eddington widmete sein 1928 erstmals erschienenes Buch "Das Weltbild der Physik" einer philosophischen Deutung dieses Themas. Er prägte darin den Begriff "Zeitpfeil" für den beobachteten Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Verantwortlich für den Zeitpfeil sei, so Eddington, die Entropie, eine grundlegende physikalische Größe der Thermodynamik, die für ein abgeschlossenes System nie abnimmt und so etwas wie den Übergang von Ordnung in Unordnung beschreibt. Die Zunahme der Entropie ist beispielsweise dafür verantwortlich, dass zwar ein auf den Boden gefallenes Glas in viele Scherben zerbrechen kann, aber diese Scherben sich nicht spontan zu einem Glas fügen, obwohl keine Bewegungsgesetze der Mechanik das verbieten.
Muller ist mit Eddingtons Buch alles andere als einverstanden. Er meint, dass dessen Erklärung für den Zeitpfeil - die Zunahme der Entropie - willkürlich sei und empirisch nicht überprüft werden könne. Ziemlich harsch konstatiert er die Aufstellung einer Pseudotheorie.
Sicher sind manche Aussagen in Eddingtons Buch ihrer Entstehungszeit geschuldet; doch dass es einen Zusammenhang zwischen Zeitpfeil und Entropiezunahme gibt, werden heute die wenigsten Physiker bestreiten. Natürlich nimmt die Entropie nur insgesamt (für das ganze Universum) zu. Lokal gibt es immer Bereiche, in denen sie abnimmt; anders wäre Leben nicht möglich. All dies gilt eigentlich als verstanden.
Muller bemüht aber die Existenz des freien Willens, um die lokale Abnahme der Entropie zu erklären. Dabei tappt er in die Falle von "Maxwells Dämon", jenes hypothetischen Wesens, das wegen seiner genauen Kenntnis der Eigenschaften einzelner Moleküle eine Entropieabnahme erzeugen kann. Er führt wieder den Dualismus von Geist und Materie ein, was man vielleicht aus philosophischen Gründen erwägen kann, an der modernen Diskussion des Zeitpfeils aber vorbeigeht. Auch "Maxwells Dämon" wäre Teil der Materie.
Was ist aber jetzt mit dem Jetzt? Die Expansion des Universums schaffe, so Muller, "nicht nur neuen Raum, sondern auch neue Zeit. Der vorderste, expandierende Rand der Zeit ist das, was wir als Jetzt bezeichnen, und der Fluss der Zeit ist die ständige Erschaffung von neuen Jetzts." Das lässt den Leser ziemlich ratlos zurück. Dass diese Ideen in Widerspruch zur Relativitätstheorie stehen, erwähnt der Autor nur am Rande. Mullers Vorschläge zum Test seiner Theorie wirken bemüht und wenig überzeugend.
Carl Friedrich von Weizsäcker hat treffend bemerkt, dass die eingangs erwähnte Schilderung Carnaps von Einsteins Unbehagen an dessen Anliegen vorbeigehe. Das Unbehagen über die Nichtexistenz des Jetzt in der Physik sei bei Einstein nicht, wie Carnap nahelegt, emotional begründet, sondern von rein theoretischer Natur gewesen. Emotionale Gründe spielen freilich bei Muller eine Rolle, und seine Vorstellung vom Jetzt ist nichts als Pseudotheorie. CLAUS KIEFER
Richard A. Muller: "Jetzt". Die Physik der Zeit.
Aus dem Englischen von
Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 480 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In den Gleichungen sind Vergangenheit und Zukunft nicht zu finden
Eine Sache des freien Willens statt der Entropie? Der Physiker Richard A. Muller versucht sich an einer Theorie der Zeit
Albert Einstein, der wie kaum ein anderer Physiker über den Begriff der Zeit nachgedacht hat, war über die Abwesenheit der Gegenwart in der Physik sehr beunruhigt. Wir wissen davon aus den Gesprächen, die er in seinen letzten Jahren mit dem Philosophen Rudolf Carnap geführt hat. Dieser berichtet: "Einmal sagte Einstein, das Problem des Jetzt beunruhige ihn ernstlich. Er erklärte, die Erfahrung des Jetzt bedeute etwas Besonderes für den Menschen, etwas von Vergangenheit und Zukunft wesentlich Verschiedenes, aber dieser wichtige Unterschied komme in der Physik nicht vor und könne dort nicht vorkommen. . . . es gebe etwas Wesentliches bezüglich des Jetzt, das schlicht außerhalb der Wissenschaft liege."
Tatsächlich kommt die Gegenwart in keiner der physikalischen Grundgleichungen vor, weder in Newtons Mechanik noch in Einsteins Relativitätstheorie. Deren Gleichungen beschreiben die Bewegung von Beobachtern durch die Raum-Zeit, wobei der Moment "Jetzt" auf einer solchen Kurve rein subjektiv ist. Der Autor des vorliegenden Bandes, Professor für Physik an der University of California in Berkeley, will das Jetzt in die physikalische Beschreibung der Natur einführen. In seiner Einleitung verspricht er vollmundig: "Erst jetzt verfügen wir über alle physikalischen Kenntnisse, um das Jetzt zu verstehen." Wird er diesem Anspruch gerecht? Der Leser muss geduldig bis fast auf Seite 400 vordringen, um dies beurteilen zu können.
Bis dahin präsentiert Muller die üblichen Themen, wie man sie von einem Sachbuch dieser Art erwartet. Dazu gehören eine Einführung in Einsteins Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie mit ihren neuartigen Begriffen von Raum und Zeit, deren Anwendung auf das Universum als Ganzes sowie Quantentheorie und Teilchenphysik. Wie so oft bei solchen Büchern sind etliche Erklärungen nur verständlich, wenn man mit der Materie bereits vertraut ist. Ansonsten kann man mit Sätzen wie "Die Quantenphysik postuliert, dass die Amplitude spukhaft ist, ein unerreichbarer Geist im Hintergrund, der die gesamte Realität in sich trägt", wohl wenig anfangen. Lesenswert hingegen sind die Teile, die sich mit Teilchenphysik und Kosmologie befassen, den Arbeitsgebieten des Autors. So war Muller in den siebziger Jahren an der Entdeckung der sogenannten Kosinusanisotropie in der kosmischen Hintergrundstrahlung beteiligt, deren Ursache die Bewegung des Sonnensystems relativ zu diesem Hintergrund ist. Einer seiner Studenten, Saul Perlmutter, ist Gründer des Supernova Cosmology Projects, mit dem Ende der neunziger Jahre der Nachweis gelang, dass unser Universum beschleunigt expandiert. Perlmutter erhielt dafür zusammen mit zwei Kollegen 2011 den Nobelpreis für Physik.
Das zentrale Anliegen des Autors ist aber die Zeit und vornehmlich deren Richtung. Der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft prägt die meisten Vorgänge in der Natur und ist auch für unser eigenes Leben entscheidend. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts lässt sich hier allerdings bei den Physikern ein Unbehagen beobachten. Grund dafür ist die Tatsache, dass die fundamentalen Gesetze der Physik keine Zeitrichtung auszeichnen; Vergangenheit und Zukunft sollten dann eigentlich ununterscheidbar sein, was in eklatantem Widerspruch zur Erfahrung steht. Der britische Astrophysiker Arthur Eddington widmete sein 1928 erstmals erschienenes Buch "Das Weltbild der Physik" einer philosophischen Deutung dieses Themas. Er prägte darin den Begriff "Zeitpfeil" für den beobachteten Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Verantwortlich für den Zeitpfeil sei, so Eddington, die Entropie, eine grundlegende physikalische Größe der Thermodynamik, die für ein abgeschlossenes System nie abnimmt und so etwas wie den Übergang von Ordnung in Unordnung beschreibt. Die Zunahme der Entropie ist beispielsweise dafür verantwortlich, dass zwar ein auf den Boden gefallenes Glas in viele Scherben zerbrechen kann, aber diese Scherben sich nicht spontan zu einem Glas fügen, obwohl keine Bewegungsgesetze der Mechanik das verbieten.
Muller ist mit Eddingtons Buch alles andere als einverstanden. Er meint, dass dessen Erklärung für den Zeitpfeil - die Zunahme der Entropie - willkürlich sei und empirisch nicht überprüft werden könne. Ziemlich harsch konstatiert er die Aufstellung einer Pseudotheorie.
Sicher sind manche Aussagen in Eddingtons Buch ihrer Entstehungszeit geschuldet; doch dass es einen Zusammenhang zwischen Zeitpfeil und Entropiezunahme gibt, werden heute die wenigsten Physiker bestreiten. Natürlich nimmt die Entropie nur insgesamt (für das ganze Universum) zu. Lokal gibt es immer Bereiche, in denen sie abnimmt; anders wäre Leben nicht möglich. All dies gilt eigentlich als verstanden.
Muller bemüht aber die Existenz des freien Willens, um die lokale Abnahme der Entropie zu erklären. Dabei tappt er in die Falle von "Maxwells Dämon", jenes hypothetischen Wesens, das wegen seiner genauen Kenntnis der Eigenschaften einzelner Moleküle eine Entropieabnahme erzeugen kann. Er führt wieder den Dualismus von Geist und Materie ein, was man vielleicht aus philosophischen Gründen erwägen kann, an der modernen Diskussion des Zeitpfeils aber vorbeigeht. Auch "Maxwells Dämon" wäre Teil der Materie.
Was ist aber jetzt mit dem Jetzt? Die Expansion des Universums schaffe, so Muller, "nicht nur neuen Raum, sondern auch neue Zeit. Der vorderste, expandierende Rand der Zeit ist das, was wir als Jetzt bezeichnen, und der Fluss der Zeit ist die ständige Erschaffung von neuen Jetzts." Das lässt den Leser ziemlich ratlos zurück. Dass diese Ideen in Widerspruch zur Relativitätstheorie stehen, erwähnt der Autor nur am Rande. Mullers Vorschläge zum Test seiner Theorie wirken bemüht und wenig überzeugend.
Carl Friedrich von Weizsäcker hat treffend bemerkt, dass die eingangs erwähnte Schilderung Carnaps von Einsteins Unbehagen an dessen Anliegen vorbeigehe. Das Unbehagen über die Nichtexistenz des Jetzt in der Physik sei bei Einstein nicht, wie Carnap nahelegt, emotional begründet, sondern von rein theoretischer Natur gewesen. Emotionale Gründe spielen freilich bei Muller eine Rolle, und seine Vorstellung vom Jetzt ist nichts als Pseudotheorie. CLAUS KIEFER
Richard A. Muller: "Jetzt". Die Physik der Zeit.
Aus dem Englischen von
Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 480 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Sache des freien Willens statt der Entropie? Der Physiker Richard A. Muller versucht sich an einer Theorie der Zeit
Albert Einstein, der wie kaum ein anderer Physiker über den Begriff der Zeit nachgedacht hat, war über die Abwesenheit der Gegenwart in der Physik sehr beunruhigt. Wir wissen davon aus den Gesprächen, die er in seinen letzten Jahren mit dem Philosophen Rudolf Carnap geführt hat. Dieser berichtet: "Einmal sagte Einstein, das Problem des Jetzt beunruhige ihn ernstlich. Er erklärte, die Erfahrung des Jetzt bedeute etwas Besonderes für den Menschen, etwas von Vergangenheit und Zukunft wesentlich Verschiedenes, aber dieser wichtige Unterschied komme in der Physik nicht vor und könne dort nicht vorkommen. . . . es gebe etwas Wesentliches bezüglich des Jetzt, das schlicht außerhalb der Wissenschaft liege."
Tatsächlich kommt die Gegenwart in keiner der physikalischen Grundgleichungen vor, weder in Newtons Mechanik noch in Einsteins Relativitätstheorie. Deren Gleichungen beschreiben die Bewegung von Beobachtern durch die Raum-Zeit, wobei der Moment "Jetzt" auf einer solchen Kurve rein subjektiv ist. Der Autor des vorliegenden Bandes, Professor für Physik an der University of California in Berkeley, will das Jetzt in die physikalische Beschreibung der Natur einführen. In seiner Einleitung verspricht er vollmundig: "Erst jetzt verfügen wir über alle physikalischen Kenntnisse, um das Jetzt zu verstehen." Wird er diesem Anspruch gerecht? Der Leser muss geduldig bis fast auf Seite 400 vordringen, um dies beurteilen zu können.
Bis dahin präsentiert Muller die üblichen Themen, wie man sie von einem Sachbuch dieser Art erwartet. Dazu gehören eine Einführung in Einsteins Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie mit ihren neuartigen Begriffen von Raum und Zeit, deren Anwendung auf das Universum als Ganzes sowie Quantentheorie und Teilchenphysik. Wie so oft bei solchen Büchern sind etliche Erklärungen nur verständlich, wenn man mit der Materie bereits vertraut ist. Ansonsten kann man mit Sätzen wie "Die Quantenphysik postuliert, dass die Amplitude spukhaft ist, ein unerreichbarer Geist im Hintergrund, der die gesamte Realität in sich trägt", wohl wenig anfangen. Lesenswert hingegen sind die Teile, die sich mit Teilchenphysik und Kosmologie befassen, den Arbeitsgebieten des Autors. So war Muller in den siebziger Jahren an der Entdeckung der sogenannten Kosinusanisotropie in der kosmischen Hintergrundstrahlung beteiligt, deren Ursache die Bewegung des Sonnensystems relativ zu diesem Hintergrund ist. Einer seiner Studenten, Saul Perlmutter, ist Gründer des Supernova Cosmology Projects, mit dem Ende der neunziger Jahre der Nachweis gelang, dass unser Universum beschleunigt expandiert. Perlmutter erhielt dafür zusammen mit zwei Kollegen 2011 den Nobelpreis für Physik.
Das zentrale Anliegen des Autors ist aber die Zeit und vornehmlich deren Richtung. Der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft prägt die meisten Vorgänge in der Natur und ist auch für unser eigenes Leben entscheidend. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts lässt sich hier allerdings bei den Physikern ein Unbehagen beobachten. Grund dafür ist die Tatsache, dass die fundamentalen Gesetze der Physik keine Zeitrichtung auszeichnen; Vergangenheit und Zukunft sollten dann eigentlich ununterscheidbar sein, was in eklatantem Widerspruch zur Erfahrung steht. Der britische Astrophysiker Arthur Eddington widmete sein 1928 erstmals erschienenes Buch "Das Weltbild der Physik" einer philosophischen Deutung dieses Themas. Er prägte darin den Begriff "Zeitpfeil" für den beobachteten Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Verantwortlich für den Zeitpfeil sei, so Eddington, die Entropie, eine grundlegende physikalische Größe der Thermodynamik, die für ein abgeschlossenes System nie abnimmt und so etwas wie den Übergang von Ordnung in Unordnung beschreibt. Die Zunahme der Entropie ist beispielsweise dafür verantwortlich, dass zwar ein auf den Boden gefallenes Glas in viele Scherben zerbrechen kann, aber diese Scherben sich nicht spontan zu einem Glas fügen, obwohl keine Bewegungsgesetze der Mechanik das verbieten.
Muller ist mit Eddingtons Buch alles andere als einverstanden. Er meint, dass dessen Erklärung für den Zeitpfeil - die Zunahme der Entropie - willkürlich sei und empirisch nicht überprüft werden könne. Ziemlich harsch konstatiert er die Aufstellung einer Pseudotheorie.
Sicher sind manche Aussagen in Eddingtons Buch ihrer Entstehungszeit geschuldet; doch dass es einen Zusammenhang zwischen Zeitpfeil und Entropiezunahme gibt, werden heute die wenigsten Physiker bestreiten. Natürlich nimmt die Entropie nur insgesamt (für das ganze Universum) zu. Lokal gibt es immer Bereiche, in denen sie abnimmt; anders wäre Leben nicht möglich. All dies gilt eigentlich als verstanden.
Muller bemüht aber die Existenz des freien Willens, um die lokale Abnahme der Entropie zu erklären. Dabei tappt er in die Falle von "Maxwells Dämon", jenes hypothetischen Wesens, das wegen seiner genauen Kenntnis der Eigenschaften einzelner Moleküle eine Entropieabnahme erzeugen kann. Er führt wieder den Dualismus von Geist und Materie ein, was man vielleicht aus philosophischen Gründen erwägen kann, an der modernen Diskussion des Zeitpfeils aber vorbeigeht. Auch "Maxwells Dämon" wäre Teil der Materie.
Was ist aber jetzt mit dem Jetzt? Die Expansion des Universums schaffe, so Muller, "nicht nur neuen Raum, sondern auch neue Zeit. Der vorderste, expandierende Rand der Zeit ist das, was wir als Jetzt bezeichnen, und der Fluss der Zeit ist die ständige Erschaffung von neuen Jetzts." Das lässt den Leser ziemlich ratlos zurück. Dass diese Ideen in Widerspruch zur Relativitätstheorie stehen, erwähnt der Autor nur am Rande. Mullers Vorschläge zum Test seiner Theorie wirken bemüht und wenig überzeugend.
Carl Friedrich von Weizsäcker hat treffend bemerkt, dass die eingangs erwähnte Schilderung Carnaps von Einsteins Unbehagen an dessen Anliegen vorbeigehe. Das Unbehagen über die Nichtexistenz des Jetzt in der Physik sei bei Einstein nicht, wie Carnap nahelegt, emotional begründet, sondern von rein theoretischer Natur gewesen. Emotionale Gründe spielen freilich bei Muller eine Rolle, und seine Vorstellung vom Jetzt ist nichts als Pseudotheorie. CLAUS KIEFER
Richard A. Muller: "Jetzt". Die Physik der Zeit.
Aus dem Englischen von
Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 480 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main