Ein ungewöhnliches Buch über das einfache Leben einer anderen Zeit
Aliceville, North Carolina, 1930. Jim Glass ist zehn Jahre alt und lebt zusammen mit seiner verwitweten Mutter und ihren drei Brüdern auf einer Farm. Der Alltag, die Feldarbeit, die neue Schule, ein Ausflug in die Kreisstadt, die Spaziergänge mit den Onkeln, der Großvater, den ein dunkles Geheimnis umgibt - mit jedem Kapitel formt sich die Identität des Kindes ein bißchen mehr.
Tony Early ist eine der großen literarischen Neuentdeckungen in Amerika. Seine einfachen Sätze, die lange nachklingen und seine tiefe Liebe zu den Figuren wecken Reminiszenzen an die eigene Kindheit, an Geborgenheit, an lange Sommerabende und Glück.
Aliceville, North Carolina, 1930. Jim Glass ist zehn Jahre alt und lebt zusammen mit seiner verwitweten Mutter und ihren drei Brüdern auf einer Farm. Der Alltag, die Feldarbeit, die neue Schule, ein Ausflug in die Kreisstadt, die Spaziergänge mit den Onkeln, der Großvater, den ein dunkles Geheimnis umgibt - mit jedem Kapitel formt sich die Identität des Kindes ein bißchen mehr.
Tony Early ist eine der großen literarischen Neuentdeckungen in Amerika. Seine einfachen Sätze, die lange nachklingen und seine tiefe Liebe zu den Figuren wecken Reminiszenzen an die eigene Kindheit, an Geborgenheit, an lange Sommerabende und Glück.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2001Groß und klein
Tony Earleys amerikanischer Kindheitsroman · Von Egon Schwarz
In diesem Buch werden prägnante Momente aus dem Lebensjahr eines kleinen Jungen erzählt, genau von seinem zehnten bis zu seinem elften Geburtstag, und nichts, was vorkommt, übersteigt sein Fassungsvermögen. Es ist also ein Jugendbuch. Dennoch darf es Erwachsenen eindringlich zur Lektüre empfohlen werden, aus mehreren Gründen. Erstens ist es ein Meisterwerk literarischer Erzählkunst. In kurzen, einfachen Sätzen, hinter denen man viel erraten muß, werden Personen, auch marginale Mitspieler, deren Sorgen, Freuden und Arbeiten (wie viele Bücher gibt es, die die Menschen glaubwürdig bei der Arbeit zeigen?), deren Sprache, Gebräuche und Gesinnungen dem Leser nahegebracht. Die ganze Landschaft lebt auf, der Fluß strömt rasch vorbei, der Wald duftet, die Sterne prangen, das Wetter wird spürbar, so als säße man nicht mit einem Buch in der Hand im Lehnstuhl, sondern als stünde man leibhaftig mittendrin. Gegen Ende werden die Abenteuer noch einmal zusammengefaßt: "Mama stand auf der Veranda und fragte sich, wo er wohl war. Sie setzte sich in den Schnee vor dem Pächterhäuschen. Penns Finger öffneten sich, und der Baseball fiel ins Gras. Sein Großvater starrte mit milchigblauen Augen an ihm vorbei. Whitey schenkte ihm einen Baseball. Jim warf ihn und traf Penn in den Rücken. Abraham reichte ihm ein Stück Apfel. Sein Vater kam über ein Baumwollfeld auf ihn zu; er ließ seine Hacke fallen und stürzte zu Boden."
Viel mehr ist es nicht, aber es ist alles mit Anschaulichkeit und Lebensweisheit durchsetzt und beseelt und daher trotz der Alltäglichkeit, ja Banalität des Materials zum Kunstwerk erhoben. Mit seinem hintergründigen Humor erinnert der Roman an Mark Twains "Tom Sawyer", der ja auch ein Buch für Jugendliche wurde und zugleich von Erwachsenen jeder Nationalität als amerikanischer Mythos ernst genommen wird. Durch sein Motto aus dem Jugend-, ja Kinderbuch "Charlotte's Web" von E. B. White reiht sich Tony Earley selbst in diese Tradition ein: "Ich bin so gern hier im Stall", sagte Wilbur. "Ich liebe einfach alles hier." Wenn man sich erinnert, daß Wilbur ein Schweinchen ist, dann erkennt man die subtile Selbstironie des Autors.
Wieder einmal zeigt es sich, daß große Erzählkunst vor allem aus zwei Quellen genährt wird, der Kenntnis eines Milieus mit allen seinen Nuancen und der Fähigkeit, aus diesen Elementen eine geschlossene Welt aufzubauen. Je minutiöser das Milieu dargestellt wird, und sei es noch so abseitig, um so spannender und universaler wirkt es.
Die Welt, die hier aufleuchtet, ist klein. Als der Junge an seinem elften Geburtstag zum ersten Mal von einem benachbarten Berg sein Heimatstädtchen erblickt, ist er von seiner Kleinheit tief getroffen. "Sie ist zu groß", murmelt er. "Was ist zu groß?" fragt sein Onkel. "Alles." "Ich versteh dich nicht." "Ich bin bloß ein kleiner Junge." "Das wissen wir. Aber du bist unser Junge." Das ist das Fazit. Die Welt ist überwältigend. Nur die Vertrautheit mit einem Eckchen und die Liebe zu ihm macht sie erträglich.
Jims Welt ist winzig, aber sie ist seine Welt, und sie wird so überzeugend geschildert, daß kein Steinchen zu fehlen scheint, und das ist ein weiterer Grund, warum deutsche Erwachsene dieses Buch mit Gewinn lesen können. Die Geschichte spielt in einem ländlichen Winkel des Staates North Carolina und, wenn man die verstreuten Hinweise zusammennimmt, vor mehr als einem halben Jahrhundert, während der Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts. Aber es wird ein authentisches Stück Amerika gestaltet. Wer nur New York oder Los Angeles kennt oder gar nur aus den Zeitungen das seltsame, der Dritten Welt ähnliche Land, wo massiver Wahlbetrug getrieben, wo ganze Wahlen gestohlen werden, wo ein einziger Richter gegen jede Evidenz den Verlierer einer Präsidentschaftswahl zum Sieger erklären kann, der lernt hier eine ganz neue Kraftquelle kennen. Diese landwirtschaftliche Ecke des Südens ist zwar für den Europäer nicht weniger seltsam, aber für das Ganze ebenso wichtig wie Chicago oder Washington.
Wenn man unbedingt einen Mangel in diesem Buch finden will, so ist es der, daß die Gestalten ein wenig zu rechtschaffen und liebenswert ausgefallen sind, daß das Böse zwar vorhanden ist, doch nur am Rande gestreift wird, und daß soziale Probleme überhaupt nicht zu existieren scheinen. Aber warum soll man sich nicht auf ein Stündchen in eine Welt versetzen lassen, in der sie nicht die Hauptrolle spielen?
Tony Earley: "Jim Glass". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Karen Nölle-Fischer. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2001. 202 S., geb., 33,50 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tony Earleys amerikanischer Kindheitsroman · Von Egon Schwarz
In diesem Buch werden prägnante Momente aus dem Lebensjahr eines kleinen Jungen erzählt, genau von seinem zehnten bis zu seinem elften Geburtstag, und nichts, was vorkommt, übersteigt sein Fassungsvermögen. Es ist also ein Jugendbuch. Dennoch darf es Erwachsenen eindringlich zur Lektüre empfohlen werden, aus mehreren Gründen. Erstens ist es ein Meisterwerk literarischer Erzählkunst. In kurzen, einfachen Sätzen, hinter denen man viel erraten muß, werden Personen, auch marginale Mitspieler, deren Sorgen, Freuden und Arbeiten (wie viele Bücher gibt es, die die Menschen glaubwürdig bei der Arbeit zeigen?), deren Sprache, Gebräuche und Gesinnungen dem Leser nahegebracht. Die ganze Landschaft lebt auf, der Fluß strömt rasch vorbei, der Wald duftet, die Sterne prangen, das Wetter wird spürbar, so als säße man nicht mit einem Buch in der Hand im Lehnstuhl, sondern als stünde man leibhaftig mittendrin. Gegen Ende werden die Abenteuer noch einmal zusammengefaßt: "Mama stand auf der Veranda und fragte sich, wo er wohl war. Sie setzte sich in den Schnee vor dem Pächterhäuschen. Penns Finger öffneten sich, und der Baseball fiel ins Gras. Sein Großvater starrte mit milchigblauen Augen an ihm vorbei. Whitey schenkte ihm einen Baseball. Jim warf ihn und traf Penn in den Rücken. Abraham reichte ihm ein Stück Apfel. Sein Vater kam über ein Baumwollfeld auf ihn zu; er ließ seine Hacke fallen und stürzte zu Boden."
Viel mehr ist es nicht, aber es ist alles mit Anschaulichkeit und Lebensweisheit durchsetzt und beseelt und daher trotz der Alltäglichkeit, ja Banalität des Materials zum Kunstwerk erhoben. Mit seinem hintergründigen Humor erinnert der Roman an Mark Twains "Tom Sawyer", der ja auch ein Buch für Jugendliche wurde und zugleich von Erwachsenen jeder Nationalität als amerikanischer Mythos ernst genommen wird. Durch sein Motto aus dem Jugend-, ja Kinderbuch "Charlotte's Web" von E. B. White reiht sich Tony Earley selbst in diese Tradition ein: "Ich bin so gern hier im Stall", sagte Wilbur. "Ich liebe einfach alles hier." Wenn man sich erinnert, daß Wilbur ein Schweinchen ist, dann erkennt man die subtile Selbstironie des Autors.
Wieder einmal zeigt es sich, daß große Erzählkunst vor allem aus zwei Quellen genährt wird, der Kenntnis eines Milieus mit allen seinen Nuancen und der Fähigkeit, aus diesen Elementen eine geschlossene Welt aufzubauen. Je minutiöser das Milieu dargestellt wird, und sei es noch so abseitig, um so spannender und universaler wirkt es.
Die Welt, die hier aufleuchtet, ist klein. Als der Junge an seinem elften Geburtstag zum ersten Mal von einem benachbarten Berg sein Heimatstädtchen erblickt, ist er von seiner Kleinheit tief getroffen. "Sie ist zu groß", murmelt er. "Was ist zu groß?" fragt sein Onkel. "Alles." "Ich versteh dich nicht." "Ich bin bloß ein kleiner Junge." "Das wissen wir. Aber du bist unser Junge." Das ist das Fazit. Die Welt ist überwältigend. Nur die Vertrautheit mit einem Eckchen und die Liebe zu ihm macht sie erträglich.
Jims Welt ist winzig, aber sie ist seine Welt, und sie wird so überzeugend geschildert, daß kein Steinchen zu fehlen scheint, und das ist ein weiterer Grund, warum deutsche Erwachsene dieses Buch mit Gewinn lesen können. Die Geschichte spielt in einem ländlichen Winkel des Staates North Carolina und, wenn man die verstreuten Hinweise zusammennimmt, vor mehr als einem halben Jahrhundert, während der Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts. Aber es wird ein authentisches Stück Amerika gestaltet. Wer nur New York oder Los Angeles kennt oder gar nur aus den Zeitungen das seltsame, der Dritten Welt ähnliche Land, wo massiver Wahlbetrug getrieben, wo ganze Wahlen gestohlen werden, wo ein einziger Richter gegen jede Evidenz den Verlierer einer Präsidentschaftswahl zum Sieger erklären kann, der lernt hier eine ganz neue Kraftquelle kennen. Diese landwirtschaftliche Ecke des Südens ist zwar für den Europäer nicht weniger seltsam, aber für das Ganze ebenso wichtig wie Chicago oder Washington.
Wenn man unbedingt einen Mangel in diesem Buch finden will, so ist es der, daß die Gestalten ein wenig zu rechtschaffen und liebenswert ausgefallen sind, daß das Böse zwar vorhanden ist, doch nur am Rande gestreift wird, und daß soziale Probleme überhaupt nicht zu existieren scheinen. Aber warum soll man sich nicht auf ein Stündchen in eine Welt versetzen lassen, in der sie nicht die Hauptrolle spielen?
Tony Earley: "Jim Glass". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Karen Nölle-Fischer. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2001. 202 S., geb., 33,50 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Als ein "Meisterwerk literarischer Erzählkunst" preist Rezensent Egon Schwarz dieses Jugendbuch, dass er auch Erwachsenen "dringlich" zur Lektüre empfiehlt. Mit seinem "hintergründigen Humor" erinnere es an Twains "Tom Sawyer". In den kurzen, einfachen Sätzen, hinter denen man "viel erraten" müsse, lebe die ganze Landschaft auf. "Der Strom strömt rasch vorbei". "Der Wald duftet", und der Kritiker fühlt sich "mittendrin" in Jims winziger Welt, von der er uns wenig berichtet, außer dass sie beängstigend überwältigend ist für das zehjährige Kind, aus dessen Sicht sie geschildert wird. Dafür erfahren wir von der "Anschaulichkeit" und der "Lebensweisheit", von der das Buch "durchsetzt und beseelt" sei. Und dass der Rezensent bei aller Begeisterung manche Gestalten im Buch doch "ein wenig zu rechtschaffen und liebenswert" fand.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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"Tony Earley sieht unter die Oberfläche des stillen Wassers unseres alltäglichen Lebens bis in die Untiefen der Seele, wo die riesenhaften Katzenfische dahingleiten und wo ganze Städte verborgen liegen, angefüllt mit unseren ungelebten Leben, unseren nichterzählten Geschichten." (Lee Smith.)