Als Chris Ware die Graphic Novel "Jimmy Corrigan" zur Milleniumswende veröffentlichte, löste er damit weit über die Grenzen der Comicwelt hinaus Begeisterung aus. Seitdem gilt das Buch als "Jahrhundertcomic", der die Ausdrucksmöglichkeiten von Bild und Wort radikal ausschöpft und damit beweist: Es gibt große Literatur, die sich nur als Comic erzählen lässt.Jimmy Corrigan ist ein linkischer und dauerkränkelnder Enddreißiger, der ein Dasein als unauffälliger Büroangestellter fristet. Sein soziales Leben beschränkt sich auf die täglichen Kontrollanrufe der Mutter - und findet ansonsten in seinen tagträumerischen Heldenfantasien statt. Ein Brief seines Vaters, der nach jahrzehntelanger Abwesenheit die Beziehung wiederbeleben möchte, reißt ihn schließlich aus seinem lethargischen Alltag heraus.Auf nahezu 400 Seiten breitet Chris Ware die generationenübergreifende Geschichte der Familie Corrigan aus, die bis ins Chicago des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurückreicht. Eine epische Erzählung über hundert Jahre Einsamkeit - in Bildern von berührender Tiefe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2012Hier fällt alles aus dem Rahmen
Der amerikanische Zeichner Chris Ware lässt mit seinen "Building Stories" die Comic-Geschichte neu beginnen. Was wir sehen und lesen, ist ein Kunstwerk ganz eigener, kühner Art; es vereinigt Stadt- und Sozialgeschichte, es erzählt ein Frauenschicksal. Der Leser muss sich seinen Reim darauf machen.
Im kommenden Frühjahr - so versichert es zumindest der Reprodukt Verlag - wird endlich ein Comic auf Deutsch erscheinen, der die Welt vor einem Dutzend Jahren erstaunt und erschüttert hat und in alle Weltsprachen übersetzt worden ist (bis eben auf eine). "Jimmy Corrigan" heißt das Buch, und darin erzählt Chris Ware, ein 1967 geborener Amerikaner, die Geschichte eines Mannes in den besten Jahren, der seinen Vater zum ersten Mal trifft. Das klingt wenig spektakulär, doch wie Ware dabei alle Kunstgriffe, die der Comic in seiner mehr als hundertjährigen Geschichte ersonnen hat, benutzte, um seinerseits eine mehr als hundertjährige Familiengeschichte ins Bild zu setzen, das hat nicht nur in Amerika entscheidend dazu beigetragen, dass heute kaum noch jemand zweifelt, ob Comics auf literarisch anspruchsvolle Weise erzählen können.
Nun aber ist in den Vereinigten Staaten ein weiterer Comic von Chris Ware erschienen, der noch mehr dazu taugt, diesen Beweis zu führen - ach was, der alle Einwände dagegen hinwegfegt. "Building Stories" heißt er, und schon ein erster Blick weist die bei Pantheon erschienene Publikation als etwas ganz Besonderes aus: In einer gesellschaftsspielgroßen prächtig illustrierten Pappschachtel stecken vierzehn einzelne Werke unterschiedlichsten Formats und Umfangs: vom zeitungsseitengroßen Faltblatt übers Hardcoverbuch und das klassische Comicheft bis hin zu schmalen Leporelli und dann wieder hinauf über Comicstrip-Querformate, quadratische Bilderbücher und Einzelbögen bis hin zu einer Art stabilem ausklappbaren Spielplan, der aber auf der Bildseite auch wieder mit Comics bedruckt ist.
Alle diese unnumerierten und unpaginierten Einzelteile erzählen jeweils eine der titelgebenden "Gebäudegeschichten". Die Leser sind somit aufgefordert, sich ihren eigenen Leseweg durch die mögliche Vielfalt des Erzählens zu suchen und somit die Geschichten selbst aufzubauen.
"Building Stories" bezeichnet also sowohl den narrativen Rahmen, den die Geschichten durch drei Häuser im Großraum von Chicago erhalten, in denen und um die sich das erzählte Geschehen abspielt, als auch die eigene Konstruktion einer Romanhandlung durch unterschiedlichste Abfolgen. Bestimmte Teile bauen zwar chronologisch aufeinander auf, andere aber werden, obwohl sie früher in der Handlung angesiedelt sind, erst verständlich durch spätere Ereignisse. Der erzählte Zeitraum erstreckt sich von der Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert bis ins Jahr 2156; mal wird über Dutzende von Seiten nur von einem einzigen Tag berichtet, mal greift die Handlung von einem Bild zum anderen über ganze Jahrzehnte oder Jahrhunderte aus.
Lucy oder die Meisterschaft
Es hat eine solche Freiheit des Erzählens und Lesens nie zuvor gegeben - im Comic nicht, und auch nicht in anderen Kunstformen. Und doch steckt hinter diesem scheinbar postmodernen Virtuosenstück eine exakt ausformulierte Handlungsarchitektur, in der jedes kleinste Element seine genaue Funktion hat. Der Begriff ist bewusst gewählt: Mit keiner anderen Kunstform ist der Comic näher verwandt als mit der Architektur, und es gibt keinen größeren Architekten unter den Comicautoren als Chris Ware.
"Jimmy Corrigan" ist einer der wenigen Meilensteine einer ganzen Gattung; er steht neben "Maus" von Art Spiegelman, der "Südseeballade" von Hugo Pratt oder "Watchmen" von Alan Moore und Dave Gibbons. Alle diese Comics bieten mehr als nur literarische Erzählweisen; sie nutzen die spezifischen Stärken ihrer Kunstform, um Dinge sichtbar zu machen, für die es keine Worte gibt. In "Jimmy Corigan" ist das vor allem die Seitenarchitektur: Wie Ware die Abfolge von Bildsequenzen inszenierte und dabei unsere Augen steuert, wie er die Seiten- zu Rhythmuswechseln machte und wie er durch Überbetonung der Bildrahmen dann doch jedes einzelne Panel isolierte und damit den piktogrammatischen Fluss hemmte, das hatte man noch nie vorher gesehen. Man hat die Geschichte des Comics - und vor allem jener Comics, die den Modenamen "Graphic Novel" tragen - eingeteilt in eine Zeit vor und eine nach "Jimmy Corrigan". Ja, man kann vom Schritt in die Moderne sprechen (und das nicht nur, weil "Jimmy Corrigan" auch eine Geschichte des Modernismus ist).
Doch nun zeigt sich: Nicht das Jahr 2000, als "Jimmy Corrigan" erschien, ist die eigentliche Zäsur, sondern 2012. Mit "Building Stories" bringt Ware ein zwanzig Jahre umfassendes Experiment zum Abschluss, das mit der ersten Folge seiner selbstverlegten Comicreihe "Acme Novelty Library" begann, die 1993 erschien.
Da zeigte er zum ersten Mal, dass wechselnde Formate, zahllose Reminiszenzen an Vorläufer und vor allem Stoffe, die kaum jemand vorher des Erzählens für wert befunden hätte, kein Gefühl der Übersättigung erzeugen mussten. Vielmehr ergab sich der Eindruck, einem seiner selbst bereits gewissen Meister beim Erwerb der Meisterschaft zuzusehen. Manche sahen sie mit "Jimmy Corrigan" erreicht, doch nun sieht man, dass dieses Buch mit seiner Beschränkung auf ein festes Format und die üblichen Gepflogenheiten von Lektüre bestenfalls ein Gesellenstück genannt werden kann neben "Building Stories". Damit tritt der Comic in eine Meta-Moderne ein.
Worum geht es in "Building Stories"? Protagonistin ist eine Frau, der nach einem Bootsunfall im Kindesalter der linke Unterschenkel amputiert werden musste. Die drei Häuser, um die sich alles abspielt, sind das ihrer Kindheit und Jugend, das ihres jungen Erwachsenendaseins als Blumenverkäuferin und das ihres Familienlebens nach Heirat und Geburt der Tochter Lucy. Wie schon im Fall von Jimmy Corrigan, der im Untertitel des ihm gewidmeten Comicromans als "the smartest kid on earth" ausgewiesen wird, ist die Entwicklungsgeschichte der Frau, deren Name Ware nie nennt, eine große Desillusionierung, die mit kindlichen Idealen beginnt und zur Vereinsamung im zunehmenden Alter führt.
Wie Lucy eines Morgens erwacht
Flankiert wird diese Schilderung durch Vertreter des anderen Geschlechts, Eltern, Großeltern und parallele Handlungsstränge, die mit dem Hauptgeschehen durch Nachbarschaft verbunden sind, wobei sich vor allem das zweite Gebäude, ein hundert Jahre altes Mietshaus mit drei Parteien, als ideale graphische Folie für eine Evolution erweist, die mit den Menschen auch deren Umgebung verändert. Irgendwann, irgendwo im Riesenkonvolut von "Building Stories" wohnen wir dem Abriss des Mietshauses bei, und wenn es überhaupt ein solches geben sollte, dann ist dieses Panel das letzte, auch wenn es - natürlich, ist man geneigt zu sagen - nicht am Schluss eines der vierzehn einzelnen Bücher steht.
Zwischendurch begleiten wir in gleich zwei Publikationen das Leben und die Träume einer Bienendrohne, deren Stock sich im Garten des Mietshauses befindet - da ist Ware ganz nahe am klassischen amerikanischen Comicstrip. Oder wir verfolgen in einer komplett wortlosen Sequenz das chronologisch ungeordnete Aufwachen von Lucy - das ist auf dem Niveau von Adrian Tomine oder Daniel Clowes. Ganz für sich aber steht Ware in der Konsequenz seiner graphischen Gestaltung, die an Schematazeichnungen und Piktogrammen geschult ist und ihn bereits vor "Building Stories" zum einflussreichsten amerikanischen Gestalter unserer Zeit gemacht hat. Die Zahl der Epigonen ist Legion. Nun werden es auch noch Autoren sein, die hinter Ware herschreiben.
Stimmt etwas nicht im Uhrwerk seines Comic-Romans? Einmal klopft die Protagonistin an ihren Oberschenkel, um sich der Prothese zu versichern, aber ihr fehlt ja nur der Unterschenkel. Ein anderes Mal hat ein Tourist einen Auftritt, der - in der Sprechblase auf Deutsch geschrieben - "Begnadigen Sie mich bitte" sagt statt "Entschuldigen Sie". Aber was sind diese Kleinigkeiten gegen den Reichtum an Ausdrucksmitteln, die Ware der Comic-Ästhetik entnimmt - von angeschnittenen Sprechblasen, die nur Bruchstücke von Sätzen lesen lassen, um Gespräche im Hintergrund zu visualisieren, bis zum vollständigen Verzicht auf Bildrahmen bei einzelnen Kapiteln?
Dieser letztere Kunstgriff ist die Antithese zu den denkbar dick umrandeten Panels in "Jimmy Corrigan", und es passt, dass der Aufbruch ins Offene, den "Building Stories" für Autor und Leser bedeutet, symbolisiert wird durch viele Einzelbilder, die keine Abgrenzung mehr voneinander besitzen, sondern sich zueinander öffnen, indem Ware die Linien seiner Objekte um eine kaum in Millimetern messbare Winzigkeit über die Farbflächen hinausragen lässt - in die Zwischenräume hinein, als griffen sie aus, um eine Stabilität des Erzählens zu schaffen, die ihresgleichen nicht hat. Und das bei Seiten mit bis zu achtzig Bildern. Auf das Erscheinen einer deutschen Übersetzung sollte man übrigens besser nicht warten.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der amerikanische Zeichner Chris Ware lässt mit seinen "Building Stories" die Comic-Geschichte neu beginnen. Was wir sehen und lesen, ist ein Kunstwerk ganz eigener, kühner Art; es vereinigt Stadt- und Sozialgeschichte, es erzählt ein Frauenschicksal. Der Leser muss sich seinen Reim darauf machen.
Im kommenden Frühjahr - so versichert es zumindest der Reprodukt Verlag - wird endlich ein Comic auf Deutsch erscheinen, der die Welt vor einem Dutzend Jahren erstaunt und erschüttert hat und in alle Weltsprachen übersetzt worden ist (bis eben auf eine). "Jimmy Corrigan" heißt das Buch, und darin erzählt Chris Ware, ein 1967 geborener Amerikaner, die Geschichte eines Mannes in den besten Jahren, der seinen Vater zum ersten Mal trifft. Das klingt wenig spektakulär, doch wie Ware dabei alle Kunstgriffe, die der Comic in seiner mehr als hundertjährigen Geschichte ersonnen hat, benutzte, um seinerseits eine mehr als hundertjährige Familiengeschichte ins Bild zu setzen, das hat nicht nur in Amerika entscheidend dazu beigetragen, dass heute kaum noch jemand zweifelt, ob Comics auf literarisch anspruchsvolle Weise erzählen können.
Nun aber ist in den Vereinigten Staaten ein weiterer Comic von Chris Ware erschienen, der noch mehr dazu taugt, diesen Beweis zu führen - ach was, der alle Einwände dagegen hinwegfegt. "Building Stories" heißt er, und schon ein erster Blick weist die bei Pantheon erschienene Publikation als etwas ganz Besonderes aus: In einer gesellschaftsspielgroßen prächtig illustrierten Pappschachtel stecken vierzehn einzelne Werke unterschiedlichsten Formats und Umfangs: vom zeitungsseitengroßen Faltblatt übers Hardcoverbuch und das klassische Comicheft bis hin zu schmalen Leporelli und dann wieder hinauf über Comicstrip-Querformate, quadratische Bilderbücher und Einzelbögen bis hin zu einer Art stabilem ausklappbaren Spielplan, der aber auf der Bildseite auch wieder mit Comics bedruckt ist.
Alle diese unnumerierten und unpaginierten Einzelteile erzählen jeweils eine der titelgebenden "Gebäudegeschichten". Die Leser sind somit aufgefordert, sich ihren eigenen Leseweg durch die mögliche Vielfalt des Erzählens zu suchen und somit die Geschichten selbst aufzubauen.
"Building Stories" bezeichnet also sowohl den narrativen Rahmen, den die Geschichten durch drei Häuser im Großraum von Chicago erhalten, in denen und um die sich das erzählte Geschehen abspielt, als auch die eigene Konstruktion einer Romanhandlung durch unterschiedlichste Abfolgen. Bestimmte Teile bauen zwar chronologisch aufeinander auf, andere aber werden, obwohl sie früher in der Handlung angesiedelt sind, erst verständlich durch spätere Ereignisse. Der erzählte Zeitraum erstreckt sich von der Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert bis ins Jahr 2156; mal wird über Dutzende von Seiten nur von einem einzigen Tag berichtet, mal greift die Handlung von einem Bild zum anderen über ganze Jahrzehnte oder Jahrhunderte aus.
Lucy oder die Meisterschaft
Es hat eine solche Freiheit des Erzählens und Lesens nie zuvor gegeben - im Comic nicht, und auch nicht in anderen Kunstformen. Und doch steckt hinter diesem scheinbar postmodernen Virtuosenstück eine exakt ausformulierte Handlungsarchitektur, in der jedes kleinste Element seine genaue Funktion hat. Der Begriff ist bewusst gewählt: Mit keiner anderen Kunstform ist der Comic näher verwandt als mit der Architektur, und es gibt keinen größeren Architekten unter den Comicautoren als Chris Ware.
"Jimmy Corrigan" ist einer der wenigen Meilensteine einer ganzen Gattung; er steht neben "Maus" von Art Spiegelman, der "Südseeballade" von Hugo Pratt oder "Watchmen" von Alan Moore und Dave Gibbons. Alle diese Comics bieten mehr als nur literarische Erzählweisen; sie nutzen die spezifischen Stärken ihrer Kunstform, um Dinge sichtbar zu machen, für die es keine Worte gibt. In "Jimmy Corigan" ist das vor allem die Seitenarchitektur: Wie Ware die Abfolge von Bildsequenzen inszenierte und dabei unsere Augen steuert, wie er die Seiten- zu Rhythmuswechseln machte und wie er durch Überbetonung der Bildrahmen dann doch jedes einzelne Panel isolierte und damit den piktogrammatischen Fluss hemmte, das hatte man noch nie vorher gesehen. Man hat die Geschichte des Comics - und vor allem jener Comics, die den Modenamen "Graphic Novel" tragen - eingeteilt in eine Zeit vor und eine nach "Jimmy Corrigan". Ja, man kann vom Schritt in die Moderne sprechen (und das nicht nur, weil "Jimmy Corrigan" auch eine Geschichte des Modernismus ist).
Doch nun zeigt sich: Nicht das Jahr 2000, als "Jimmy Corrigan" erschien, ist die eigentliche Zäsur, sondern 2012. Mit "Building Stories" bringt Ware ein zwanzig Jahre umfassendes Experiment zum Abschluss, das mit der ersten Folge seiner selbstverlegten Comicreihe "Acme Novelty Library" begann, die 1993 erschien.
Da zeigte er zum ersten Mal, dass wechselnde Formate, zahllose Reminiszenzen an Vorläufer und vor allem Stoffe, die kaum jemand vorher des Erzählens für wert befunden hätte, kein Gefühl der Übersättigung erzeugen mussten. Vielmehr ergab sich der Eindruck, einem seiner selbst bereits gewissen Meister beim Erwerb der Meisterschaft zuzusehen. Manche sahen sie mit "Jimmy Corrigan" erreicht, doch nun sieht man, dass dieses Buch mit seiner Beschränkung auf ein festes Format und die üblichen Gepflogenheiten von Lektüre bestenfalls ein Gesellenstück genannt werden kann neben "Building Stories". Damit tritt der Comic in eine Meta-Moderne ein.
Worum geht es in "Building Stories"? Protagonistin ist eine Frau, der nach einem Bootsunfall im Kindesalter der linke Unterschenkel amputiert werden musste. Die drei Häuser, um die sich alles abspielt, sind das ihrer Kindheit und Jugend, das ihres jungen Erwachsenendaseins als Blumenverkäuferin und das ihres Familienlebens nach Heirat und Geburt der Tochter Lucy. Wie schon im Fall von Jimmy Corrigan, der im Untertitel des ihm gewidmeten Comicromans als "the smartest kid on earth" ausgewiesen wird, ist die Entwicklungsgeschichte der Frau, deren Name Ware nie nennt, eine große Desillusionierung, die mit kindlichen Idealen beginnt und zur Vereinsamung im zunehmenden Alter führt.
Wie Lucy eines Morgens erwacht
Flankiert wird diese Schilderung durch Vertreter des anderen Geschlechts, Eltern, Großeltern und parallele Handlungsstränge, die mit dem Hauptgeschehen durch Nachbarschaft verbunden sind, wobei sich vor allem das zweite Gebäude, ein hundert Jahre altes Mietshaus mit drei Parteien, als ideale graphische Folie für eine Evolution erweist, die mit den Menschen auch deren Umgebung verändert. Irgendwann, irgendwo im Riesenkonvolut von "Building Stories" wohnen wir dem Abriss des Mietshauses bei, und wenn es überhaupt ein solches geben sollte, dann ist dieses Panel das letzte, auch wenn es - natürlich, ist man geneigt zu sagen - nicht am Schluss eines der vierzehn einzelnen Bücher steht.
Zwischendurch begleiten wir in gleich zwei Publikationen das Leben und die Träume einer Bienendrohne, deren Stock sich im Garten des Mietshauses befindet - da ist Ware ganz nahe am klassischen amerikanischen Comicstrip. Oder wir verfolgen in einer komplett wortlosen Sequenz das chronologisch ungeordnete Aufwachen von Lucy - das ist auf dem Niveau von Adrian Tomine oder Daniel Clowes. Ganz für sich aber steht Ware in der Konsequenz seiner graphischen Gestaltung, die an Schematazeichnungen und Piktogrammen geschult ist und ihn bereits vor "Building Stories" zum einflussreichsten amerikanischen Gestalter unserer Zeit gemacht hat. Die Zahl der Epigonen ist Legion. Nun werden es auch noch Autoren sein, die hinter Ware herschreiben.
Stimmt etwas nicht im Uhrwerk seines Comic-Romans? Einmal klopft die Protagonistin an ihren Oberschenkel, um sich der Prothese zu versichern, aber ihr fehlt ja nur der Unterschenkel. Ein anderes Mal hat ein Tourist einen Auftritt, der - in der Sprechblase auf Deutsch geschrieben - "Begnadigen Sie mich bitte" sagt statt "Entschuldigen Sie". Aber was sind diese Kleinigkeiten gegen den Reichtum an Ausdrucksmitteln, die Ware der Comic-Ästhetik entnimmt - von angeschnittenen Sprechblasen, die nur Bruchstücke von Sätzen lesen lassen, um Gespräche im Hintergrund zu visualisieren, bis zum vollständigen Verzicht auf Bildrahmen bei einzelnen Kapiteln?
Dieser letztere Kunstgriff ist die Antithese zu den denkbar dick umrandeten Panels in "Jimmy Corrigan", und es passt, dass der Aufbruch ins Offene, den "Building Stories" für Autor und Leser bedeutet, symbolisiert wird durch viele Einzelbilder, die keine Abgrenzung mehr voneinander besitzen, sondern sich zueinander öffnen, indem Ware die Linien seiner Objekte um eine kaum in Millimetern messbare Winzigkeit über die Farbflächen hinausragen lässt - in die Zwischenräume hinein, als griffen sie aus, um eine Stabilität des Erzählens zu schaffen, die ihresgleichen nicht hat. Und das bei Seiten mit bis zu achtzig Bildern. Auf das Erscheinen einer deutschen Übersetzung sollte man übrigens besser nicht warten.
ANDREAS PLATTHAUS
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Katja Lüthge zollt ihren Respekt vor der verlegerischen Herausforderung, die eine auf allen Ebenen adäquate Ausgabe von Chris Wares im Original bereits vor 10 Jahren erschienener Comic-Erzählung über einen sozial isolierten Mitt-Dreißiger und dessen mangelnde Befähigung, "das monadische Ich in Richtung eines anderen zu öffnen", darstellt. Noch mehr begeistert sie aber die obsessive Feinarbeit des Comicautors, den sie in der Figur des Jimmy Corrigan zumindest umrisshaft wiedererkennt: Nicht nur schafft Ware eine beeindruckend triste Innenwelt (den Humor drängt er buchstäblich an den Seitenrand, beobachtet die Rezensentin), dies gelingt ihm auch auf formal herausragende Weise: Wie am Computer entstanden wirkt die komplexe Seiten- und Bildarchitektur dieses Werks, doch handelt es sich um akribisch-säuberliche Handarbeit, informiert Lüthge ihre staunenden Leser.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Dieses packende und meisterhafte Buch wird Ihre Sicht auf die Welt vera¿ndern." - Time"Chris Ware - das ist eine Ein-Mann-Revolution des Erza¿hlens in Bildern." - Andreas Platthaus, FAZ"Ein Jahrhundertcomic." - Thomas von Steinaecker, Die Welt