This first book from Chicago author Chris Ware is a pleasantly-decorated view at a lonely and emotionally-impaired "everyman" (Jimmy Corrigan: The Smartest Kid on Earth), who is provided, at age 36, the opportunity to meet his father for the first time. An improvisatory romance which gingerly deports itself between 1890's Chicago and 1980's small town Michigan, the reader is helped along by thousands of colored illustrations and diagrams, which, when read rapidly in sequence, provide a convincing illusion of life and movement. The bulk of the work is supported by fold-out instructions, an index, paper cut-outs, and a brief apology, all of which concrete to form a rich portrait of a man stunted by a paralyzing fear of being disliked.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2012Hier fällt alles aus dem Rahmen
Der amerikanische Zeichner Chris Ware lässt mit seinen "Building Stories" die Comic-Geschichte neu beginnen. Was wir sehen und lesen, ist ein Kunstwerk ganz eigener, kühner Art; es vereinigt Stadt- und Sozialgeschichte, es erzählt ein Frauenschicksal. Der Leser muss sich seinen Reim darauf machen.
Im kommenden Frühjahr - so versichert es zumindest der Reprodukt Verlag - wird endlich ein Comic auf Deutsch erscheinen, der die Welt vor einem Dutzend Jahren erstaunt und erschüttert hat und in alle Weltsprachen übersetzt worden ist (bis eben auf eine). "Jimmy Corrigan" heißt das Buch, und darin erzählt Chris Ware, ein 1967 geborener Amerikaner, die Geschichte eines Mannes in den besten Jahren, der seinen Vater zum ersten Mal trifft. Das klingt wenig spektakulär, doch wie Ware dabei alle Kunstgriffe, die der Comic in seiner mehr als hundertjährigen Geschichte ersonnen hat, benutzte, um seinerseits eine mehr als hundertjährige Familiengeschichte ins Bild zu setzen, das hat nicht nur in Amerika entscheidend dazu beigetragen, dass heute kaum noch jemand zweifelt, ob Comics auf literarisch anspruchsvolle Weise erzählen können.
Nun aber ist in den Vereinigten Staaten ein weiterer Comic von Chris Ware erschienen, der noch mehr dazu taugt, diesen Beweis zu führen - ach was, der alle Einwände dagegen hinwegfegt. "Building Stories" heißt er, und schon ein erster Blick weist die bei Pantheon erschienene Publikation als etwas ganz Besonderes aus: In einer gesellschaftsspielgroßen prächtig illustrierten Pappschachtel stecken vierzehn einzelne Werke unterschiedlichsten Formats und Umfangs: vom zeitungsseitengroßen Faltblatt übers Hardcoverbuch und das klassische Comicheft bis hin zu schmalen Leporelli und dann wieder hinauf über Comicstrip-Querformate, quadratische Bilderbücher und Einzelbögen bis hin zu einer Art stabilem ausklappbaren Spielplan, der aber auf der Bildseite auch wieder mit Comics bedruckt ist.
Alle diese unnumerierten und unpaginierten Einzelteile erzählen jeweils eine der titelgebenden "Gebäudegeschichten". Die Leser sind somit aufgefordert, sich ihren eigenen Leseweg durch die mögliche Vielfalt des Erzählens zu suchen und somit die Geschichten selbst aufzubauen.
"Building Stories" bezeichnet also sowohl den narrativen Rahmen, den die Geschichten durch drei Häuser im Großraum von Chicago erhalten, in denen und um die sich das erzählte Geschehen abspielt, als auch die eigene Konstruktion einer Romanhandlung durch unterschiedlichste Abfolgen. Bestimmte Teile bauen zwar chronologisch aufeinander auf, andere aber werden, obwohl sie früher in der Handlung angesiedelt sind, erst verständlich durch spätere Ereignisse. Der erzählte Zeitraum erstreckt sich von der Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert bis ins Jahr 2156; mal wird über Dutzende von Seiten nur von einem einzigen Tag berichtet, mal greift die Handlung von einem Bild zum anderen über ganze Jahrzehnte oder Jahrhunderte aus.
Lucy oder die Meisterschaft
Es hat eine solche Freiheit des Erzählens und Lesens nie zuvor gegeben - im Comic nicht, und auch nicht in anderen Kunstformen. Und doch steckt hinter diesem scheinbar postmodernen Virtuosenstück eine exakt ausformulierte Handlungsarchitektur, in der jedes kleinste Element seine genaue Funktion hat. Der Begriff ist bewusst gewählt: Mit keiner anderen Kunstform ist der Comic näher verwandt als mit der Architektur, und es gibt keinen größeren Architekten unter den Comicautoren als Chris Ware.
"Jimmy Corrigan" ist einer der wenigen Meilensteine einer ganzen Gattung; er steht neben "Maus" von Art Spiegelman, der "Südseeballade" von Hugo Pratt oder "Watchmen" von Alan Moore und Dave Gibbons. Alle diese Comics bieten mehr als nur literarische Erzählweisen; sie nutzen die spezifischen Stärken ihrer Kunstform, um Dinge sichtbar zu machen, für die es keine Worte gibt. In "Jimmy Corigan" ist das vor allem die Seitenarchitektur: Wie Ware die Abfolge von Bildsequenzen inszenierte und dabei unsere Augen steuert, wie er die Seiten- zu Rhythmuswechseln machte und wie er durch Überbetonung der Bildrahmen dann doch jedes einzelne Panel isolierte und damit den piktogrammatischen Fluss hemmte, das hatte man noch nie vorher gesehen. Man hat die Geschichte des Comics - und vor allem jener Comics, die den Modenamen "Graphic Novel" tragen - eingeteilt in eine Zeit vor und eine nach "Jimmy Corrigan". Ja, man kann vom Schritt in die Moderne sprechen (und das nicht nur, weil "Jimmy Corrigan" auch eine Geschichte des Modernismus ist).
Doch nun zeigt sich: Nicht das Jahr 2000, als "Jimmy Corrigan" erschien, ist die eigentliche Zäsur, sondern 2012. Mit "Building Stories" bringt Ware ein zwanzig Jahre umfassendes Experiment zum Abschluss, das mit der ersten Folge seiner selbstverlegten Comicreihe "Acme Novelty Library" begann, die 1993 erschien.
Da zeigte er zum ersten Mal, dass wechselnde Formate, zahllose Reminiszenzen an Vorläufer und vor allem Stoffe, die kaum jemand vorher des Erzählens für wert befunden hätte, kein Gefühl der Übersättigung erzeugen mussten. Vielmehr ergab sich der Eindruck, einem seiner selbst bereits gewissen Meister beim Erwerb der Meisterschaft zuzusehen. Manche sahen sie mit "Jimmy Corrigan" erreicht, doch nun sieht man, dass dieses Buch mit seiner Beschränkung auf ein festes Format und die üblichen Gepflogenheiten von Lektüre bestenfalls ein Gesellenstück genannt werden kann neben "Building Stories". Damit tritt der Comic in eine Meta-Moderne ein.
Worum geht es in "Building Stories"? Protagonistin ist eine Frau, der nach einem Bootsunfall im Kindesalter der linke Unterschenkel amputiert werden musste. Die drei Häuser, um die sich alles abspielt, sind das ihrer Kindheit und Jugend, das ihres jungen Erwachsenendaseins als Blumenverkäuferin und das ihres Familienlebens nach Heirat und Geburt der Tochter Lucy. Wie schon im Fall von Jimmy Corrigan, der im Untertitel des ihm gewidmeten Comicromans als "the smartest kid on earth" ausgewiesen wird, ist die Entwicklungsgeschichte der Frau, deren Name Ware nie nennt, eine große Desillusionierung, die mit kindlichen Idealen beginnt und zur Vereinsamung im zunehmenden Alter führt.
Wie Lucy eines Morgens erwacht
Flankiert wird diese Schilderung durch Vertreter des anderen Geschlechts, Eltern, Großeltern und parallele Handlungsstränge, die mit dem Hauptgeschehen durch Nachbarschaft verbunden sind, wobei sich vor allem das zweite Gebäude, ein hundert Jahre altes Mietshaus mit drei Parteien, als ideale graphische Folie für eine Evolution erweist, die mit den Menschen auch deren Umgebung verändert. Irgendwann, irgendwo im Riesenkonvolut von "Building Stories" wohnen wir dem Abriss des Mietshauses bei, und wenn es überhaupt ein solches geben sollte, dann ist dieses Panel das letzte, auch wenn es - natürlich, ist man geneigt zu sagen - nicht am Schluss eines der vierzehn einzelnen Bücher steht.
Zwischendurch begleiten wir in gleich zwei Publikationen das Leben und die Träume einer Bienendrohne, deren Stock sich im Garten des Mietshauses befindet - da ist Ware ganz nahe am klassischen amerikanischen Comicstrip. Oder wir verfolgen in einer komplett wortlosen Sequenz das chronologisch ungeordnete Aufwachen von Lucy - das ist auf dem Niveau von Adrian Tomine oder Daniel Clowes. Ganz für sich aber steht Ware in der Konsequenz seiner graphischen Gestaltung, die an Schematazeichnungen und Piktogrammen geschult ist und ihn bereits vor "Building Stories" zum einflussreichsten amerikanischen Gestalter unserer Zeit gemacht hat. Die Zahl der Epigonen ist Legion. Nun werden es auch noch Autoren sein, die hinter Ware herschreiben.
Stimmt etwas nicht im Uhrwerk seines Comic-Romans? Einmal klopft die Protagonistin an ihren Oberschenkel, um sich der Prothese zu versichern, aber ihr fehlt ja nur der Unterschenkel. Ein anderes Mal hat ein Tourist einen Auftritt, der - in der Sprechblase auf Deutsch geschrieben - "Begnadigen Sie mich bitte" sagt statt "Entschuldigen Sie". Aber was sind diese Kleinigkeiten gegen den Reichtum an Ausdrucksmitteln, die Ware der Comic-Ästhetik entnimmt - von angeschnittenen Sprechblasen, die nur Bruchstücke von Sätzen lesen lassen, um Gespräche im Hintergrund zu visualisieren, bis zum vollständigen Verzicht auf Bildrahmen bei einzelnen Kapiteln?
Dieser letztere Kunstgriff ist die Antithese zu den denkbar dick umrandeten Panels in "Jimmy Corrigan", und es passt, dass der Aufbruch ins Offene, den "Building Stories" für Autor und Leser bedeutet, symbolisiert wird durch viele Einzelbilder, die keine Abgrenzung mehr voneinander besitzen, sondern sich zueinander öffnen, indem Ware die Linien seiner Objekte um eine kaum in Millimetern messbare Winzigkeit über die Farbflächen hinausragen lässt - in die Zwischenräume hinein, als griffen sie aus, um eine Stabilität des Erzählens zu schaffen, die ihresgleichen nicht hat. Und das bei Seiten mit bis zu achtzig Bildern. Auf das Erscheinen einer deutschen Übersetzung sollte man übrigens besser nicht warten.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der amerikanische Zeichner Chris Ware lässt mit seinen "Building Stories" die Comic-Geschichte neu beginnen. Was wir sehen und lesen, ist ein Kunstwerk ganz eigener, kühner Art; es vereinigt Stadt- und Sozialgeschichte, es erzählt ein Frauenschicksal. Der Leser muss sich seinen Reim darauf machen.
Im kommenden Frühjahr - so versichert es zumindest der Reprodukt Verlag - wird endlich ein Comic auf Deutsch erscheinen, der die Welt vor einem Dutzend Jahren erstaunt und erschüttert hat und in alle Weltsprachen übersetzt worden ist (bis eben auf eine). "Jimmy Corrigan" heißt das Buch, und darin erzählt Chris Ware, ein 1967 geborener Amerikaner, die Geschichte eines Mannes in den besten Jahren, der seinen Vater zum ersten Mal trifft. Das klingt wenig spektakulär, doch wie Ware dabei alle Kunstgriffe, die der Comic in seiner mehr als hundertjährigen Geschichte ersonnen hat, benutzte, um seinerseits eine mehr als hundertjährige Familiengeschichte ins Bild zu setzen, das hat nicht nur in Amerika entscheidend dazu beigetragen, dass heute kaum noch jemand zweifelt, ob Comics auf literarisch anspruchsvolle Weise erzählen können.
Nun aber ist in den Vereinigten Staaten ein weiterer Comic von Chris Ware erschienen, der noch mehr dazu taugt, diesen Beweis zu führen - ach was, der alle Einwände dagegen hinwegfegt. "Building Stories" heißt er, und schon ein erster Blick weist die bei Pantheon erschienene Publikation als etwas ganz Besonderes aus: In einer gesellschaftsspielgroßen prächtig illustrierten Pappschachtel stecken vierzehn einzelne Werke unterschiedlichsten Formats und Umfangs: vom zeitungsseitengroßen Faltblatt übers Hardcoverbuch und das klassische Comicheft bis hin zu schmalen Leporelli und dann wieder hinauf über Comicstrip-Querformate, quadratische Bilderbücher und Einzelbögen bis hin zu einer Art stabilem ausklappbaren Spielplan, der aber auf der Bildseite auch wieder mit Comics bedruckt ist.
Alle diese unnumerierten und unpaginierten Einzelteile erzählen jeweils eine der titelgebenden "Gebäudegeschichten". Die Leser sind somit aufgefordert, sich ihren eigenen Leseweg durch die mögliche Vielfalt des Erzählens zu suchen und somit die Geschichten selbst aufzubauen.
"Building Stories" bezeichnet also sowohl den narrativen Rahmen, den die Geschichten durch drei Häuser im Großraum von Chicago erhalten, in denen und um die sich das erzählte Geschehen abspielt, als auch die eigene Konstruktion einer Romanhandlung durch unterschiedlichste Abfolgen. Bestimmte Teile bauen zwar chronologisch aufeinander auf, andere aber werden, obwohl sie früher in der Handlung angesiedelt sind, erst verständlich durch spätere Ereignisse. Der erzählte Zeitraum erstreckt sich von der Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert bis ins Jahr 2156; mal wird über Dutzende von Seiten nur von einem einzigen Tag berichtet, mal greift die Handlung von einem Bild zum anderen über ganze Jahrzehnte oder Jahrhunderte aus.
Lucy oder die Meisterschaft
Es hat eine solche Freiheit des Erzählens und Lesens nie zuvor gegeben - im Comic nicht, und auch nicht in anderen Kunstformen. Und doch steckt hinter diesem scheinbar postmodernen Virtuosenstück eine exakt ausformulierte Handlungsarchitektur, in der jedes kleinste Element seine genaue Funktion hat. Der Begriff ist bewusst gewählt: Mit keiner anderen Kunstform ist der Comic näher verwandt als mit der Architektur, und es gibt keinen größeren Architekten unter den Comicautoren als Chris Ware.
"Jimmy Corrigan" ist einer der wenigen Meilensteine einer ganzen Gattung; er steht neben "Maus" von Art Spiegelman, der "Südseeballade" von Hugo Pratt oder "Watchmen" von Alan Moore und Dave Gibbons. Alle diese Comics bieten mehr als nur literarische Erzählweisen; sie nutzen die spezifischen Stärken ihrer Kunstform, um Dinge sichtbar zu machen, für die es keine Worte gibt. In "Jimmy Corigan" ist das vor allem die Seitenarchitektur: Wie Ware die Abfolge von Bildsequenzen inszenierte und dabei unsere Augen steuert, wie er die Seiten- zu Rhythmuswechseln machte und wie er durch Überbetonung der Bildrahmen dann doch jedes einzelne Panel isolierte und damit den piktogrammatischen Fluss hemmte, das hatte man noch nie vorher gesehen. Man hat die Geschichte des Comics - und vor allem jener Comics, die den Modenamen "Graphic Novel" tragen - eingeteilt in eine Zeit vor und eine nach "Jimmy Corrigan". Ja, man kann vom Schritt in die Moderne sprechen (und das nicht nur, weil "Jimmy Corrigan" auch eine Geschichte des Modernismus ist).
Doch nun zeigt sich: Nicht das Jahr 2000, als "Jimmy Corrigan" erschien, ist die eigentliche Zäsur, sondern 2012. Mit "Building Stories" bringt Ware ein zwanzig Jahre umfassendes Experiment zum Abschluss, das mit der ersten Folge seiner selbstverlegten Comicreihe "Acme Novelty Library" begann, die 1993 erschien.
Da zeigte er zum ersten Mal, dass wechselnde Formate, zahllose Reminiszenzen an Vorläufer und vor allem Stoffe, die kaum jemand vorher des Erzählens für wert befunden hätte, kein Gefühl der Übersättigung erzeugen mussten. Vielmehr ergab sich der Eindruck, einem seiner selbst bereits gewissen Meister beim Erwerb der Meisterschaft zuzusehen. Manche sahen sie mit "Jimmy Corrigan" erreicht, doch nun sieht man, dass dieses Buch mit seiner Beschränkung auf ein festes Format und die üblichen Gepflogenheiten von Lektüre bestenfalls ein Gesellenstück genannt werden kann neben "Building Stories". Damit tritt der Comic in eine Meta-Moderne ein.
Worum geht es in "Building Stories"? Protagonistin ist eine Frau, der nach einem Bootsunfall im Kindesalter der linke Unterschenkel amputiert werden musste. Die drei Häuser, um die sich alles abspielt, sind das ihrer Kindheit und Jugend, das ihres jungen Erwachsenendaseins als Blumenverkäuferin und das ihres Familienlebens nach Heirat und Geburt der Tochter Lucy. Wie schon im Fall von Jimmy Corrigan, der im Untertitel des ihm gewidmeten Comicromans als "the smartest kid on earth" ausgewiesen wird, ist die Entwicklungsgeschichte der Frau, deren Name Ware nie nennt, eine große Desillusionierung, die mit kindlichen Idealen beginnt und zur Vereinsamung im zunehmenden Alter führt.
Wie Lucy eines Morgens erwacht
Flankiert wird diese Schilderung durch Vertreter des anderen Geschlechts, Eltern, Großeltern und parallele Handlungsstränge, die mit dem Hauptgeschehen durch Nachbarschaft verbunden sind, wobei sich vor allem das zweite Gebäude, ein hundert Jahre altes Mietshaus mit drei Parteien, als ideale graphische Folie für eine Evolution erweist, die mit den Menschen auch deren Umgebung verändert. Irgendwann, irgendwo im Riesenkonvolut von "Building Stories" wohnen wir dem Abriss des Mietshauses bei, und wenn es überhaupt ein solches geben sollte, dann ist dieses Panel das letzte, auch wenn es - natürlich, ist man geneigt zu sagen - nicht am Schluss eines der vierzehn einzelnen Bücher steht.
Zwischendurch begleiten wir in gleich zwei Publikationen das Leben und die Träume einer Bienendrohne, deren Stock sich im Garten des Mietshauses befindet - da ist Ware ganz nahe am klassischen amerikanischen Comicstrip. Oder wir verfolgen in einer komplett wortlosen Sequenz das chronologisch ungeordnete Aufwachen von Lucy - das ist auf dem Niveau von Adrian Tomine oder Daniel Clowes. Ganz für sich aber steht Ware in der Konsequenz seiner graphischen Gestaltung, die an Schematazeichnungen und Piktogrammen geschult ist und ihn bereits vor "Building Stories" zum einflussreichsten amerikanischen Gestalter unserer Zeit gemacht hat. Die Zahl der Epigonen ist Legion. Nun werden es auch noch Autoren sein, die hinter Ware herschreiben.
Stimmt etwas nicht im Uhrwerk seines Comic-Romans? Einmal klopft die Protagonistin an ihren Oberschenkel, um sich der Prothese zu versichern, aber ihr fehlt ja nur der Unterschenkel. Ein anderes Mal hat ein Tourist einen Auftritt, der - in der Sprechblase auf Deutsch geschrieben - "Begnadigen Sie mich bitte" sagt statt "Entschuldigen Sie". Aber was sind diese Kleinigkeiten gegen den Reichtum an Ausdrucksmitteln, die Ware der Comic-Ästhetik entnimmt - von angeschnittenen Sprechblasen, die nur Bruchstücke von Sätzen lesen lassen, um Gespräche im Hintergrund zu visualisieren, bis zum vollständigen Verzicht auf Bildrahmen bei einzelnen Kapiteln?
Dieser letztere Kunstgriff ist die Antithese zu den denkbar dick umrandeten Panels in "Jimmy Corrigan", und es passt, dass der Aufbruch ins Offene, den "Building Stories" für Autor und Leser bedeutet, symbolisiert wird durch viele Einzelbilder, die keine Abgrenzung mehr voneinander besitzen, sondern sich zueinander öffnen, indem Ware die Linien seiner Objekte um eine kaum in Millimetern messbare Winzigkeit über die Farbflächen hinausragen lässt - in die Zwischenräume hinein, als griffen sie aus, um eine Stabilität des Erzählens zu schaffen, die ihresgleichen nicht hat. Und das bei Seiten mit bis zu achtzig Bildern. Auf das Erscheinen einer deutschen Übersetzung sollte man übrigens besser nicht warten.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2013In der weißen Stadt
Ein Meilenstein: Chris Wares Graphic Novel
„Jimmy Corrigan“ erscheint endlich auf Deutsch
VON THOMAS VON STEINAECKER
Es gibt gute und sehr gute Kunstwerke. Und es gibt Meilensteine. Zu der letzten Kategorie gehört die Graphic Novel „Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt“ des US-Amerikaners Chris Ware, die jetzt endlich, über dreizehn Jahre, nachdem sie in den USA erschien, auch auf Deutsch vorliegt. Es ist schon ein merkwürdiger Zufall, dass das Buch einst ausgerechnet zum Millenniumswechsel herauskam; war doch sofort nicht nur der Comic-Branche klar, dass man es hier mit einer Epoche machenden Arbeit und einem genialen, bis dahin aber nur Insidern bekannten Künstler zu tun hatte: Als erste Graphic Novel überhaupt erhielt das Buch neben den wichtigsten Auszeichnungen in Angoulême und beim Eisner-Award den angesehenen Guardian First Book Award.
Sieben Jahre lang hatte Ware an seinem Opus Magnum gearbeitet, Kapitel um Kapitel, wie bei vielen Comic-Künstlern üblich, in seinem selbst herausgegebenem Periodical, „The ACME Novelty Library“, veröffentlicht und schließlich die Produktion des fertigen 380-Seiten-Buches von Anfang bis zum Ende allein überwacht – der Verlag übernahm lediglich den Vertrieb. Ein ungewöhnlicher Vorgang, der jedoch zugleich ein bezeichnendes Licht auf Ware wirft: Der fast kindlich schüchterne und zugleich stets von Selbstzweifeln geplagte Autor und Zeichner ist ein Perfektionist sondergleichen. Als er mit den Farben der Bilder unzufrieden war, flog er kurzerhand in die Druckerei nach Hongkong. Entdeckt wurde er in den späten 1980ern von keinem geringeren als Art Spiegelman, der durch Zufall auf der Rückseite der Rezension eines seiner eigenen Werke auf einen Strip Wares stieß und dem verblüfften Studenten anbot, für sein legendäres Raw-Magazin zu arbeiten. Heute bildet Ware zusammen mit Charles Burns („Black Hole“) und Dan Clowes („Ghost World“) eine Trias US-amerikanischer Zeichner, die für Generationen von internationalen Comickünstlern stilprägend ist, wobei kein Zweifel darüber besteht, dass Ware von den dreien der Innovativste und Manischste ist.
Was aber nun macht „Jimmy Corrigan“ zu so einem Wunderwerk? Anders als bei einem Roman, in den man sich erst einmal einlesen muss, um ihn zu beurteilen, ist Wares Kunst für jeden auf den ersten Blick ersichtlich. Wenn man das Buch aufschlägt, sticht sofort die Kolorierung ins Auge, und man versteht, warum sie Ware so wichtig ist: Jede Episode wird von einer bestimmten Farbe mit ihren diversen Abstufungen dominiert, in die behutsam Akzente, meistens in rot oder gelb, gesetzt sind. Die Wirkung ist verblüffend: Ohne die Motive oder die Geschichte zu kennen, überzeugen die Seiten allein schon durch ihre jeweilige Chromatik als abstraktes Bild. Ihr Aufbau ist dabei äußerst komplex: Häufig gibt ein großes Panel eine Außenansicht wieder, ein Haus oder ein Auto, während rundherum angeordnete kurze Sequenzen in minimalistischen Bewegungsabläufen Details zeigen, einen gähnenden Mann beispielsweise oder eine herumschwirrende Biene. Dabei hat Ware das Gesamtbild ebenso im Blick wie die Puzzlesteinchen, aus denen es sich zusammensetzt, was der Hauptgrund dafür ist, warum dieses Buch nicht als E-Book funktionieren würde. Die Landschaften und Figuren, die die Seiten bevölkern, erinnern wie auch bei Burns und Clowes an die klare Linie Hergés und wirken bei aller karikaturistischen Verzerrung stets realistisch. Allein schon visuell ist „Jimmy Corrigan“ also ein Genuss. Hier und da ist man versucht, eine Seite auszuschneiden und einzurahmen.
Die eigentliche Bedeutung von Wares Graphic Novel liegt aber nun darin, dass hier die brillanten Bilder nicht, wie so oft bei anderen Künstlern, eine am Ende recht dürftige Geschichte kaschieren; stattdessen weist „Jimmy Corrigan“ viele Merkmale einer „Great American Novel“ auf. Tatsächlich erschien der Comic in den USA nahezu gleichzeitig mit Jonathan Franzens Roman „Die Korrekturen“, was ein weiterer seltsamer Zufall ist. Denn auch bei Ware geht es um mehrere Generationen einer Familie, deren Wege sich auf einem Fest, in diesem Fall an Thanksgiving, kreuzen. Was so entsteht, ist sowohl das Psychogramm unterschiedlicher, typisch amerikanischer Charaktere, als auch das Abbild ihres Landes.
Das Buch beginnt im verschneiten Chicago Anfang der 1980er mit dem titelgebenden Antihelden, Jimmy Corrigan. In dem Ensemble aus Figuren, die im Lauf der folgenden Episoden vorgestellt werden, ist er letztlich die am wenigsten originelle, weil mit ihren Autismen ein wenig eindimensional geraten: 36 Jahre alt, aber vor der Zeit gealtert, sowie als 08/15-Bürokraft sozial isoliert und von der von ihm angehimmelten Kollegin verachtet; lediglich seine Mutter nervt ihn mit überfürsorglichen Anrufen aus dem Altenheim. Da wirbelt ein Brief Jimmys monotonen Alltag durcheinander: Sein Vater, den er nie kennengelernt hat, lädt ihn zu Thanksgiving ein, das Flugticket liegt bei. Also macht sich Jimmy nach Michigan auf und steht bald darauf, in einer typischen, streng symmetrisch angelegten Ware-Szene, seinem eigenen älteren Spiegelbild, seinem Erzeuger gegenüber, der nichts Besseres zu sagen hat als: „Und, wie war dein Flug?“ Corrigan sen. mag von seinem Aussehen und seinem tristen Leben her seinem Sohn ziemlich ähnlich sein; aber wo jener wegen seiner Neurosen nie einen Mucks herausbringt, überspielt der Vater seine Schwächen mit penetrantem Macho-Gehabe und schmieriger Anbiederung. Dass man nach und nach doch gewisse Sympathien für diesen Kotzbrocken hegt, liegt nicht so sehr an seinen ungelenken Wiedergutmachungsversuchen, sondern an seiner Adoptivtochter, die plötzlich auftaucht, als er nach einem Autounfall im Koma liegt: Amy ist jung, schwarz, redet, was sie gerade denkt und hat dabei das Herz am rechten Fleck. Man ahnt, dass Jimmys Vater wohl eigentlich ein netter Kerl ist, der sich aufopfernd um Amy gekümmert hat. Und auch Jimmy selbst, der von der Situation natürlich völlig überfordert ist, beginnt allmählich durch die lockere Art seiner Stiefschwester aufzutauen. Am Ende wird er zwar nach einer Katastrophe seine neue Familie Hals über Kopf verlassen, doch es besteht Hoffnung, dass er als ein anderer nach Chicago heimkehrt.
Parallel zu Jimmys Geschichte entspannt sich die seines Großvaters. Und hier kommt das Buch ganz zu sich: Nicht nur, weil das Chicago des späten 19. Jahrhunderts reich an Schauwerten ist, sondern weil der greise James Corrigan selbst Amy von seiner schrecklichen Kindheit erzählt und sich dabei zum ersten Mal so etwas wie Innerlichkeit einstellt. Der Neunjährige lebt als Halbwaise bei seinem tyrannischen Vater, der sehnsüchtig auf das Erbe seiner sterbenden Mutter wartet und sich als Handwerker in der neoklassizistischen Idealstadt „White City“ auf der anstehenden Weltausstellung verdingt: Hier also die triumphale Selbstfeier des modernen Menschen und seiner Errungenschaften, dort das traurige Schicksal des schüchternen James’, der in der Schule gehänselt wird und daheim, als der Vater dem schwarzen Hausmädchen kündigt, seine einzige Fürsprecherin verliert.
Das Buch hält indes am Ende einen Clou bereit, der die diversen miteinander verwobenen Lebensgeschichten in einem neuen Licht erscheinen lässt: In einem Diagramm sehen wir, dass Amy von eben jenem Hausmädchen abstammt, mit dem James’ Vater eine Affäre hatte. „Jimmy Corrigan“ ist damit nicht nur das Porträt einer kaputten Nation, sondern auch eine komplexe Studie zur Rassenproblematik der USA. Erst vor diesem Hintergrund begreift man die vielen subtilen, auffällig weiß konnotierten Leitmotive des Buches, von der „White City“ über den allerorts präsenten Schnee bis hin zum „White Trash“ der Familie Corrigan. Daneben offenbart die Graphic Novel eine fruchtbare Anzahl weiterer Tiefenschichten, die genug Stoff für zahlreiche Doktorarbeiten böten. Denn im Unterschied zu Franzen ist Ware sowohl ein realistischer als auch ein knallharter postmoderner Erzähler. Oft wird die Handlung unterbrochen, vor allem von Passagen, die sich erst a posteriori als Tagtraum herausstellen, sodass man sich über den Wirklichkeitsstatus des Erzählten nie ganz sicher sein kann, oder, wie es im Text in der gelungenen Übersetzung Tina Hohls und Heinrich Anders’ heißt: „Manche Erinnerungen bleiben so frisch wie im ersten Augenblick, während andere zu zerfallen scheinen und ihre Nachbarn mit einem giftigen Schimmel der Ungewissheit bestäuben.“ Dementsprechend ist auch die Leserichtung durch die kaleidoskopartigen Gesamtbilder auf den einzelnen Seiten nicht klar linear vorgegeben. Selbst nach der x-ten Lektüre wird man neue Aspekte entdecken.
Ein kleiner Wermutstropfen bleibt: Chris Ware ist kein One-Hit-Wonder. In dem im letzten Jahr erschienenem Großwerk „Building Stories“ führt er seine Chronik der amerikanischen Seele fort. Die Geschichte übertrifft sogar noch die Innovationskraft „Jimmy Corrigans“ und wird in sage und schreibe vierzehn verschiedenformatigen Büchern erzählt, die in einer Kiste geliefert werden. Dass „Building Stories“ je außerhalb der USA erscheinen wird, ist wegen des komplexen Letterings leider eher unwahrscheinlich. Vielleicht ist das der Preis, den Genies zu zahlen haben.
Chris Ware: Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt. Aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders und Tina Hohl. Reprodukt Verlag, Berlin 2013. 384 Seiten, 39 Euro.
Jede Episode wird von einer
bestimmten Farbe dominiert, in
die behutsam Akzente gesetzt sind
Der Comic ist auch eine Studie
zur Rassenproblematik
der USA – deshalb so viel Weiß
Ein Mann und seine Stadt: Jimmy Corrigan im verschneiten Chicago.
ABBILDUNG AUS DEM BESPROCHENEN BAND
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Ein Meilenstein: Chris Wares Graphic Novel
„Jimmy Corrigan“ erscheint endlich auf Deutsch
VON THOMAS VON STEINAECKER
Es gibt gute und sehr gute Kunstwerke. Und es gibt Meilensteine. Zu der letzten Kategorie gehört die Graphic Novel „Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt“ des US-Amerikaners Chris Ware, die jetzt endlich, über dreizehn Jahre, nachdem sie in den USA erschien, auch auf Deutsch vorliegt. Es ist schon ein merkwürdiger Zufall, dass das Buch einst ausgerechnet zum Millenniumswechsel herauskam; war doch sofort nicht nur der Comic-Branche klar, dass man es hier mit einer Epoche machenden Arbeit und einem genialen, bis dahin aber nur Insidern bekannten Künstler zu tun hatte: Als erste Graphic Novel überhaupt erhielt das Buch neben den wichtigsten Auszeichnungen in Angoulême und beim Eisner-Award den angesehenen Guardian First Book Award.
Sieben Jahre lang hatte Ware an seinem Opus Magnum gearbeitet, Kapitel um Kapitel, wie bei vielen Comic-Künstlern üblich, in seinem selbst herausgegebenem Periodical, „The ACME Novelty Library“, veröffentlicht und schließlich die Produktion des fertigen 380-Seiten-Buches von Anfang bis zum Ende allein überwacht – der Verlag übernahm lediglich den Vertrieb. Ein ungewöhnlicher Vorgang, der jedoch zugleich ein bezeichnendes Licht auf Ware wirft: Der fast kindlich schüchterne und zugleich stets von Selbstzweifeln geplagte Autor und Zeichner ist ein Perfektionist sondergleichen. Als er mit den Farben der Bilder unzufrieden war, flog er kurzerhand in die Druckerei nach Hongkong. Entdeckt wurde er in den späten 1980ern von keinem geringeren als Art Spiegelman, der durch Zufall auf der Rückseite der Rezension eines seiner eigenen Werke auf einen Strip Wares stieß und dem verblüfften Studenten anbot, für sein legendäres Raw-Magazin zu arbeiten. Heute bildet Ware zusammen mit Charles Burns („Black Hole“) und Dan Clowes („Ghost World“) eine Trias US-amerikanischer Zeichner, die für Generationen von internationalen Comickünstlern stilprägend ist, wobei kein Zweifel darüber besteht, dass Ware von den dreien der Innovativste und Manischste ist.
Was aber nun macht „Jimmy Corrigan“ zu so einem Wunderwerk? Anders als bei einem Roman, in den man sich erst einmal einlesen muss, um ihn zu beurteilen, ist Wares Kunst für jeden auf den ersten Blick ersichtlich. Wenn man das Buch aufschlägt, sticht sofort die Kolorierung ins Auge, und man versteht, warum sie Ware so wichtig ist: Jede Episode wird von einer bestimmten Farbe mit ihren diversen Abstufungen dominiert, in die behutsam Akzente, meistens in rot oder gelb, gesetzt sind. Die Wirkung ist verblüffend: Ohne die Motive oder die Geschichte zu kennen, überzeugen die Seiten allein schon durch ihre jeweilige Chromatik als abstraktes Bild. Ihr Aufbau ist dabei äußerst komplex: Häufig gibt ein großes Panel eine Außenansicht wieder, ein Haus oder ein Auto, während rundherum angeordnete kurze Sequenzen in minimalistischen Bewegungsabläufen Details zeigen, einen gähnenden Mann beispielsweise oder eine herumschwirrende Biene. Dabei hat Ware das Gesamtbild ebenso im Blick wie die Puzzlesteinchen, aus denen es sich zusammensetzt, was der Hauptgrund dafür ist, warum dieses Buch nicht als E-Book funktionieren würde. Die Landschaften und Figuren, die die Seiten bevölkern, erinnern wie auch bei Burns und Clowes an die klare Linie Hergés und wirken bei aller karikaturistischen Verzerrung stets realistisch. Allein schon visuell ist „Jimmy Corrigan“ also ein Genuss. Hier und da ist man versucht, eine Seite auszuschneiden und einzurahmen.
Die eigentliche Bedeutung von Wares Graphic Novel liegt aber nun darin, dass hier die brillanten Bilder nicht, wie so oft bei anderen Künstlern, eine am Ende recht dürftige Geschichte kaschieren; stattdessen weist „Jimmy Corrigan“ viele Merkmale einer „Great American Novel“ auf. Tatsächlich erschien der Comic in den USA nahezu gleichzeitig mit Jonathan Franzens Roman „Die Korrekturen“, was ein weiterer seltsamer Zufall ist. Denn auch bei Ware geht es um mehrere Generationen einer Familie, deren Wege sich auf einem Fest, in diesem Fall an Thanksgiving, kreuzen. Was so entsteht, ist sowohl das Psychogramm unterschiedlicher, typisch amerikanischer Charaktere, als auch das Abbild ihres Landes.
Das Buch beginnt im verschneiten Chicago Anfang der 1980er mit dem titelgebenden Antihelden, Jimmy Corrigan. In dem Ensemble aus Figuren, die im Lauf der folgenden Episoden vorgestellt werden, ist er letztlich die am wenigsten originelle, weil mit ihren Autismen ein wenig eindimensional geraten: 36 Jahre alt, aber vor der Zeit gealtert, sowie als 08/15-Bürokraft sozial isoliert und von der von ihm angehimmelten Kollegin verachtet; lediglich seine Mutter nervt ihn mit überfürsorglichen Anrufen aus dem Altenheim. Da wirbelt ein Brief Jimmys monotonen Alltag durcheinander: Sein Vater, den er nie kennengelernt hat, lädt ihn zu Thanksgiving ein, das Flugticket liegt bei. Also macht sich Jimmy nach Michigan auf und steht bald darauf, in einer typischen, streng symmetrisch angelegten Ware-Szene, seinem eigenen älteren Spiegelbild, seinem Erzeuger gegenüber, der nichts Besseres zu sagen hat als: „Und, wie war dein Flug?“ Corrigan sen. mag von seinem Aussehen und seinem tristen Leben her seinem Sohn ziemlich ähnlich sein; aber wo jener wegen seiner Neurosen nie einen Mucks herausbringt, überspielt der Vater seine Schwächen mit penetrantem Macho-Gehabe und schmieriger Anbiederung. Dass man nach und nach doch gewisse Sympathien für diesen Kotzbrocken hegt, liegt nicht so sehr an seinen ungelenken Wiedergutmachungsversuchen, sondern an seiner Adoptivtochter, die plötzlich auftaucht, als er nach einem Autounfall im Koma liegt: Amy ist jung, schwarz, redet, was sie gerade denkt und hat dabei das Herz am rechten Fleck. Man ahnt, dass Jimmys Vater wohl eigentlich ein netter Kerl ist, der sich aufopfernd um Amy gekümmert hat. Und auch Jimmy selbst, der von der Situation natürlich völlig überfordert ist, beginnt allmählich durch die lockere Art seiner Stiefschwester aufzutauen. Am Ende wird er zwar nach einer Katastrophe seine neue Familie Hals über Kopf verlassen, doch es besteht Hoffnung, dass er als ein anderer nach Chicago heimkehrt.
Parallel zu Jimmys Geschichte entspannt sich die seines Großvaters. Und hier kommt das Buch ganz zu sich: Nicht nur, weil das Chicago des späten 19. Jahrhunderts reich an Schauwerten ist, sondern weil der greise James Corrigan selbst Amy von seiner schrecklichen Kindheit erzählt und sich dabei zum ersten Mal so etwas wie Innerlichkeit einstellt. Der Neunjährige lebt als Halbwaise bei seinem tyrannischen Vater, der sehnsüchtig auf das Erbe seiner sterbenden Mutter wartet und sich als Handwerker in der neoklassizistischen Idealstadt „White City“ auf der anstehenden Weltausstellung verdingt: Hier also die triumphale Selbstfeier des modernen Menschen und seiner Errungenschaften, dort das traurige Schicksal des schüchternen James’, der in der Schule gehänselt wird und daheim, als der Vater dem schwarzen Hausmädchen kündigt, seine einzige Fürsprecherin verliert.
Das Buch hält indes am Ende einen Clou bereit, der die diversen miteinander verwobenen Lebensgeschichten in einem neuen Licht erscheinen lässt: In einem Diagramm sehen wir, dass Amy von eben jenem Hausmädchen abstammt, mit dem James’ Vater eine Affäre hatte. „Jimmy Corrigan“ ist damit nicht nur das Porträt einer kaputten Nation, sondern auch eine komplexe Studie zur Rassenproblematik der USA. Erst vor diesem Hintergrund begreift man die vielen subtilen, auffällig weiß konnotierten Leitmotive des Buches, von der „White City“ über den allerorts präsenten Schnee bis hin zum „White Trash“ der Familie Corrigan. Daneben offenbart die Graphic Novel eine fruchtbare Anzahl weiterer Tiefenschichten, die genug Stoff für zahlreiche Doktorarbeiten böten. Denn im Unterschied zu Franzen ist Ware sowohl ein realistischer als auch ein knallharter postmoderner Erzähler. Oft wird die Handlung unterbrochen, vor allem von Passagen, die sich erst a posteriori als Tagtraum herausstellen, sodass man sich über den Wirklichkeitsstatus des Erzählten nie ganz sicher sein kann, oder, wie es im Text in der gelungenen Übersetzung Tina Hohls und Heinrich Anders’ heißt: „Manche Erinnerungen bleiben so frisch wie im ersten Augenblick, während andere zu zerfallen scheinen und ihre Nachbarn mit einem giftigen Schimmel der Ungewissheit bestäuben.“ Dementsprechend ist auch die Leserichtung durch die kaleidoskopartigen Gesamtbilder auf den einzelnen Seiten nicht klar linear vorgegeben. Selbst nach der x-ten Lektüre wird man neue Aspekte entdecken.
Ein kleiner Wermutstropfen bleibt: Chris Ware ist kein One-Hit-Wonder. In dem im letzten Jahr erschienenem Großwerk „Building Stories“ führt er seine Chronik der amerikanischen Seele fort. Die Geschichte übertrifft sogar noch die Innovationskraft „Jimmy Corrigans“ und wird in sage und schreibe vierzehn verschiedenformatigen Büchern erzählt, die in einer Kiste geliefert werden. Dass „Building Stories“ je außerhalb der USA erscheinen wird, ist wegen des komplexen Letterings leider eher unwahrscheinlich. Vielleicht ist das der Preis, den Genies zu zahlen haben.
Chris Ware: Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt. Aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders und Tina Hohl. Reprodukt Verlag, Berlin 2013. 384 Seiten, 39 Euro.
Jede Episode wird von einer
bestimmten Farbe dominiert, in
die behutsam Akzente gesetzt sind
Der Comic ist auch eine Studie
zur Rassenproblematik
der USA – deshalb so viel Weiß
Ein Mann und seine Stadt: Jimmy Corrigan im verschneiten Chicago.
ABBILDUNG AUS DEM BESPROCHENEN BAND
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