Johann Gottlieb Fichte (19. Mai 1762 - 29. Januar 1814) gehört zu den interessantesten Figuren der deutschen Geistesgeschichte. Er beeindruckt durch die Kühnheit seiner Gedanken und die Wucht seines philosophischen Entwurfs. Die Welt ist für ihn kein statisches System, sondern dynamischer Ausdruck eines Handelns. Fichte versuchte, Gott und die Welt aus dem Bewusstsein als solchem zu verstehen. Fichte war jedoch nicht nur Philosoph. Er war auch ein politisch engagierter Schriftsteller und Redner. Theorie war ihm nicht genug. Er verstand sich selbst hauptsächlich als ein Mann der Praxis. Heinrich Heine schrieb über ihn: "Bei Kant hatten wir nur ein Buch zu betrachten. Hier aber kommt außer dem Buch ein Mann in Betrachtung; in diesem Mann sind Gedanke und Gesinnung eins, und in solch großartiger Einheit wirken sie auf die Mitwelt." Fichte erscheint vielen Zeitgenossen als ein Mann "aus einem Guss".
Manfred Kühn untersucht dieses Verhältnis von Gedanke und Buch, Gesinnung und Leben in seiner Fichte-Biographie. Auf den neuesten Quellen fußend, zeigt er, dass die großartige Einheit von Leben und Werk ein Mythos ist. Wie bei vielen seiner romantischen Zeitgenossen ist Fichtes Leben eher von Zerrissenheit, Spannungen und Unstimmigkeiten sowie von äußeren politischen Entwicklungen gekennzeichnet. So wird deutlich, wie eng Fichtes Größe und Verhängnis miteinander verbunden waren.
Manfred Kühn untersucht dieses Verhältnis von Gedanke und Buch, Gesinnung und Leben in seiner Fichte-Biographie. Auf den neuesten Quellen fußend, zeigt er, dass die großartige Einheit von Leben und Werk ein Mythos ist. Wie bei vielen seiner romantischen Zeitgenossen ist Fichtes Leben eher von Zerrissenheit, Spannungen und Unstimmigkeiten sowie von äußeren politischen Entwicklungen gekennzeichnet. So wird deutlich, wie eng Fichtes Größe und Verhängnis miteinander verbunden waren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2012Du kannst, wenn du sollst
Vor 250 Jahren wurde Johann Gottlieb Fichte geboren, einer der merkwürdigsten Philosophen überhaupt. Zwei Biographien stellen sich der unmöglichen Aufgabe, sein Leben und sein Werk zu erzählen.
Zu Geburts- oder Todestagen berühmter Menschen werden gerne Biographien geschrieben, die mit Vorurteilen, Missverständnissen und Fehlinterpretationen aufräumen, eine neue Seite am Jubilar entdecken wollen. Im Fall des deutschen Philosophen Johann Gottlieb Fichte, dessen 250. Geburtstag am 19. Mai dieses Jahres gefeiert wird, ist dieser Anspruch sehr gerechtfertigt: Nicht nur wurden Teile seines Denkens von Neufichteanismus und Nationalsozialisten instrumentalisiert, wurde Fichte, der Redner an die Deutsche Nation wider die napoleonische Besatzung, zu einem Vordenker nationalistischen Gedankenguts stilisiert.
Auch auf den ersten Blick weniger gravierende Vereinfachungen seiner Philosophie und seiner Biographie verstellen nach wie vor den Blick auf diesen Denker, der zusammen mit Schelling und Hegel das ausmacht, was man "Deutscher Idealismus" nennt und häufig in der Benennung auch schon musealisiert hat. Dabei ist Fichte - und dies erahnbar zu machen, ist ein Verdienst der Biographien von Wilhelm G. Jacobs und Manfred Kühn - ein merkwürdiger Denker, dessen Philosophie auf beinahe unheimliche Weise beseelt ist vom Wunsch, eine Totalität zu denken und dessen Konzepte sehr modern wirken (Wilhelm G. Jacobs: "Johann Gottlieb Fichte". Eine Biographie. Insel Verlag, Berlin 2012. 300 S., geb., 24,95 [Euro]; Manfred Kühn: "Johann Gottlieb Fichte". Ein deutscher Philosoph. C.H.Beck, 682 S., geb., 29,95 [Euro]).
Die Legendenbildung um Fichtes Leben, gegen die beide Biographen anschreiben, hing auch von den vielen Zufällen ab, von denen der Bildungsweg des Philosophen geprägt war und die zur Anekdotisierung verleiten: 1762 kommt Fichte als erster Sohn eines Bandwirkers im sächsischen Rammenau zur Welt; nach ihm werden noch acht Geschwister geboren. Als Neunjähriger kann er die Predigt des Dorfpfarrers vollständig, mit "Sinn, Verstand und Anteilnahme" rezitieren und ein Adliger, der Freiherr von Miltitz, ist so angetan, dass er den Jungen mit auf sein Schloss nimmt, um ihm eine seiner Begabung entsprechende Ausbildung zu sichern - es folgen die Stadtschule von Meißen und später Schulpforta.
Fichte studiert halbherzig Theologie an der Jenaer Universität, deren Rektor er später werden soll, hört aber auch Jura, hat vor allem in den Fremdsprachen erhebliche Defizite und bricht schließlich sein Studium ab. Er schlägt sich als Hauslehrer durch, gibt seine Stellen immer wieder auf, weil er sich mit den Familien verkracht. Fichte, das wird an vielen Stellen deutlich, war ein schwieriger, ein narzisstischer, hochfahrender und leicht kränkbarer Charakter. Man muss fast sagen: Er war ein grundunsympathischer Zeitgenosse, ein unfröhlicher Trinker, nie heiter, ständig hinter Röcken her, aber nicht gewinnend.
Lange Zeit dominiert in seinem Leben die Rhetorik, er war ein glänzender Prediger, was später noch an seinen Vorlesungen beobachtet wird. Als er jedoch im Alter von 28 Jahren Kants "Kritik der praktischen Vernunft" liest, hat er eine Art intellektuelles Erweckungserlebnis: War Fichte bisher Determinist, so ist ihm nun durch Kant die reine, willensbestimmende praktische Vernunft des Menschen bewiesen, und die Idee der Freiheit wird ihm zum Lebensthema. Seine ersten Erfolge hat er dabei erst, als er um die Dreißig ist; und auch wie diese sich einstellen, klingt, so schrieb es Jacobs in seiner Fichte-Monographie von 1984, "märchenhaft": Nach einigen ersten Begegnungen mit Kant schreibt der junge Mann selbst einen "Versuch der Kritik aller Offenbarung". Kant verhilft ihm zu einem Verleger, und in der Folge wird die religionsphilosophische Schrift Fichtes zunächst für ein Werk Kants gehalten. Fichte wird berühmt.
Wenig später entwickelt er die Wissenschaftslehre und sein Konzept von Ich und Nicht-Ich - Begriffe, auf die er oft schlagwortartig heruntergebrochen wird und die Goethe hin und wieder zu mildem Spott veranlassten. Der nannte Fichte, auf dessen Selbstbild anspielend, "das absolute Ich".
Aber wie radikal dieser subjektive Idealismus ist, wie neu! Fichtes Ich, von dem aus alles gedacht wird, ist kein individuelles Selbst. Es ist ein allesbegründendes, letztes Prinzip, es weiß sich unmittelbar und geht in seiner Selbstgewissheit der Trennung in Subjekt und Objekt voraus. Und somit auch der Frage danach, wie das Subjekt sich wissen kann, ohne sich immer weiter in Erkennendes und Erkanntes aufzuspalten. Das Ich ist vorgängig, und es "setzt" sich im Vollzug seines Wissens von den Gegenständen selber. In diesem Vollzug kann es dann auch zu einem Wissen davon gelangen, was "Nicht-Ich", also Objekt, anderes Subjekt, Welt ist. Ein allesbegründendes, vorgängiges Ich-Konzept, das aber keine Substanz ist, sondern "reine Tätigkeit", das muss man sich um 1794 einmal vorstellen. Das klingt wie ein metaphysischer Sartre der reinen Vernunft, und wenn Jacobs erläutert: "Da das Ich Subjekt und Objekt zugleich ist, kann niemand das Ich wissen, der es nicht ist", klingt schon fast Heideggers Jemeinigkeit an.
Man muss sich diese Einsichten aber erkämpfen, denn weder Jacobs' ruppig-wissenschaftlicher Stil noch Kühns etwas geschmeidigerer, mitunter jedoch auch sehr Fichte über Fichte belehrende Art vermögen zu transportieren, was Fichte für seine Zeitgenossen so interessant machte. So erfährt der Leser zwar einiges über Fichtes Korrespondenzen, etwa dass Fichtes erste Ausformulierung der grundlegenden Züge seiner Wissenschaftslehre aus seiner Tätigkeit als Literaturrezensent hervorgegangen ist: Er stieß auf eine Kritik Schulzes am Kantianer Reinhold, die ihn so in seinen philosophischen Grundannahmen erschütterte, dass er versuchte, eine eigene Lösung zu finden. Man vergisst immer wieder, dass die großen Systeme der Philosophie auf dem Nährboden der halben Zufallssaat von epochalen Konstellationen entstehen. Leider aber erfährt man von Jacobs weder etwas vom präexistenzialistischen Habitus des frühen Fichtes, noch von der begründungswütigen Philosophie vom Absoluten, mit einer von Religiosität durchzogenen Sprache und mit wenigen Zeitgenossen, die sein Denken wirklich mitdenken können. Fichtes Philosophie ist auch ein Ringen um Sprache.
Das Hauptproblem einer Biographie Fichtes liegt darin, dass sie sich entscheiden müsste, was sie sein will - Einführung in den aktuellen Forschungsstand zu Werk und Leben Fichtes oder plaudernde Biographie eines der Großen des 18. und 19. Jahrhunderts. Das kann und will Jacobs aber gar nicht leisten. Er legt die wichtigen großen Entwicklungen des fichteschen Denkens mit großer Nüchternheit dar und führt sie mit den Fakten seines Lebens zusammen, wobei er sich größtenteils auf Korrespondenzen, Gesamtausgabe und seine kritische Exegese der Biographie von Fichtes Sohn Immanuel Hermann stützt. Gleichzeitig aber schreibt er gegen die Tradition der Fehlinterpretation Fichtes und der Verklärung beziehungsweise Dämonisierung seines Charakters an. Dies tut er jedoch, ohne diese Tradition zu benennen, ohne beispielsweise auf Texte hinzuweisen, die Fichte als Antisemiten bezeichnen. Auch hätte Jacobs der aktuellen kritischen Auseinandersetzung mit seinem Philosophen wahrscheinlich besser zugearbeitet, wäre er ihm gegenüber kritischer gewesen: Beispielsweise wenn er, statt sich sechs Seiten lang über den Ablauf des Streits zwischen einem jüdischen und nichtjüdischen Studenten und Fichtes durchaus reflektierter Haltung als Rektor der Berliner Universität dazu zu äußern, Fichtes tatsächlichen Antisemitismus in seinem "Beitrag zu Berichtigung des Publikums über die Französische Revolution" ernst genommen und kontextualisiert hätte.
Kühn wiederum nimmt sich mehr Platz, erzählt ausführlich von Fichtes Leben vor seiner Selbstsetzung als Philosoph, koloriert den Kontext der Schul- und Universitätsgeschichte - Fichte liefen die Hörer nur so zu - ebenso aus wie die Zeitgenossenschaft der Klassiker und Romantiker. Doch auch er trifft dann eben auf eine philosophische Konstellation von Argumenten, die kompliziert zu nennen eine Untertreibung wäre. Was damals in den Bann der Frage zog, ob sich die ganze Welt aus dem "Ich" begründen lässt, bleibt ein Rätsel. "Der Mensch kann, was er soll; und wenn er sagt: ich kann nicht, so will er nicht" - Sprüche wie diese, enthalten sie nun die arme Substanz des Denkens Fichtes, oder war die Lebenseinstellung mit der Pflichtpeitsche und der intellektuellen Hybris nur der gewissermaßen private Antrieb für ein Denken, das darüber hinaus Bedeutung hat?
Jacobs ist unangefochten führender Kopf und Kenner der Fichte- und Schellingexegese; man kann ihm kaum vorwerfen, dass er seinen Kenntnisreichtum nicht anbiedernd durch psychologische Überwürfe oder anekdotische Einschübe zu verkaufen trachtet. Aber an manchen Stellen ist dies doch schade, weil die wohldosierten Bosheiten, die Fichte und seine Zeitgenossen in der deutschen Geisteslandschaft des anbrechenden 19. Jahrhunderts verteilten, so viel Anlass böten, ein wenig zu plaudern. Etwa, wenn Fichte brieflich bei einem Jenaer Professor über den ihn langsam überholenden Naturphilosophen Schelling lästert und dieser Brief dann in Jena herumgezeigt wird, bis er bei Schelling landet. Auch bleibt rätselhaft, wie Fichtes Frau, Marie Johanne, von der glühend Geliebten zur schlecht gekleideten Vogelscheuche werden konnte, über deren Geiz und Stillosigkeit ganz Jena lästert.
"Es ist nicht unsere Sache", schreibt Jacobs, "Fichte zu be- oder gar zu verurteilen; wir haben ihn zu verstehen, eben auch in seinen Ängsten und Schwächen. Er ist bei aller Größe ein Mensch wie alle." Nun das, einer wie alle, war er eben nicht. Bei Kühn erfährt man viel davon, muss dafür allerdings eine recht weite Strecke gehen.
HANNAH LÜHMANN
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Vor 250 Jahren wurde Johann Gottlieb Fichte geboren, einer der merkwürdigsten Philosophen überhaupt. Zwei Biographien stellen sich der unmöglichen Aufgabe, sein Leben und sein Werk zu erzählen.
Zu Geburts- oder Todestagen berühmter Menschen werden gerne Biographien geschrieben, die mit Vorurteilen, Missverständnissen und Fehlinterpretationen aufräumen, eine neue Seite am Jubilar entdecken wollen. Im Fall des deutschen Philosophen Johann Gottlieb Fichte, dessen 250. Geburtstag am 19. Mai dieses Jahres gefeiert wird, ist dieser Anspruch sehr gerechtfertigt: Nicht nur wurden Teile seines Denkens von Neufichteanismus und Nationalsozialisten instrumentalisiert, wurde Fichte, der Redner an die Deutsche Nation wider die napoleonische Besatzung, zu einem Vordenker nationalistischen Gedankenguts stilisiert.
Auch auf den ersten Blick weniger gravierende Vereinfachungen seiner Philosophie und seiner Biographie verstellen nach wie vor den Blick auf diesen Denker, der zusammen mit Schelling und Hegel das ausmacht, was man "Deutscher Idealismus" nennt und häufig in der Benennung auch schon musealisiert hat. Dabei ist Fichte - und dies erahnbar zu machen, ist ein Verdienst der Biographien von Wilhelm G. Jacobs und Manfred Kühn - ein merkwürdiger Denker, dessen Philosophie auf beinahe unheimliche Weise beseelt ist vom Wunsch, eine Totalität zu denken und dessen Konzepte sehr modern wirken (Wilhelm G. Jacobs: "Johann Gottlieb Fichte". Eine Biographie. Insel Verlag, Berlin 2012. 300 S., geb., 24,95 [Euro]; Manfred Kühn: "Johann Gottlieb Fichte". Ein deutscher Philosoph. C.H.Beck, 682 S., geb., 29,95 [Euro]).
Die Legendenbildung um Fichtes Leben, gegen die beide Biographen anschreiben, hing auch von den vielen Zufällen ab, von denen der Bildungsweg des Philosophen geprägt war und die zur Anekdotisierung verleiten: 1762 kommt Fichte als erster Sohn eines Bandwirkers im sächsischen Rammenau zur Welt; nach ihm werden noch acht Geschwister geboren. Als Neunjähriger kann er die Predigt des Dorfpfarrers vollständig, mit "Sinn, Verstand und Anteilnahme" rezitieren und ein Adliger, der Freiherr von Miltitz, ist so angetan, dass er den Jungen mit auf sein Schloss nimmt, um ihm eine seiner Begabung entsprechende Ausbildung zu sichern - es folgen die Stadtschule von Meißen und später Schulpforta.
Fichte studiert halbherzig Theologie an der Jenaer Universität, deren Rektor er später werden soll, hört aber auch Jura, hat vor allem in den Fremdsprachen erhebliche Defizite und bricht schließlich sein Studium ab. Er schlägt sich als Hauslehrer durch, gibt seine Stellen immer wieder auf, weil er sich mit den Familien verkracht. Fichte, das wird an vielen Stellen deutlich, war ein schwieriger, ein narzisstischer, hochfahrender und leicht kränkbarer Charakter. Man muss fast sagen: Er war ein grundunsympathischer Zeitgenosse, ein unfröhlicher Trinker, nie heiter, ständig hinter Röcken her, aber nicht gewinnend.
Lange Zeit dominiert in seinem Leben die Rhetorik, er war ein glänzender Prediger, was später noch an seinen Vorlesungen beobachtet wird. Als er jedoch im Alter von 28 Jahren Kants "Kritik der praktischen Vernunft" liest, hat er eine Art intellektuelles Erweckungserlebnis: War Fichte bisher Determinist, so ist ihm nun durch Kant die reine, willensbestimmende praktische Vernunft des Menschen bewiesen, und die Idee der Freiheit wird ihm zum Lebensthema. Seine ersten Erfolge hat er dabei erst, als er um die Dreißig ist; und auch wie diese sich einstellen, klingt, so schrieb es Jacobs in seiner Fichte-Monographie von 1984, "märchenhaft": Nach einigen ersten Begegnungen mit Kant schreibt der junge Mann selbst einen "Versuch der Kritik aller Offenbarung". Kant verhilft ihm zu einem Verleger, und in der Folge wird die religionsphilosophische Schrift Fichtes zunächst für ein Werk Kants gehalten. Fichte wird berühmt.
Wenig später entwickelt er die Wissenschaftslehre und sein Konzept von Ich und Nicht-Ich - Begriffe, auf die er oft schlagwortartig heruntergebrochen wird und die Goethe hin und wieder zu mildem Spott veranlassten. Der nannte Fichte, auf dessen Selbstbild anspielend, "das absolute Ich".
Aber wie radikal dieser subjektive Idealismus ist, wie neu! Fichtes Ich, von dem aus alles gedacht wird, ist kein individuelles Selbst. Es ist ein allesbegründendes, letztes Prinzip, es weiß sich unmittelbar und geht in seiner Selbstgewissheit der Trennung in Subjekt und Objekt voraus. Und somit auch der Frage danach, wie das Subjekt sich wissen kann, ohne sich immer weiter in Erkennendes und Erkanntes aufzuspalten. Das Ich ist vorgängig, und es "setzt" sich im Vollzug seines Wissens von den Gegenständen selber. In diesem Vollzug kann es dann auch zu einem Wissen davon gelangen, was "Nicht-Ich", also Objekt, anderes Subjekt, Welt ist. Ein allesbegründendes, vorgängiges Ich-Konzept, das aber keine Substanz ist, sondern "reine Tätigkeit", das muss man sich um 1794 einmal vorstellen. Das klingt wie ein metaphysischer Sartre der reinen Vernunft, und wenn Jacobs erläutert: "Da das Ich Subjekt und Objekt zugleich ist, kann niemand das Ich wissen, der es nicht ist", klingt schon fast Heideggers Jemeinigkeit an.
Man muss sich diese Einsichten aber erkämpfen, denn weder Jacobs' ruppig-wissenschaftlicher Stil noch Kühns etwas geschmeidigerer, mitunter jedoch auch sehr Fichte über Fichte belehrende Art vermögen zu transportieren, was Fichte für seine Zeitgenossen so interessant machte. So erfährt der Leser zwar einiges über Fichtes Korrespondenzen, etwa dass Fichtes erste Ausformulierung der grundlegenden Züge seiner Wissenschaftslehre aus seiner Tätigkeit als Literaturrezensent hervorgegangen ist: Er stieß auf eine Kritik Schulzes am Kantianer Reinhold, die ihn so in seinen philosophischen Grundannahmen erschütterte, dass er versuchte, eine eigene Lösung zu finden. Man vergisst immer wieder, dass die großen Systeme der Philosophie auf dem Nährboden der halben Zufallssaat von epochalen Konstellationen entstehen. Leider aber erfährt man von Jacobs weder etwas vom präexistenzialistischen Habitus des frühen Fichtes, noch von der begründungswütigen Philosophie vom Absoluten, mit einer von Religiosität durchzogenen Sprache und mit wenigen Zeitgenossen, die sein Denken wirklich mitdenken können. Fichtes Philosophie ist auch ein Ringen um Sprache.
Das Hauptproblem einer Biographie Fichtes liegt darin, dass sie sich entscheiden müsste, was sie sein will - Einführung in den aktuellen Forschungsstand zu Werk und Leben Fichtes oder plaudernde Biographie eines der Großen des 18. und 19. Jahrhunderts. Das kann und will Jacobs aber gar nicht leisten. Er legt die wichtigen großen Entwicklungen des fichteschen Denkens mit großer Nüchternheit dar und führt sie mit den Fakten seines Lebens zusammen, wobei er sich größtenteils auf Korrespondenzen, Gesamtausgabe und seine kritische Exegese der Biographie von Fichtes Sohn Immanuel Hermann stützt. Gleichzeitig aber schreibt er gegen die Tradition der Fehlinterpretation Fichtes und der Verklärung beziehungsweise Dämonisierung seines Charakters an. Dies tut er jedoch, ohne diese Tradition zu benennen, ohne beispielsweise auf Texte hinzuweisen, die Fichte als Antisemiten bezeichnen. Auch hätte Jacobs der aktuellen kritischen Auseinandersetzung mit seinem Philosophen wahrscheinlich besser zugearbeitet, wäre er ihm gegenüber kritischer gewesen: Beispielsweise wenn er, statt sich sechs Seiten lang über den Ablauf des Streits zwischen einem jüdischen und nichtjüdischen Studenten und Fichtes durchaus reflektierter Haltung als Rektor der Berliner Universität dazu zu äußern, Fichtes tatsächlichen Antisemitismus in seinem "Beitrag zu Berichtigung des Publikums über die Französische Revolution" ernst genommen und kontextualisiert hätte.
Kühn wiederum nimmt sich mehr Platz, erzählt ausführlich von Fichtes Leben vor seiner Selbstsetzung als Philosoph, koloriert den Kontext der Schul- und Universitätsgeschichte - Fichte liefen die Hörer nur so zu - ebenso aus wie die Zeitgenossenschaft der Klassiker und Romantiker. Doch auch er trifft dann eben auf eine philosophische Konstellation von Argumenten, die kompliziert zu nennen eine Untertreibung wäre. Was damals in den Bann der Frage zog, ob sich die ganze Welt aus dem "Ich" begründen lässt, bleibt ein Rätsel. "Der Mensch kann, was er soll; und wenn er sagt: ich kann nicht, so will er nicht" - Sprüche wie diese, enthalten sie nun die arme Substanz des Denkens Fichtes, oder war die Lebenseinstellung mit der Pflichtpeitsche und der intellektuellen Hybris nur der gewissermaßen private Antrieb für ein Denken, das darüber hinaus Bedeutung hat?
Jacobs ist unangefochten führender Kopf und Kenner der Fichte- und Schellingexegese; man kann ihm kaum vorwerfen, dass er seinen Kenntnisreichtum nicht anbiedernd durch psychologische Überwürfe oder anekdotische Einschübe zu verkaufen trachtet. Aber an manchen Stellen ist dies doch schade, weil die wohldosierten Bosheiten, die Fichte und seine Zeitgenossen in der deutschen Geisteslandschaft des anbrechenden 19. Jahrhunderts verteilten, so viel Anlass böten, ein wenig zu plaudern. Etwa, wenn Fichte brieflich bei einem Jenaer Professor über den ihn langsam überholenden Naturphilosophen Schelling lästert und dieser Brief dann in Jena herumgezeigt wird, bis er bei Schelling landet. Auch bleibt rätselhaft, wie Fichtes Frau, Marie Johanne, von der glühend Geliebten zur schlecht gekleideten Vogelscheuche werden konnte, über deren Geiz und Stillosigkeit ganz Jena lästert.
"Es ist nicht unsere Sache", schreibt Jacobs, "Fichte zu be- oder gar zu verurteilen; wir haben ihn zu verstehen, eben auch in seinen Ängsten und Schwächen. Er ist bei aller Größe ein Mensch wie alle." Nun das, einer wie alle, war er eben nicht. Bei Kühn erfährt man viel davon, muss dafür allerdings eine recht weite Strecke gehen.
HANNAH LÜHMANN
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Einen zwiespältigen Eindruck hat Manfred Kühns umfangreiche Biographie Fichtes bei Rezensent Uwe Justus Wenzel hinterlassen. Ihm ist nicht ganz klar, was den Autor eigentlich an dem Philosophen fasziniert. Nicht nur, dass Kühn Fichte nicht gegen die Vorwürfe der Zeitgenossen in Schutz nimmt, er attestiert ihm auch selber eine Art Größenwahn, erklärt der Rezensent. Fichtes philosophiegeschichtliche Bedeutung scheine Kühn gering, er charakterisiere ihn vor allem als Übergangsfigur. Dass Kühn immer wieder den Kopf schüttelt über Fichte und den Zeigefinger erhebt, missfällt Wenzel. Doch aller Rechthaberei zum Trotz hält der Rezensent das detaillierte und profunde, wenn auch manchmal langatmige Werk auf jeden Fall für "lesenswert".
© Perlentaucher Medien GmbH
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