Ein kaleidoskopisches Porträt, eine Montage aus zurückhaltend kommentierten Merckschen und zeitgenössischen Schriften, Briefen und Dokumenten - der Freund und Mentor des jungen Goethe, der gefragte Mitarbeiter von Wielands "Merkur", der Autor, Kunsttheoretiker und Cicerone von Herzogin Anna Amalia.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Keine Biografie im Sinne einer durchgehenden Lebenserzählung, sondern eine "biografische Collage", die "Zitat und Kommentar zum Lebenskommentar verknüpft", findet Rezensent Friedrich Diekmann in Walter Schüblers Porträt von Johann Heinrich Merck (1741-1791), einem der einflussreichsten Kritiker seiner Zeit. Mit dieser offenen Form möchte Schübler den Leser zur eigenen Deutung, zum Weiterlesen, Weiterforschen anregen, weiß Diekmann. Wie der Rezensent ausführt, gruppiert Schübler sein Material in sechsunddreißig Abschnitten, die besondere Aspekte von Leben und Werk Mercks entfalten - beispielsweise Mercks Kritikertätigkeit beim "Teutschen Merkur" oder seine intensive Freundschaft mit Goethe. Da Schübler Merk aus dem "Goethe-Bann" lösen möchte, kommt diese wichtige Freundschaft mit Goethe bei ihm etwas zu kurz, bedauert der Rezensent. Dafür treten zur Freude Diekmanns andere Lebensmomente, etwa Mercks Verhältnis zu literarischen Mitstreitern wie Wieland, Nicolai, Lichtenberg und Claudius um so deutlicher hervor. Insgesamt biete Schüblers Arbeit eine "Fundgrube nach vielen Seiten", die zwar eine Biografie nicht ersetze, aber auf "formal eigenständige Weise" vertrete.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2002Die Leiden des alten M.
Kriegsrat und Kritiker: Walter Schüblers Merck-Collage
An eine Merck-Biographie hat sich seit den Arbeiten von Helmut Prang (1949) und dem jungen Kurt Wolff (1909) niemand mehr gewagt, auch der Merck-Forscher nicht, der am meisten dazu berufen gewesen wäre: Hermann Bräuning-Oktavio, der zwischen 1910 und 1972 dreizehn Einzelstudien zu Leben und Werk des Darmstädter Schriftstellers veröffentlicht hat. Auch Walter Schübler vermeidet die durchgehende Lebenserzählung; was er vorlegt, ist eine biographische Collage, die Zitat und Kommentar zum Lebenskaleidoskop verknüpft - eine offene Form, die, statt das Material der Existenz episch auszubreiten, eine Fülle von Momentaufnahmen auf den chronologischen Faden heftet.
Schübler muß auswählen und arrangieren; so kommt das subjektive Moment, das die Dokumentarcollage scheinbar hintanhält, hinterrücks wieder hinein; es wird gemildert dadurch, daß der Anschein der Vollständigkeit gar nicht erst erweckt wird. Das Pasticcio - so nennt Schübler selbst das Verfahren - soll den Leser nicht nur zur eigenen Deutung, sondern auch zum Weitergraben, Weiterforschen ermuntern; tut er es, so wird er sich bald inmitten einschlägiger Werke finden, von "Dichtung und Wahrheit" und Eisslers großartiger Goethe-Psychographie (in beiden kommt Merck wesentlich vor) bis zu den beiden Merck-Sammlungen, die 1968 im Frankfurter Insel Verlag erschienen, ein Brief- und ein Schriftenband, die überarbeitender Erneuerung seit langem bedürfen.
Schübler gruppiert sein Material in sechsunddreißig mit Kurzzitaten überschriebenen Abschnitten, die besondere Werk- und Lebensaspekte entfalten, sei es die Redaktionsarbeit des Dreißigjährigen für die "Frankfurter gelehrten Anzeigen", das der Zensur ein Jahr lang trotzende rezensorische Zentralorgan des Sturm und Drang, oder dessen spätere Arbeit für Wielands "Teutschen Merkur". Sie war gewiß das fruchtbarste der Bande, die den Darmstädter Kriegsrat mit dem neuen Ilm-Athen verknüpften; die andern führten zu Anna Amalia, der Herzoginmutter und zu dem Herzog selbst, Carl August, für den Merck gelegentlich auch als Kunstagent tätig wurde. Mit allen dreien unterhielt er über die Jahre hin ein intensives Briefverhältnis, während das stärkste der Bande, die ihn auf Weimar bezogen, in allen Merck-Editionen stumm bleibt; es führte zu Goethe und war zu intensiv gewesen, um des Freundes Absonderung auf die Dauer hinnehmen zu können: Goethe nutzt sechs Jahre nach dem Tod des Freundes einen Frankfurt-Besuch, um alle erreichbaren Briefe des Mentors seiner Jugend zu verbrennen.
Mercks publizistische und administrative Laufbahn stehen kraß nebeneinander, und Schüblers Textauswahl macht beide kenntlich; auf der einen Seite steht der exzellente Kritiker mit seinem starken Einfluß auf die zeitgenössische deutsche Literatur, auf der andern der in die Enge eines Kleinfürstentums gebannte Finanzökonom, der 1768 die Stellung eines Kriegskassierers oder Kriegszahlmeisters gewinnt und ihr trotz angelegentlicher Versuche des Entrinnens verhaftet bleibt. Das politische und gesellschaftliche Elend, dem diese große Zeit der deutschen Literatur sich entringt, wird an seinem Schicksal unmittelbar deutlich, die Abhängigkeit von einer feudalabsolutistischen Rückständigkeit, aus deren Banden sich das erstarkende Bürgertum mit einer immensen Kulturanstrengung loszureißen sucht. Das Joch festgezurrter Verhältnisse heftet sich in Mercks Fall an einen Landgrafen, der sein Ländchen aus dem entlegenen Pirmasens regiert, wo der einstige Generalmajor Friedrichs II. einer ebenso phantastischen wie kostspieligen Soldatenspielerei frönt. Zu ihr gehört das unablässige Verfertigen von Militärmärschen, bei dem es der Landesherr im Laufe seines Lebens auf gezählte 92 176 bringt.
Ein von einem Tick besessener Despot als Herrscher über Hessen-Darmstadt? Es gehört zu den Verdiensten von Schüblers Buch, daß er auch die andere, aufklärerische Seite dieses Regenten ins Licht setzt, der bei seinem Regierungsantritt die Folter und die Parforcejagd abschafft, Bürgerliche zum höheren Staatsdienst zuläßt und der Intoleranz der lutherischen Orthodoxie entgegnet; was er über seinen eigenen Adel zu Papier bringt, ist radikaler als alles, was die junge Literatur drucken kann. Sein Sohn, der Erbprinz, hilft Merck 1788 aus der tiefen Patsche, in die diesen ein Neffe des Landgrafen bei der Gründung einer großen Spinnerei gestürzt hat, und greift ihm mit viertausend Gulden unter die Arme. Auch Carl August springt in die Bresche und bürgt für ein ebenso hohes Darlehen; binnen zweier Jahre kann Merck die Summe zurückzahlen.
Goethe ist der Vermittler der Weimarer Hilfe, und der Brief, in dem Merck ihn darum angeht, ist erschütternd durch den Grad der Selbstpreisgabe; Mercks "De profundis" geht so weit, den alten Freund mit Sie anzureden. Das ist der Tiefpunkt eines Verhältnisses, dessen fruchtbare, dabei nicht krisenfreie Zeit vor dem Weggang des Freundes aus Frankfurt liegt. Goethes Erinnerungen geben das lebendigste Bild von einer Beziehung, die 1772 anhebt und zu einer entscheidenden Ermutigung des um acht Jahre Jüngeren führt: Merck bringt den immer wieder zweifelnden jungen Rechtsanwalt dazu, seinen "Götz" drucken zu lassen, und bahnt ihm damit den Weg in die Öffentlichkeit. Wie enorm sein Einfluß auf den Jüngeren ist, zeigt sich, als dieser ihm eines Tages den gerade fertig gewordenen "Werther" vorliest und, als Merck reaktionslos bleibt, drauf und dran ist, das Skript zu vernichten. Später erfährt er, daß die Apathie des Hörers ein Akt des Selbstschutzes vor Problemen war, in die dieser sich zu dieser Zeit ganz unmittelbar verstrickt fand.
Diese Verhältnisse kommen zu kurz bei Schübler; sein Ziel ist, Merck aus dem Goethe-Bann auszulösen und einen Autor, von dem man heute vor allem deshalb noch weiß, weil Goethe ihn von Weimar aus in die Mephisto-Perspektive einrückte, als eine leidend-eigentümliche Gestalt kenntlich zu machen. So entgehen ihm die entscheidenden Krisen in beider Verhältnis, deren eine sich an den eifersüchtigen Versuch Mercks heftete, Goethe das Weimarer Hofleben samt "Iphigenie" und Frau von Stein zu verleiden, die andere an den unfreundschaftlichen Umgang, den Merck, inzwischen selbst mit Paläontologie befaßt, mit Goethes eminenter Entdeckung des Zwischenkieferknochens trieb, von der er als erster Kunde erhielt, ohne den erwarteten Gebrauch davon zu machen. Andere Lebensmomente treten bei Schübler um so deutlicher hervor, so das Verhältnis zu literarischen Mitstreitern und Weggenossen: Wieland, Nicolai, Lichtenberg, Claudius. Mit allen diesen ficht Merck, der Kritiker, für eine Literatur, die, so Goethe im Rückblick auf dessen Position, statt "das sogenannte Poetische zu suchen", "dem Wirklichen eine poetische Gestalt gibt", und macht sich Feinde im Lager der Schwärmer und Phantasten. "Am Ende", schreibt Wieland ihm 1776, "sind Sie doch der einzige im ganzen heiligen Römischen Reich, dessen Recensionen ein ehrlicher Kerl mit Freuden liest und immer, wenn er sich was zugut tun will, wieder liest, und bei jedem Wiederlesen mit neuem Vergnügen."
Merck, der kritische Kopf, gilt Goethe in Briefen, Erinnerungen, Gesprächen immer wieder als mephistophelisch, weil er ihn auf das Unhaltbare von Situationen hinweist, die das nach Goethes eigenem Bewußtsein sind. Goethes spätes Urteil ist getrübt, insofern er den Älteren immer als Überlegenen wahrgenommen und Merck zu lange an dieser Rolle festgehalten hatte. In Wahrheit ist dieser leidenschaftlicher Rezensent seiner eigenen und aller anderen Verhältnisse ein tief leidender Mann, den immer wieder depressive Krisen heimsuchen; familiäres Unglück (vier Kinder sterben ihm und seiner aus der französischen Schweiz stammenden Frau binnen weniger Jahre weg) und eine komplizierte Ehe tragen dazu bei. Zuletzt aber ist seine Misere die deutsche Misere, mit der alle seine Zeit- und Zunftgenossen ringen; der Hoffnungsstrahl aber, der den Fünfzigjährigen 1791 aus dem Himmel der Geschichte trifft, ist so jäh und durchdringend, daß er ihn nach Wochen der Euphorie vollends niederwirft. Mercks neuer Landesherr, Ludwig X. (unter Napoleon verwandelt er sich in Ludewig I.), schickt seinen welterfahrenen Kriegsrat im Januar 1791 nach Paris, um die Chancen der Gegenrevolution zu erkunden; Merck aber erblickt das Gegenteil: ein von dem Enthusiasmus der Freiheit durchdrungenes Volk, in das "der Dämon der Moral" gefahren ist. "Daß die Constituzion steht und unwandelbar stehen wird", ist das Fazit eines Reiseberichts, den Wieland als das Schreiben eines ungenannten Reisenden in seine Zeitschrift einrückt.
Durch Vermittlung Davids, des revolutionären Malers, wird Merck nach gründlicher Prüfung nicht nur Gast, sondern Mitglied des Jakobinerclubs - und kehrt im Februar in ein Kleinfürstentum zurück, dessen Regierung von alledem nichts hören will und wenige Monate später in den Sog eines von der französischen Adelsemigration betriebenen Interventionsplans gerät, dem sich der Sachwalter der Kriegskasse nicht entziehen kann. Der Zwiespalt, in den Merck zwischen Selbst- und Amtsverpflichtung gerät, ist ausweglos; mit aller Präzision schießt er sich am 27. Juni 1791 an seinem Darmstädter Schreibtisch eine Kugel ins Herz. Das Gutachten der Ärzte spricht von einem "heftigen Anfall der Melancholie".
Schübler gibt mit der Erwähnung des vorangegangenen Darmstädter Staatsbesuchs des Grafen Artois einen die Psychologie überschreitenden Fingerzeig. Die Krankheit, der Merck erliegt, ist eine politische Rückständigkeit, die Wieland in seinem Nachwort zu Mercks Paris-Bericht auf hundert Jahre beziffert - eine Schutzbehauptung, die es ziemlich genau trifft. Daß Schübler zwar Wielands Anmerkung, nicht aber dessen Nachwort anführt, zeugt von der Fuchtel der Beschränkung über dem Haupte des Collagisten; gleichwohl: sein "kaleidoskopisches Porträt" ist eine Fundgrube nach vielen Seiten. Es ersetzt die Biographie nicht, die es im Untertitel prätendiert, aber vertritt sie auf eine formal eigenständige Weise, an der die durch den ständigen Wechsel von Zitat und Kommentar herausgeforderte Typographie spezifischen Anteil hat. Da der Druck so gelungen ist, nimmt man es hin, daß es mit der Fadenheftung hapert; bei einer zweiten Auflage wird das besser gehen. Dann sollte ein Verlag, dem der Autor bescheinigt, "von merkantilen Erwägungen" abgesehen zu haben, dem Buch auch die Wiedergabe des großartigen Porträts beigeben, das der Darmstädter Hofmaler Strecker von Merck gefertigt hat.
FRIEDRICH DIECKMANN
Walter Schübler: "Johann Heinrich Merck (1741-1791)". Biographie. Verlag Hermann Böhlau, Weimar 2001. 436 S., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kriegsrat und Kritiker: Walter Schüblers Merck-Collage
An eine Merck-Biographie hat sich seit den Arbeiten von Helmut Prang (1949) und dem jungen Kurt Wolff (1909) niemand mehr gewagt, auch der Merck-Forscher nicht, der am meisten dazu berufen gewesen wäre: Hermann Bräuning-Oktavio, der zwischen 1910 und 1972 dreizehn Einzelstudien zu Leben und Werk des Darmstädter Schriftstellers veröffentlicht hat. Auch Walter Schübler vermeidet die durchgehende Lebenserzählung; was er vorlegt, ist eine biographische Collage, die Zitat und Kommentar zum Lebenskaleidoskop verknüpft - eine offene Form, die, statt das Material der Existenz episch auszubreiten, eine Fülle von Momentaufnahmen auf den chronologischen Faden heftet.
Schübler muß auswählen und arrangieren; so kommt das subjektive Moment, das die Dokumentarcollage scheinbar hintanhält, hinterrücks wieder hinein; es wird gemildert dadurch, daß der Anschein der Vollständigkeit gar nicht erst erweckt wird. Das Pasticcio - so nennt Schübler selbst das Verfahren - soll den Leser nicht nur zur eigenen Deutung, sondern auch zum Weitergraben, Weiterforschen ermuntern; tut er es, so wird er sich bald inmitten einschlägiger Werke finden, von "Dichtung und Wahrheit" und Eisslers großartiger Goethe-Psychographie (in beiden kommt Merck wesentlich vor) bis zu den beiden Merck-Sammlungen, die 1968 im Frankfurter Insel Verlag erschienen, ein Brief- und ein Schriftenband, die überarbeitender Erneuerung seit langem bedürfen.
Schübler gruppiert sein Material in sechsunddreißig mit Kurzzitaten überschriebenen Abschnitten, die besondere Werk- und Lebensaspekte entfalten, sei es die Redaktionsarbeit des Dreißigjährigen für die "Frankfurter gelehrten Anzeigen", das der Zensur ein Jahr lang trotzende rezensorische Zentralorgan des Sturm und Drang, oder dessen spätere Arbeit für Wielands "Teutschen Merkur". Sie war gewiß das fruchtbarste der Bande, die den Darmstädter Kriegsrat mit dem neuen Ilm-Athen verknüpften; die andern führten zu Anna Amalia, der Herzoginmutter und zu dem Herzog selbst, Carl August, für den Merck gelegentlich auch als Kunstagent tätig wurde. Mit allen dreien unterhielt er über die Jahre hin ein intensives Briefverhältnis, während das stärkste der Bande, die ihn auf Weimar bezogen, in allen Merck-Editionen stumm bleibt; es führte zu Goethe und war zu intensiv gewesen, um des Freundes Absonderung auf die Dauer hinnehmen zu können: Goethe nutzt sechs Jahre nach dem Tod des Freundes einen Frankfurt-Besuch, um alle erreichbaren Briefe des Mentors seiner Jugend zu verbrennen.
Mercks publizistische und administrative Laufbahn stehen kraß nebeneinander, und Schüblers Textauswahl macht beide kenntlich; auf der einen Seite steht der exzellente Kritiker mit seinem starken Einfluß auf die zeitgenössische deutsche Literatur, auf der andern der in die Enge eines Kleinfürstentums gebannte Finanzökonom, der 1768 die Stellung eines Kriegskassierers oder Kriegszahlmeisters gewinnt und ihr trotz angelegentlicher Versuche des Entrinnens verhaftet bleibt. Das politische und gesellschaftliche Elend, dem diese große Zeit der deutschen Literatur sich entringt, wird an seinem Schicksal unmittelbar deutlich, die Abhängigkeit von einer feudalabsolutistischen Rückständigkeit, aus deren Banden sich das erstarkende Bürgertum mit einer immensen Kulturanstrengung loszureißen sucht. Das Joch festgezurrter Verhältnisse heftet sich in Mercks Fall an einen Landgrafen, der sein Ländchen aus dem entlegenen Pirmasens regiert, wo der einstige Generalmajor Friedrichs II. einer ebenso phantastischen wie kostspieligen Soldatenspielerei frönt. Zu ihr gehört das unablässige Verfertigen von Militärmärschen, bei dem es der Landesherr im Laufe seines Lebens auf gezählte 92 176 bringt.
Ein von einem Tick besessener Despot als Herrscher über Hessen-Darmstadt? Es gehört zu den Verdiensten von Schüblers Buch, daß er auch die andere, aufklärerische Seite dieses Regenten ins Licht setzt, der bei seinem Regierungsantritt die Folter und die Parforcejagd abschafft, Bürgerliche zum höheren Staatsdienst zuläßt und der Intoleranz der lutherischen Orthodoxie entgegnet; was er über seinen eigenen Adel zu Papier bringt, ist radikaler als alles, was die junge Literatur drucken kann. Sein Sohn, der Erbprinz, hilft Merck 1788 aus der tiefen Patsche, in die diesen ein Neffe des Landgrafen bei der Gründung einer großen Spinnerei gestürzt hat, und greift ihm mit viertausend Gulden unter die Arme. Auch Carl August springt in die Bresche und bürgt für ein ebenso hohes Darlehen; binnen zweier Jahre kann Merck die Summe zurückzahlen.
Goethe ist der Vermittler der Weimarer Hilfe, und der Brief, in dem Merck ihn darum angeht, ist erschütternd durch den Grad der Selbstpreisgabe; Mercks "De profundis" geht so weit, den alten Freund mit Sie anzureden. Das ist der Tiefpunkt eines Verhältnisses, dessen fruchtbare, dabei nicht krisenfreie Zeit vor dem Weggang des Freundes aus Frankfurt liegt. Goethes Erinnerungen geben das lebendigste Bild von einer Beziehung, die 1772 anhebt und zu einer entscheidenden Ermutigung des um acht Jahre Jüngeren führt: Merck bringt den immer wieder zweifelnden jungen Rechtsanwalt dazu, seinen "Götz" drucken zu lassen, und bahnt ihm damit den Weg in die Öffentlichkeit. Wie enorm sein Einfluß auf den Jüngeren ist, zeigt sich, als dieser ihm eines Tages den gerade fertig gewordenen "Werther" vorliest und, als Merck reaktionslos bleibt, drauf und dran ist, das Skript zu vernichten. Später erfährt er, daß die Apathie des Hörers ein Akt des Selbstschutzes vor Problemen war, in die dieser sich zu dieser Zeit ganz unmittelbar verstrickt fand.
Diese Verhältnisse kommen zu kurz bei Schübler; sein Ziel ist, Merck aus dem Goethe-Bann auszulösen und einen Autor, von dem man heute vor allem deshalb noch weiß, weil Goethe ihn von Weimar aus in die Mephisto-Perspektive einrückte, als eine leidend-eigentümliche Gestalt kenntlich zu machen. So entgehen ihm die entscheidenden Krisen in beider Verhältnis, deren eine sich an den eifersüchtigen Versuch Mercks heftete, Goethe das Weimarer Hofleben samt "Iphigenie" und Frau von Stein zu verleiden, die andere an den unfreundschaftlichen Umgang, den Merck, inzwischen selbst mit Paläontologie befaßt, mit Goethes eminenter Entdeckung des Zwischenkieferknochens trieb, von der er als erster Kunde erhielt, ohne den erwarteten Gebrauch davon zu machen. Andere Lebensmomente treten bei Schübler um so deutlicher hervor, so das Verhältnis zu literarischen Mitstreitern und Weggenossen: Wieland, Nicolai, Lichtenberg, Claudius. Mit allen diesen ficht Merck, der Kritiker, für eine Literatur, die, so Goethe im Rückblick auf dessen Position, statt "das sogenannte Poetische zu suchen", "dem Wirklichen eine poetische Gestalt gibt", und macht sich Feinde im Lager der Schwärmer und Phantasten. "Am Ende", schreibt Wieland ihm 1776, "sind Sie doch der einzige im ganzen heiligen Römischen Reich, dessen Recensionen ein ehrlicher Kerl mit Freuden liest und immer, wenn er sich was zugut tun will, wieder liest, und bei jedem Wiederlesen mit neuem Vergnügen."
Merck, der kritische Kopf, gilt Goethe in Briefen, Erinnerungen, Gesprächen immer wieder als mephistophelisch, weil er ihn auf das Unhaltbare von Situationen hinweist, die das nach Goethes eigenem Bewußtsein sind. Goethes spätes Urteil ist getrübt, insofern er den Älteren immer als Überlegenen wahrgenommen und Merck zu lange an dieser Rolle festgehalten hatte. In Wahrheit ist dieser leidenschaftlicher Rezensent seiner eigenen und aller anderen Verhältnisse ein tief leidender Mann, den immer wieder depressive Krisen heimsuchen; familiäres Unglück (vier Kinder sterben ihm und seiner aus der französischen Schweiz stammenden Frau binnen weniger Jahre weg) und eine komplizierte Ehe tragen dazu bei. Zuletzt aber ist seine Misere die deutsche Misere, mit der alle seine Zeit- und Zunftgenossen ringen; der Hoffnungsstrahl aber, der den Fünfzigjährigen 1791 aus dem Himmel der Geschichte trifft, ist so jäh und durchdringend, daß er ihn nach Wochen der Euphorie vollends niederwirft. Mercks neuer Landesherr, Ludwig X. (unter Napoleon verwandelt er sich in Ludewig I.), schickt seinen welterfahrenen Kriegsrat im Januar 1791 nach Paris, um die Chancen der Gegenrevolution zu erkunden; Merck aber erblickt das Gegenteil: ein von dem Enthusiasmus der Freiheit durchdrungenes Volk, in das "der Dämon der Moral" gefahren ist. "Daß die Constituzion steht und unwandelbar stehen wird", ist das Fazit eines Reiseberichts, den Wieland als das Schreiben eines ungenannten Reisenden in seine Zeitschrift einrückt.
Durch Vermittlung Davids, des revolutionären Malers, wird Merck nach gründlicher Prüfung nicht nur Gast, sondern Mitglied des Jakobinerclubs - und kehrt im Februar in ein Kleinfürstentum zurück, dessen Regierung von alledem nichts hören will und wenige Monate später in den Sog eines von der französischen Adelsemigration betriebenen Interventionsplans gerät, dem sich der Sachwalter der Kriegskasse nicht entziehen kann. Der Zwiespalt, in den Merck zwischen Selbst- und Amtsverpflichtung gerät, ist ausweglos; mit aller Präzision schießt er sich am 27. Juni 1791 an seinem Darmstädter Schreibtisch eine Kugel ins Herz. Das Gutachten der Ärzte spricht von einem "heftigen Anfall der Melancholie".
Schübler gibt mit der Erwähnung des vorangegangenen Darmstädter Staatsbesuchs des Grafen Artois einen die Psychologie überschreitenden Fingerzeig. Die Krankheit, der Merck erliegt, ist eine politische Rückständigkeit, die Wieland in seinem Nachwort zu Mercks Paris-Bericht auf hundert Jahre beziffert - eine Schutzbehauptung, die es ziemlich genau trifft. Daß Schübler zwar Wielands Anmerkung, nicht aber dessen Nachwort anführt, zeugt von der Fuchtel der Beschränkung über dem Haupte des Collagisten; gleichwohl: sein "kaleidoskopisches Porträt" ist eine Fundgrube nach vielen Seiten. Es ersetzt die Biographie nicht, die es im Untertitel prätendiert, aber vertritt sie auf eine formal eigenständige Weise, an der die durch den ständigen Wechsel von Zitat und Kommentar herausgeforderte Typographie spezifischen Anteil hat. Da der Druck so gelungen ist, nimmt man es hin, daß es mit der Fadenheftung hapert; bei einer zweiten Auflage wird das besser gehen. Dann sollte ein Verlag, dem der Autor bescheinigt, "von merkantilen Erwägungen" abgesehen zu haben, dem Buch auch die Wiedergabe des großartigen Porträts beigeben, das der Darmstädter Hofmaler Strecker von Merck gefertigt hat.
FRIEDRICH DIECKMANN
Walter Schübler: "Johann Heinrich Merck (1741-1791)". Biographie. Verlag Hermann Böhlau, Weimar 2001. 436 S., geb., 29,90 [Euro].
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