In seinen ersten Leipziger Amtsjahren komponierte Johann Sebastian Bach fast wöchentlich eine neue Kantate. Auf diese Weise entstand ein Werkfundus, auf den Bach in den folgenden Jahren zurückgreifen konnte. Denn der Komponist hatte jeden Sonntag eine Kantate aufzuführen und konnte diese Anforderung nur erfüllen, indem er seine früheren bewährten Werke erneut verwendete und sie zugleich veränderte oder erweiterte. Das gilt in gleichem Maß für Bachs Johannes- und Matthäus-Passion, die ebenfalls in mehreren Fassungen erhalten sind. - Um Bachs Verfahren verständlich zu machen, benutzt Friedhelm Krummacher in seinem Buch einen neuen Ansatz: Er verbindet die chronologische Folge der Werke mit ihrer systematischen Gruppierung nach Besetzungen und Satzarten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2018Bachs
Hauptwerk
Ein erstaunliches Buch
über die Geschichte der Kantaten
Johann Sebastian Bachs Kantatenwerk einschließlich der Passionen gehört zum Kerngeschäft der Musikwissenschaft, beschäftigt viele praktische Musiker, aber auch Laien und kundige Musikliebhaber. Die Qualität der mehr als 200 Kirchenwerke, die für jeden Sonntagsgottesdiens neu komponiert werden mussten und wiederum aus mehreren Einzelstücken bestehen – Chorälen, Arien, Rezitativen – steht außer Zweifel. Einige Fachleute halten die Kantaten nicht nur in quantitativer Hinsicht für das Hauptwerk Bachs, sondern sehen in der Vielfalt der Kompositionstechniken gerade auch im Frühwerk einen Höhepunkt seines Schaffens. Albert Schweitzer schrieb in seiner legendären Bach-Biografie gar, man würde gerne „die zweihundert Kirchenkantaten für hundert in der Art“ der frühen Werke opfern. Bach habe seine Kreativität einem Schematismus geopfert, der den „künstlerischen Reichtum“ der frühen Kantaten nicht mehr möglich macht.
Vielleicht war es das Staunen und Grübeln über solcherlei Standpunkte, die den Musikwissenschaftler Friedhelm Krummacher veranlasste, Bachs Kantatenwerk noch einmal gründlich zu durchforsten, die wichtigste Literatur dazu einzusehen, die Stücke in Einzelanalysen exemplarisch zu beschreiben, alle Kantaten schließlich in dieser Art und mit sämtlichen Eckdaten versehen chronologisch zusammenzustellen und in zwei nicht allzu dicken, handlichen Bänden herauszugeben. Die eignen sich gleichermaßen als Nachschlagewerk wie als Erklärungshilfe für alle möglichen Fragen an das einzelne Stück. Zu welchem Anlass wurde es komponiert, was sind die Gründe für die spezielle Instrumentation, wo hat Bach altes Material wiederverwendet, von Kollegen übernommen, wie hat er im Detail gearbeitet undsofort.
Auch Echtheitsfragen werden diskutiert, und die Werkanalysen sind auf der Höhe der Forschung. Was dabei angenehm überrascht, ist die gute, flüssige Lesbarkeit des Sachtextes. Krummacher, 1936 in Berlin geboren, war nicht nur Gründungsdekan der Philosophischen Fakultät an der Humboldt-Universität, sondern ist auch einer der führenden deutschen Musikwissenschaftler. Dass er sich noch einmal zu solch einer Großtat aufraffte, ist weit mehr als ehrenwert. Es ist eine Bereicherung für jeden, der sich für Bach interessiert. Und sei es nur für das Weihnachtsoratorium oder die Matthäuspassion. Es gibt wenige Werke, die derart exemplarisch für eine europäische Hochkultur stehen, die, um zu wirken und weiterzuleben, nicht nur ein offenes Ohr voraussetzt, sondern auch ein Interesse an den Fragen, woher diese Werke kommen, warum sie da sind, wie das alles geschehen konnte. Selbst wenn man das nicht ganz so genau wissen will, wie Krummacher das ausführt, so macht es doch ein gutes Gefühl, zu wissen, wo man nachschlagen kann.
HELMUT MAURÓ
Friedhelm Krummacher: Johann Sebastian Bach. Die Kantaten und Passionen. Verlag Bärenreiter / Metzler, Kassel und Stuttgart 2018. 2 Bände, 959 Seiten, 198 Euro.
Nur wenige Werke stehen
derart exemplarisch
für eine europäische Hochkultur
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Hauptwerk
Ein erstaunliches Buch
über die Geschichte der Kantaten
Johann Sebastian Bachs Kantatenwerk einschließlich der Passionen gehört zum Kerngeschäft der Musikwissenschaft, beschäftigt viele praktische Musiker, aber auch Laien und kundige Musikliebhaber. Die Qualität der mehr als 200 Kirchenwerke, die für jeden Sonntagsgottesdiens neu komponiert werden mussten und wiederum aus mehreren Einzelstücken bestehen – Chorälen, Arien, Rezitativen – steht außer Zweifel. Einige Fachleute halten die Kantaten nicht nur in quantitativer Hinsicht für das Hauptwerk Bachs, sondern sehen in der Vielfalt der Kompositionstechniken gerade auch im Frühwerk einen Höhepunkt seines Schaffens. Albert Schweitzer schrieb in seiner legendären Bach-Biografie gar, man würde gerne „die zweihundert Kirchenkantaten für hundert in der Art“ der frühen Werke opfern. Bach habe seine Kreativität einem Schematismus geopfert, der den „künstlerischen Reichtum“ der frühen Kantaten nicht mehr möglich macht.
Vielleicht war es das Staunen und Grübeln über solcherlei Standpunkte, die den Musikwissenschaftler Friedhelm Krummacher veranlasste, Bachs Kantatenwerk noch einmal gründlich zu durchforsten, die wichtigste Literatur dazu einzusehen, die Stücke in Einzelanalysen exemplarisch zu beschreiben, alle Kantaten schließlich in dieser Art und mit sämtlichen Eckdaten versehen chronologisch zusammenzustellen und in zwei nicht allzu dicken, handlichen Bänden herauszugeben. Die eignen sich gleichermaßen als Nachschlagewerk wie als Erklärungshilfe für alle möglichen Fragen an das einzelne Stück. Zu welchem Anlass wurde es komponiert, was sind die Gründe für die spezielle Instrumentation, wo hat Bach altes Material wiederverwendet, von Kollegen übernommen, wie hat er im Detail gearbeitet undsofort.
Auch Echtheitsfragen werden diskutiert, und die Werkanalysen sind auf der Höhe der Forschung. Was dabei angenehm überrascht, ist die gute, flüssige Lesbarkeit des Sachtextes. Krummacher, 1936 in Berlin geboren, war nicht nur Gründungsdekan der Philosophischen Fakultät an der Humboldt-Universität, sondern ist auch einer der führenden deutschen Musikwissenschaftler. Dass er sich noch einmal zu solch einer Großtat aufraffte, ist weit mehr als ehrenwert. Es ist eine Bereicherung für jeden, der sich für Bach interessiert. Und sei es nur für das Weihnachtsoratorium oder die Matthäuspassion. Es gibt wenige Werke, die derart exemplarisch für eine europäische Hochkultur stehen, die, um zu wirken und weiterzuleben, nicht nur ein offenes Ohr voraussetzt, sondern auch ein Interesse an den Fragen, woher diese Werke kommen, warum sie da sind, wie das alles geschehen konnte. Selbst wenn man das nicht ganz so genau wissen will, wie Krummacher das ausführt, so macht es doch ein gutes Gefühl, zu wissen, wo man nachschlagen kann.
HELMUT MAURÓ
Friedhelm Krummacher: Johann Sebastian Bach. Die Kantaten und Passionen. Verlag Bärenreiter / Metzler, Kassel und Stuttgart 2018. 2 Bände, 959 Seiten, 198 Euro.
Nur wenige Werke stehen
derart exemplarisch
für eine europäische Hochkultur
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