Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.05.19981774
Goethe "Werthers Leiden"
Da haben wir ihn: den Hasenfuß, sagt Lichtenberg, und das sei das Beste an dem Buch, wo er sich endlich totschösse; da haben wir ihn, den berühmtesten Selbstmörder seit Ajax und Seneca; aber bei ihnen weiß man den Grund, bei Werther eigentlich nicht, und das ist es wohl, was ihn so schön macht, und daß man sich sagen kann: ach ja! Denn Lotte und Liebe bloß können es ja nicht gewesen sein, und bestimmt hätte sie ihn auch ganz gern ein bißchen mehr geküßt als nur dieses eine dumme Mal, wenn er seinerseits auch nur ein bißchen mehr von ihr begriffen haben würde, als was er von Klopstock wußte und der eignen Schwärmerei. Und daß ihn dann in der großen Stadt die weltlichen Leute, die er ja schon ein bißchen bezaubert, fallen und fahren lassen, hätte ihm ja auch eher zu denken als zu schießen geben können: aber er will eben einfach keine Erfahrungen machen, als die er haben kann, ohne die doch so schwankende winzige Plattform eines fühlenden Ichs inmitten einer, wie er denkt: bloß durchs fühlende Ich angeeigneten Welt verlassen zu müssen. Dann liest er Ossian, gefälschte Texte, gefälschte Riesengefühle aus gefälschten Nebeln, und nun ist alles zu spät, und er schießt, grundlos, denn so viele Gründe sind keiner mehr. Er mag die Welt nicht verstehn, oder nur auf seine Art, aber dann müßte er sie bezwingen will er ja nicht einmal Lotte, so sehr die ihn dafür ganz bestimmt bewundert und belohnt hätte. Es hat was Zauberhaftes, wenn einer kein Held sein will, schade nur um ihn, daß er dann auch nicht begreifen will, was an der Welt daran ist, daß sie Helden braucht. Und so reicht es dann nicht einmal zu einem Helden in einem ausgewachsenen Roman (Roman: das heißt, daß wir Erfahrungen machen, die nicht die eignen sind, und nicht bloß die des unerfahrenen Empfindens): weshalb denn auch, wenn er sich nicht selbst erschösse, es ein andrer hätte tun müssen, denn einfach so weitergeschrieben hätte Goethe das alles ganz sicher nicht. Eigentlich wäre Lotte die richtige dazu gewesen, denn wem sonst lag schon an Werther viel? Aber Lotte wollte tanzen, küssen, und dann Albert, und für Werther eine andre allenfalls. Und so blieb ihm nur er selbst, der liebe Arme, und er tats, und schoß. Goethe schrieb dann noch eine zweite Fassung, aber das Ding war nun einmal verloren, und wieder schoß sich Werther tot, und wenn Sie mal nach Wetzlar kommen, auf dem alten schönen Friedhof dort liegt nun auch Lotte. (Johann Wolfgang Goethe: "Die Leiden des jungen Werthers". Synoptischer Druck der beiden Fassungen von 1774 und 1787. Igel Verlag, Paderborn 1997. 211 S., br., 19,80 DM; 1. Fassung allein, mit Glossar und Daten zu Leben und Werk: dtv 1997, 6,- DM.) R.V.
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Goethe "Werthers Leiden"
Da haben wir ihn: den Hasenfuß, sagt Lichtenberg, und das sei das Beste an dem Buch, wo er sich endlich totschösse; da haben wir ihn, den berühmtesten Selbstmörder seit Ajax und Seneca; aber bei ihnen weiß man den Grund, bei Werther eigentlich nicht, und das ist es wohl, was ihn so schön macht, und daß man sich sagen kann: ach ja! Denn Lotte und Liebe bloß können es ja nicht gewesen sein, und bestimmt hätte sie ihn auch ganz gern ein bißchen mehr geküßt als nur dieses eine dumme Mal, wenn er seinerseits auch nur ein bißchen mehr von ihr begriffen haben würde, als was er von Klopstock wußte und der eignen Schwärmerei. Und daß ihn dann in der großen Stadt die weltlichen Leute, die er ja schon ein bißchen bezaubert, fallen und fahren lassen, hätte ihm ja auch eher zu denken als zu schießen geben können: aber er will eben einfach keine Erfahrungen machen, als die er haben kann, ohne die doch so schwankende winzige Plattform eines fühlenden Ichs inmitten einer, wie er denkt: bloß durchs fühlende Ich angeeigneten Welt verlassen zu müssen. Dann liest er Ossian, gefälschte Texte, gefälschte Riesengefühle aus gefälschten Nebeln, und nun ist alles zu spät, und er schießt, grundlos, denn so viele Gründe sind keiner mehr. Er mag die Welt nicht verstehn, oder nur auf seine Art, aber dann müßte er sie bezwingen will er ja nicht einmal Lotte, so sehr die ihn dafür ganz bestimmt bewundert und belohnt hätte. Es hat was Zauberhaftes, wenn einer kein Held sein will, schade nur um ihn, daß er dann auch nicht begreifen will, was an der Welt daran ist, daß sie Helden braucht. Und so reicht es dann nicht einmal zu einem Helden in einem ausgewachsenen Roman (Roman: das heißt, daß wir Erfahrungen machen, die nicht die eignen sind, und nicht bloß die des unerfahrenen Empfindens): weshalb denn auch, wenn er sich nicht selbst erschösse, es ein andrer hätte tun müssen, denn einfach so weitergeschrieben hätte Goethe das alles ganz sicher nicht. Eigentlich wäre Lotte die richtige dazu gewesen, denn wem sonst lag schon an Werther viel? Aber Lotte wollte tanzen, küssen, und dann Albert, und für Werther eine andre allenfalls. Und so blieb ihm nur er selbst, der liebe Arme, und er tats, und schoß. Goethe schrieb dann noch eine zweite Fassung, aber das Ding war nun einmal verloren, und wieder schoß sich Werther tot, und wenn Sie mal nach Wetzlar kommen, auf dem alten schönen Friedhof dort liegt nun auch Lotte. (Johann Wolfgang Goethe: "Die Leiden des jungen Werthers". Synoptischer Druck der beiden Fassungen von 1774 und 1787. Igel Verlag, Paderborn 1997. 211 S., br., 19,80 DM; 1. Fassung allein, mit Glossar und Daten zu Leben und Werk: dtv 1997, 6,- DM.) R.V.
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