Max Brods Biographie eines streitbaren humanistischen Gelehrten.Max Brod, eigentlich mehr Erzähler als Historiker, widmete sich intensiv der Lebensgeschichte Johannes Reuchlins (1455-1522), dem mutigen Verteidiger des Talmud, und fügte diese zu einem intellektuellen Panoptikum zusammen. »Vom Wunder wirkenden Wort« - dieser Titel von Johannes Reuchlins erstem Buch über die Kabbala kann als Motto über seinem ganzen Leben stehen, und dies in seiner vielfältigen Bedeutung. Als Richter des schwäbischen Bundes glaubte er an das Recht schaffende Wort, als Diplomat im Dienste des Grafen Eberhard schmiedete er mit Worten Allianzen. Doch waren es die geheimnisvollen hebräischen Wörter, die Reuchlin faszinierten. Als Verfasser einer Grammatik und Deuter ihrer Wundermacht mit dem Wissen der Kabbala, aber auch als katholischer Christ und Begründer der christlichen Kabbala war er Verteidiger und Missionar der Juden zugleich.Max Brod beleuchtet in seiner Biographie Leben und Werk des bedeutenden Humanisten. 1965, unter dem Eindruck der Shoah im Exil in Palästina geschrieben, zeugt dieses Buch dennoch von einer Liebe zur deutschen Sprache, der Hochachtung vor einem den Juden beistehenden Deutschen. Deutlicher wird zudem der Stolz auf die neue hebräische und staatliche Gegenwart.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.06.2022Deutschlands erster
Humanist
Johannes Reuchlin, vor 500 Jahren gestorben,
sprach sich für die Rechte der Juden aus und
begründete das Studium des Hebräischen.
Auch deshalb hat er es in der Vergangenheit
nicht zum Nationalhelden gebracht
VON JOHAN SCHLOEMANN
Die Wahrheit wird von der Erde aufsteigen und die Finsternis verscheuchen.“ Das schrieb Johannes Reuchlin, Diplomat, Spitzenjurist, Verfasser von Komödien und einer der großen Gelehrten Europas, kurz vor seinem Tod in einem Brief. Vor 500 Jahren, am 30. Juni des Jahres 1522, erlag er dann in Stuttgart dem Gelbfieber, im Alter von 67 Jahren.
Reuchlins Grab in der dortigen Leonhardskirche ist in den drei Sprachen beschriftet, deren Pflege der Mann mit Leidenschaft angestoßen hat: Latein, Griechisch und Hebräisch. Bei den beiden letztgenannten Sprachen war das eine Pioniertat, denn selbst die gebildeten Theologen hatten ihre Bibel im Mittelalter nur in der lateinischen Übersetzung des Heiligen Hieronymus studiert, nicht in den beiden Originalsprachen. Johannes Reuchlin sagte, er verehre zwar den Hieronymus, aber die Wahrheit sei im textkritischen Zweifelsfall nun mal göttlicher. Und so lernte er das Hebräische von jüdischen Gelehrten, etwa von Jakob ben Jechiel Loans, dem Leibarzt des Kaisers Friedrich III. So wurde Reuchlin zum Begründer der christlichen Judaistik. Das mit dem Licht der Wahrheit war allerdings so eine Sache in der Ära der Renaissance und der Religionsdispute. Welche Wahrheit denn? Und mit dem Siegeszug von neuen Medien, in diesem Fall des Buchdrucks, wurde damals beides zugleich in die Welt getragen: der Humanismus und die Hassrede.
Zwei Jahre vor seinem Tod, 1520, hatte der Vatikan in Rom es Reuchlin endgültig attestiert: Sein Plädoyer für die Bewahrung jüdischer Schriften sei ein „Ärgernis erregendes, unerlaubt judenfreundliches und daher frommen Christen anstößiges Buch“. Der Verfasser müsse in der Sache für immer schweigen sowie die Prozesskosten tragen. Weil auch ein gewisser Martin Luther in Deutschland gerade Ärger machte, wollte Rom nun Exempel statuieren und Grenzen der Toleranz aufzeigen.
Vorangegangen waren Anfang des Jahrhunderts antisemitische Hetzschriften eines Kölner Konvertiten, der die Vernichtung jüdischer Bücher gefordert und auch schon organisiert hatte – man nahm also den ohnehin schon drangsalierten jüdischen Gemeinden ihre heiligen Bücher weg. Neben anderen Gelehrten und Fakultäten wurde Reuchlin im Jahr 1510 vom Kaiser um ein Gutachten gebeten: „ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“. Er sprach sich als einziger gegen die Büchervernichtung aus.
Unter dem Titel „Augenspiegel“ – das Brillen-Symbol stand für Klarsicht – argumentierte Reuchlin dreifach. Erstens theologisch: Die jüdischen Auslegungsschriften seien Teil der Heilsgeschichte und somit auch zum Verständnis des Alten Testaments fürs Christentum wichtig. „Unser Apostel Paulus hat alle jüdische Weisheit erlernt und bei den Rabbinern studiert.“
Zweitens argumentierte Reuchlin rechtlich: Nach dem römischen Recht genössen die Juden Rechtsschutz als Bürger des Reiches, somit sei keine gewaltsame Mission erlaubt, es gelte für sie der Schutz des Eigentums und die Religionsfreiheit. Das dritte Argument war humanistisch: Im Sinne der „Wiederherstellung der Wissenschaften“ müssten Quellen bewahrt werden. Auch die heidnischen Schriften der Antike würde ja nicht vernichtet, auch wenn darin aus christlicher Sicht noch viel schlimmere Sachen stünden.
Das war eine mutige Position, eine Mindermeinung, die Reuchlin viel Ärger einbrachte. Man darf ihn deswegen zwar nicht zum engagierten Philosemiten machen: Als Christ sah er die Juden im Irrtum über den Messias, und er teilte zeittypische Vorurteile gegen sie. Das stellte auch der Zionist und Schriftsteller Max Brod, der Freund und Herausgeber Franz Kafkas, in seiner gründlichen Reuchlin-Biografie klar, die 1965 erschien und jetzt in der Brod-Werkausgabe neu herausgekommen ist. „Das Schicksal der Juden in Deutschland“, schreibt Brod, „stand damals auf des Messers Schneide.“ Und fügt sarkastisch hinzu: „Das stand es ja eigentlich fast immer.“
Aber Max Brod, dessen Bruder in Auschwitz ermordet wurde, erkennt auch an, Johannes Reuchlin habe anders als die meisten seiner Zeitgenossen „sehr viel dazugelernt“, was das Judentum angeht, und lobt „die besondere Milde und Rechtlichkeit des Reuchlinschen Charakters“. Ungewöhnlich war auch Reuchlins Neugier auf die jüdische Mystik: In seinem Trialog „De arte Cabbalistica“ (1517) spürte er der Verwandtschaft früher Geheimlehren nach – eine christliche Lesart der Kabbala, aber voller Respekt vor der Suche nach symbolisch versteckter göttlicher Offenbarung in allen Religionen. Ein Interesse, das Reuchlin mit dem Renaissancephilosophen Pico della Mirandola teilte, ihn hatte er in Florenz kennengelernt. Der deutsch-israelische Religionshistoriker Gershom Scholem würdigte diese Verdienste, als er 1969 in Deutschland den Reuchlin-Preis entgegennahm.
Dies waren nun aber Dinge, mit denen man in Deutschland kein Nationalheld werden konnte. „Er war eben in jeder Hinsicht ein Vermittler“, sagt Christoph Koch, der als Denkmalpfleger in Reuchlins Geburtsstadt Pforzheim das 2008 eröffnete Reuchlin-Museum aufgebaut hat und als „Reuchlinbeauftragter“ fungiert. Obwohl er die Bildungsrevolution, die den deutschen Protestantismus mit allen Folgen für die nationale Kultur groß machte, mit ermöglichte, ließ sich Reuchlin nicht recht in die heroische Luther-Story einfügen. Denn er schloss sich den Wittenberger Reformatoren nicht an, sondern blieb katholisch, obwohl er seinen Zögling und entfernten Verwandten Philipp Melanchthon, Luthers Mitstreiter, als ersten Gräzistikprofessor nach Wittenberg empfahl und ihm seinen griechischen Namen gab („Melanchthon“ für „Schwarzerdt“). Ein richtiger Märtyrer der Aufklärung wurde er in der Erinnerung aber auch nicht, weil er nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannte.
Zudem wurde Reuchlins Verteidigung der Juden, vorsichtig gesagt, in der nationalprotestantischen Rezeptionsgeschichte lange Zeit nicht besonders hervorgekehrt – ebenso sah man über Luthers antisemitische Spätschriften gerne hinweg, die zwanzig Jahre nach Reuchlins Tod erschienen. Reuchlins gelehrte Schriften und Hebräisch-Grammatiken wiederum blieben den meisten obskur, auch wenn er mit einer seiner ursprünglich lateinisch geschriebenen Komödien („Henno“) zeitweise Erfolge feierte.
Und heute? In Stuttgart gibt es im Gedenkjahr eine Reihe von Veranstaltungen, besonders aber hält Pforzheim das Erbe seines berühmtesten Sohnes lebendig. Phorcensis nannte sich Reuchlin, aus Pforzheim stammend. In der im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Stadt zwischen Stuttgart und Karlsruhe ist Reuchlins Geburtshaus nicht mehr genau lokalisierbar, aber als Anbau der Stiftskirche hat man an die Stelle der zerstörten Bibliothek geschickt das Reuchlin-Museum hineingebaut. Nebenan sind die Gräber der Markgrafen von Baden, deren Hof aber später nach Karlsruhe umzog. Zum 500. Todestag findet ein wissenschaftlicher Kongress statt; in einer Stadt mit hohem Migrationsanteil versucht man Reuchlin sonst eher weniger als Philologen, sondern als Anwalt von Mehrsprachigkeit, Neugier und Toleranz näher zu bringen. Im Schmuckmuseum – Pforzheim ist auf Feinmechanik spezialisiert – wird Reuchlins Faible für Redeschmuck gefeiert.
Und über allem schwebt ein Traum von der humanistischen Lebensform, die Johannes Reuchlin in einem Brief einmal so beschrieben hat: „dass alle göttlichen und menschlichen Dinge bei immer vollen Bechern bis in die späte Nacht hinein nach dem Vorbild des Aristoteles unparteiisch disputiert werden“.
Zum Märtyrer der Aufklärung
wurde er nie, weil er nicht auf
dem Scheiterhaufen landete
Johannes Reuchlin:
Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg. und übersetzt von Jan-Hendryk de Boer. Reclam, Ditzingen 2022. 173 S., 6,80 Euro.
Thomas Kaufmann:
Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte.
C.H. Beck, München 2022. 350 Seiten, 28 Euro.
Max Brod: Johannes Reuchlin und sein Kampf. Eine historische Monographie. Mit einem
Nachwort von Karl E. Grözinger. Wallstein, Göttingen 2022.
557 Seiten, 29,90 Euro.
Ein zeitgenössisches Porträt von Johannes Reuchlin (1455-1522) ist nicht erhalten, aber dieses Bildnis aus dem Lutherdenkmal in Worms wurde in seiner Geburtsstadt Pforzheim als Statue aufgestellt.
Foto: Klaus Kerth/Kulturamt Pforzheim
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Humanist
Johannes Reuchlin, vor 500 Jahren gestorben,
sprach sich für die Rechte der Juden aus und
begründete das Studium des Hebräischen.
Auch deshalb hat er es in der Vergangenheit
nicht zum Nationalhelden gebracht
VON JOHAN SCHLOEMANN
Die Wahrheit wird von der Erde aufsteigen und die Finsternis verscheuchen.“ Das schrieb Johannes Reuchlin, Diplomat, Spitzenjurist, Verfasser von Komödien und einer der großen Gelehrten Europas, kurz vor seinem Tod in einem Brief. Vor 500 Jahren, am 30. Juni des Jahres 1522, erlag er dann in Stuttgart dem Gelbfieber, im Alter von 67 Jahren.
Reuchlins Grab in der dortigen Leonhardskirche ist in den drei Sprachen beschriftet, deren Pflege der Mann mit Leidenschaft angestoßen hat: Latein, Griechisch und Hebräisch. Bei den beiden letztgenannten Sprachen war das eine Pioniertat, denn selbst die gebildeten Theologen hatten ihre Bibel im Mittelalter nur in der lateinischen Übersetzung des Heiligen Hieronymus studiert, nicht in den beiden Originalsprachen. Johannes Reuchlin sagte, er verehre zwar den Hieronymus, aber die Wahrheit sei im textkritischen Zweifelsfall nun mal göttlicher. Und so lernte er das Hebräische von jüdischen Gelehrten, etwa von Jakob ben Jechiel Loans, dem Leibarzt des Kaisers Friedrich III. So wurde Reuchlin zum Begründer der christlichen Judaistik. Das mit dem Licht der Wahrheit war allerdings so eine Sache in der Ära der Renaissance und der Religionsdispute. Welche Wahrheit denn? Und mit dem Siegeszug von neuen Medien, in diesem Fall des Buchdrucks, wurde damals beides zugleich in die Welt getragen: der Humanismus und die Hassrede.
Zwei Jahre vor seinem Tod, 1520, hatte der Vatikan in Rom es Reuchlin endgültig attestiert: Sein Plädoyer für die Bewahrung jüdischer Schriften sei ein „Ärgernis erregendes, unerlaubt judenfreundliches und daher frommen Christen anstößiges Buch“. Der Verfasser müsse in der Sache für immer schweigen sowie die Prozesskosten tragen. Weil auch ein gewisser Martin Luther in Deutschland gerade Ärger machte, wollte Rom nun Exempel statuieren und Grenzen der Toleranz aufzeigen.
Vorangegangen waren Anfang des Jahrhunderts antisemitische Hetzschriften eines Kölner Konvertiten, der die Vernichtung jüdischer Bücher gefordert und auch schon organisiert hatte – man nahm also den ohnehin schon drangsalierten jüdischen Gemeinden ihre heiligen Bücher weg. Neben anderen Gelehrten und Fakultäten wurde Reuchlin im Jahr 1510 vom Kaiser um ein Gutachten gebeten: „ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“. Er sprach sich als einziger gegen die Büchervernichtung aus.
Unter dem Titel „Augenspiegel“ – das Brillen-Symbol stand für Klarsicht – argumentierte Reuchlin dreifach. Erstens theologisch: Die jüdischen Auslegungsschriften seien Teil der Heilsgeschichte und somit auch zum Verständnis des Alten Testaments fürs Christentum wichtig. „Unser Apostel Paulus hat alle jüdische Weisheit erlernt und bei den Rabbinern studiert.“
Zweitens argumentierte Reuchlin rechtlich: Nach dem römischen Recht genössen die Juden Rechtsschutz als Bürger des Reiches, somit sei keine gewaltsame Mission erlaubt, es gelte für sie der Schutz des Eigentums und die Religionsfreiheit. Das dritte Argument war humanistisch: Im Sinne der „Wiederherstellung der Wissenschaften“ müssten Quellen bewahrt werden. Auch die heidnischen Schriften der Antike würde ja nicht vernichtet, auch wenn darin aus christlicher Sicht noch viel schlimmere Sachen stünden.
Das war eine mutige Position, eine Mindermeinung, die Reuchlin viel Ärger einbrachte. Man darf ihn deswegen zwar nicht zum engagierten Philosemiten machen: Als Christ sah er die Juden im Irrtum über den Messias, und er teilte zeittypische Vorurteile gegen sie. Das stellte auch der Zionist und Schriftsteller Max Brod, der Freund und Herausgeber Franz Kafkas, in seiner gründlichen Reuchlin-Biografie klar, die 1965 erschien und jetzt in der Brod-Werkausgabe neu herausgekommen ist. „Das Schicksal der Juden in Deutschland“, schreibt Brod, „stand damals auf des Messers Schneide.“ Und fügt sarkastisch hinzu: „Das stand es ja eigentlich fast immer.“
Aber Max Brod, dessen Bruder in Auschwitz ermordet wurde, erkennt auch an, Johannes Reuchlin habe anders als die meisten seiner Zeitgenossen „sehr viel dazugelernt“, was das Judentum angeht, und lobt „die besondere Milde und Rechtlichkeit des Reuchlinschen Charakters“. Ungewöhnlich war auch Reuchlins Neugier auf die jüdische Mystik: In seinem Trialog „De arte Cabbalistica“ (1517) spürte er der Verwandtschaft früher Geheimlehren nach – eine christliche Lesart der Kabbala, aber voller Respekt vor der Suche nach symbolisch versteckter göttlicher Offenbarung in allen Religionen. Ein Interesse, das Reuchlin mit dem Renaissancephilosophen Pico della Mirandola teilte, ihn hatte er in Florenz kennengelernt. Der deutsch-israelische Religionshistoriker Gershom Scholem würdigte diese Verdienste, als er 1969 in Deutschland den Reuchlin-Preis entgegennahm.
Dies waren nun aber Dinge, mit denen man in Deutschland kein Nationalheld werden konnte. „Er war eben in jeder Hinsicht ein Vermittler“, sagt Christoph Koch, der als Denkmalpfleger in Reuchlins Geburtsstadt Pforzheim das 2008 eröffnete Reuchlin-Museum aufgebaut hat und als „Reuchlinbeauftragter“ fungiert. Obwohl er die Bildungsrevolution, die den deutschen Protestantismus mit allen Folgen für die nationale Kultur groß machte, mit ermöglichte, ließ sich Reuchlin nicht recht in die heroische Luther-Story einfügen. Denn er schloss sich den Wittenberger Reformatoren nicht an, sondern blieb katholisch, obwohl er seinen Zögling und entfernten Verwandten Philipp Melanchthon, Luthers Mitstreiter, als ersten Gräzistikprofessor nach Wittenberg empfahl und ihm seinen griechischen Namen gab („Melanchthon“ für „Schwarzerdt“). Ein richtiger Märtyrer der Aufklärung wurde er in der Erinnerung aber auch nicht, weil er nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannte.
Zudem wurde Reuchlins Verteidigung der Juden, vorsichtig gesagt, in der nationalprotestantischen Rezeptionsgeschichte lange Zeit nicht besonders hervorgekehrt – ebenso sah man über Luthers antisemitische Spätschriften gerne hinweg, die zwanzig Jahre nach Reuchlins Tod erschienen. Reuchlins gelehrte Schriften und Hebräisch-Grammatiken wiederum blieben den meisten obskur, auch wenn er mit einer seiner ursprünglich lateinisch geschriebenen Komödien („Henno“) zeitweise Erfolge feierte.
Und heute? In Stuttgart gibt es im Gedenkjahr eine Reihe von Veranstaltungen, besonders aber hält Pforzheim das Erbe seines berühmtesten Sohnes lebendig. Phorcensis nannte sich Reuchlin, aus Pforzheim stammend. In der im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Stadt zwischen Stuttgart und Karlsruhe ist Reuchlins Geburtshaus nicht mehr genau lokalisierbar, aber als Anbau der Stiftskirche hat man an die Stelle der zerstörten Bibliothek geschickt das Reuchlin-Museum hineingebaut. Nebenan sind die Gräber der Markgrafen von Baden, deren Hof aber später nach Karlsruhe umzog. Zum 500. Todestag findet ein wissenschaftlicher Kongress statt; in einer Stadt mit hohem Migrationsanteil versucht man Reuchlin sonst eher weniger als Philologen, sondern als Anwalt von Mehrsprachigkeit, Neugier und Toleranz näher zu bringen. Im Schmuckmuseum – Pforzheim ist auf Feinmechanik spezialisiert – wird Reuchlins Faible für Redeschmuck gefeiert.
Und über allem schwebt ein Traum von der humanistischen Lebensform, die Johannes Reuchlin in einem Brief einmal so beschrieben hat: „dass alle göttlichen und menschlichen Dinge bei immer vollen Bechern bis in die späte Nacht hinein nach dem Vorbild des Aristoteles unparteiisch disputiert werden“.
Zum Märtyrer der Aufklärung
wurde er nie, weil er nicht auf
dem Scheiterhaufen landete
Johannes Reuchlin:
Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg. und übersetzt von Jan-Hendryk de Boer. Reclam, Ditzingen 2022. 173 S., 6,80 Euro.
Thomas Kaufmann:
Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte.
C.H. Beck, München 2022. 350 Seiten, 28 Euro.
Max Brod: Johannes Reuchlin und sein Kampf. Eine historische Monographie. Mit einem
Nachwort von Karl E. Grözinger. Wallstein, Göttingen 2022.
557 Seiten, 29,90 Euro.
Ein zeitgenössisches Porträt von Johannes Reuchlin (1455-1522) ist nicht erhalten, aber dieses Bildnis aus dem Lutherdenkmal in Worms wurde in seiner Geburtsstadt Pforzheim als Statue aufgestellt.
Foto: Klaus Kerth/Kulturamt Pforzheim
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»ein erstaunliches Buch « (Manfred Weinberg, Zeitschrift für Germanistik, 2/2023)