Eine turbulente Berlin-Komödie
Einen Artikel über die Geschichte der Kartoffel soll er schreiben und entsprechendes Material vermutet der Erzähler aus München in Berlin. Drei tolle Tage und Nächte warten hier auf ihn um die Mittsommernacht, als Christo den Reichstag verhüllt. Von West nach Ost, quer durch alle Schichten und Szenen führen ihn seine Recherchen, mit Tuaregs und Technomädchen, Waffenhändlern und Friseuren kommt er in Verbindung und gerät in eine aberwitzige Folge von Verwicklungen und Abenteuern.
Einen Artikel über die Geschichte der Kartoffel soll er schreiben und entsprechendes Material vermutet der Erzähler aus München in Berlin. Drei tolle Tage und Nächte warten hier auf ihn um die Mittsommernacht, als Christo den Reichstag verhüllt. Von West nach Ost, quer durch alle Schichten und Szenen führen ihn seine Recherchen, mit Tuaregs und Technomädchen, Waffenhändlern und Friseuren kommt er in Verbindung und gerät in eine aberwitzige Folge von Verwicklungen und Abenteuern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.08.1996Schwer geackert
Uwe Timm treibt Kartoffelkunde Von Walter Hinck
Sogar in Büchern über das Mittelalter sind, neben Kleidern und Waffen, Essen und Trinken zu Lieblingsthemen geworden. Was der historischen Forschung recht ist, darf der schöngeistigen Literatur billig sein. Uwe Timm überraschte 1993 diejenigen seiner Leser, die in ihm nur einen Chronisten gesellschaftlicher Mängel sehen wollten, mit der "Entdeckung der - Currywurst". Allerdings entpuppte sich die Novelle als eine Liebesgeschichte von zeitgeschichtlicher Gleichniskraft.
Als Anspielung überlebt die Currywurst auch im neuen Roman "Johannisnacht", dessen Handlung im Berlin des Jahres 1995 lokalisiert ist, in jenen Junitagen, als Abertausende zu Christos Reichstagsverhüllung strömten. Der Ich-Erzähler, ein Romanautor, überbrückt eine Zeit schöpferischer Dürre mit dem Schreiben eines Zeitschriftenartikels über die Kartoffel. Nachdem er in der Münchner Staatsbibliothek Fachbücher durchwühlt hat, hofft er in Berlin einen Kartoffelforscher, einen "abgewickelten" Agrarwissenschaftler der früheren DDR-Akademie, zu treffen. Dieser Experte für Geschmacksregister der Kartoffelsorten ist zwar verstorben, hat aber in vier Kartons ein Kartoffel-Archiv hinterlassen.
Wir erfahren nun, wie dieses Archiv gefunden wird, wie der Erzähler in den Besitz eines "Kartoffelkatalogs" zu kommen versucht und plötzlich Berlin fluchtartig verläßt. An diesen dünnen Faden knüpft sich eine Fülle merkwürdiger Abenteuer. Ja, durch die Form des Romans scheint unverhohlen das alte Muster des Abenteuerromans, der seinen Helden über viele Irrwege und durch eine bunte Folge von Verwicklungen schickt und seine Einzelgeschichten nur locker zusammenhält. Nicht auf ferne Inseln oder in unerforschte Regionen, weder zu wilden Völkern noch in utopische Gefilde führt Timms Abenteuerroman, sondern ins Großstadtlabyrinth, eben in das Berlin der Jahre nach der Wende. "Gute Geschichten sind wie Labyrinthe", in denen leicht "der Faden verlorengehen" kann, heißt es in einer erzählerischen Selbstreflexion.
Am Brandenburger Tor fällt der Erzähler einem Betrüger, einem Lederjackenhändler mit italienischem Sprachakzent, in die Hände. Ein ehemaliger Friseur der Volksarmee, der einmal auch den Bart des Generalsekretärs Ulbricht stutzen durfte, verschandelt ihm den Haarschnitt. Für russische Konstruktivisten versucht ihn ein Bilderfälscher zu interessieren. Auf einer "Polenhochzeit" setzen ihn Gastarbeiter unter Alkohol. Und eine junge Frau, die eine Magisterarbeit über die Kartoffel in der Nachkriegsliteratur geschrieben und nur bei Günter Grass die Verbindung von Kartoffel und Sex gefunden hat, führt ihn in den Telefonsex ein.
In ein wieder anderes Milieu gerät der Erzähler, als ihm ein Bulgare in einer Hotellounge den Kartoffelkatalog anbietet: ihm steht ein Waffenhändler mit seinem Leibwächter gegenüber. Eine Verwechslung. "Kartoffelkatalog" ist der Deckname einer Angebotsliste für Sprengminen. Solange er in Berlin ist, läßt den Erzähler die Angst vor der Mafia nicht mehr los.
Dank des frischen und vorwiegend ironischen Erzählens ein sehr lesbarer Roman. Der Vorwurf bloßer Literarisierung von Ideologie, den man gegen den aus der Studentenbewegung hervorgegangenen Autor einmal erhob, kann Timm schon lange nicht mehr treffen. Besonders geglückt im Roman sind einige Nebenfiguren, so der Achtundsechziger, der sich den "Marsch durch die Institutionen" erspart hat und Sargträger, später Beerdigungsredner wurde, oder auch der Sänger von der Oper Swerdlowsks, der jetzt für Almosen im U-Bahnhof Fehrbelliner Platz singt.
Gerade die nach dem Fall der Mauer entstandenen Zwischen- und Dunkelzonen bieten Stoff für Großstadtepisoden. Und immer wieder drängt sich das Problem der unvollendeten Wiedervereinigung in den Vordergrund. Manches in diesem Berlin-Roman bleibt bloße Impression. Und nach dem Currywurst-Motiv der Novelle von 1993 hat das Kartoffel-Thema den leichten Beigeschmack der Reprise. Aber noch nie war der Erzähler Uwe Timm so locker wie in diesem Roman.
Uwe Timm: "Johannisnacht". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996. 282 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Uwe Timm treibt Kartoffelkunde Von Walter Hinck
Sogar in Büchern über das Mittelalter sind, neben Kleidern und Waffen, Essen und Trinken zu Lieblingsthemen geworden. Was der historischen Forschung recht ist, darf der schöngeistigen Literatur billig sein. Uwe Timm überraschte 1993 diejenigen seiner Leser, die in ihm nur einen Chronisten gesellschaftlicher Mängel sehen wollten, mit der "Entdeckung der - Currywurst". Allerdings entpuppte sich die Novelle als eine Liebesgeschichte von zeitgeschichtlicher Gleichniskraft.
Als Anspielung überlebt die Currywurst auch im neuen Roman "Johannisnacht", dessen Handlung im Berlin des Jahres 1995 lokalisiert ist, in jenen Junitagen, als Abertausende zu Christos Reichstagsverhüllung strömten. Der Ich-Erzähler, ein Romanautor, überbrückt eine Zeit schöpferischer Dürre mit dem Schreiben eines Zeitschriftenartikels über die Kartoffel. Nachdem er in der Münchner Staatsbibliothek Fachbücher durchwühlt hat, hofft er in Berlin einen Kartoffelforscher, einen "abgewickelten" Agrarwissenschaftler der früheren DDR-Akademie, zu treffen. Dieser Experte für Geschmacksregister der Kartoffelsorten ist zwar verstorben, hat aber in vier Kartons ein Kartoffel-Archiv hinterlassen.
Wir erfahren nun, wie dieses Archiv gefunden wird, wie der Erzähler in den Besitz eines "Kartoffelkatalogs" zu kommen versucht und plötzlich Berlin fluchtartig verläßt. An diesen dünnen Faden knüpft sich eine Fülle merkwürdiger Abenteuer. Ja, durch die Form des Romans scheint unverhohlen das alte Muster des Abenteuerromans, der seinen Helden über viele Irrwege und durch eine bunte Folge von Verwicklungen schickt und seine Einzelgeschichten nur locker zusammenhält. Nicht auf ferne Inseln oder in unerforschte Regionen, weder zu wilden Völkern noch in utopische Gefilde führt Timms Abenteuerroman, sondern ins Großstadtlabyrinth, eben in das Berlin der Jahre nach der Wende. "Gute Geschichten sind wie Labyrinthe", in denen leicht "der Faden verlorengehen" kann, heißt es in einer erzählerischen Selbstreflexion.
Am Brandenburger Tor fällt der Erzähler einem Betrüger, einem Lederjackenhändler mit italienischem Sprachakzent, in die Hände. Ein ehemaliger Friseur der Volksarmee, der einmal auch den Bart des Generalsekretärs Ulbricht stutzen durfte, verschandelt ihm den Haarschnitt. Für russische Konstruktivisten versucht ihn ein Bilderfälscher zu interessieren. Auf einer "Polenhochzeit" setzen ihn Gastarbeiter unter Alkohol. Und eine junge Frau, die eine Magisterarbeit über die Kartoffel in der Nachkriegsliteratur geschrieben und nur bei Günter Grass die Verbindung von Kartoffel und Sex gefunden hat, führt ihn in den Telefonsex ein.
In ein wieder anderes Milieu gerät der Erzähler, als ihm ein Bulgare in einer Hotellounge den Kartoffelkatalog anbietet: ihm steht ein Waffenhändler mit seinem Leibwächter gegenüber. Eine Verwechslung. "Kartoffelkatalog" ist der Deckname einer Angebotsliste für Sprengminen. Solange er in Berlin ist, läßt den Erzähler die Angst vor der Mafia nicht mehr los.
Dank des frischen und vorwiegend ironischen Erzählens ein sehr lesbarer Roman. Der Vorwurf bloßer Literarisierung von Ideologie, den man gegen den aus der Studentenbewegung hervorgegangenen Autor einmal erhob, kann Timm schon lange nicht mehr treffen. Besonders geglückt im Roman sind einige Nebenfiguren, so der Achtundsechziger, der sich den "Marsch durch die Institutionen" erspart hat und Sargträger, später Beerdigungsredner wurde, oder auch der Sänger von der Oper Swerdlowsks, der jetzt für Almosen im U-Bahnhof Fehrbelliner Platz singt.
Gerade die nach dem Fall der Mauer entstandenen Zwischen- und Dunkelzonen bieten Stoff für Großstadtepisoden. Und immer wieder drängt sich das Problem der unvollendeten Wiedervereinigung in den Vordergrund. Manches in diesem Berlin-Roman bleibt bloße Impression. Und nach dem Currywurst-Motiv der Novelle von 1993 hat das Kartoffel-Thema den leichten Beigeschmack der Reprise. Aber noch nie war der Erzähler Uwe Timm so locker wie in diesem Roman.
Uwe Timm: "Johannisnacht". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996. 282 S., geb., 36,- DM.
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»Wirklich ein Glücksfall, diese "Johannisnacht" mit ihren unbeschwert-intelligenten Reflexionen über das deutsche Wesen, die genau den Witz und erotischen Biß aufweisen, den man bei deutschen Literaten so selten antrifft.« Thomas Linden, Kölnische Rundschau