Im sechsten Johnson-Jahrbuch zeigt sich sowohl an den Namen der Beiträger als auch an den Themen der Aufsätze, daß die Johnson-Forschung ein 'junges' Gebiet der Germanistik ist: Der wissenschaftliche Nachwuchs meldet sich mit neuen An- und Einsichten zu Wort. Drei Beiträge sind Johnsons Preisen und Reden gewidmet, einem Thema, dem bisher noch keine Beachtung geschenkt wurde. Roland Berbig zeichnet anhand von Archiv-Material das Zustandekommen der ersten Literaturpreisverleihung an Uwe Johnson nach. Nathali Jückstock untersucht die Rede zur Verleihung des Raabe-Preises, und Rainer Paasch-Beeck befaßt sich mit den Hintergründen der Rede zum Bußtag, eines in mehrerer Hinsicht erstaunlichen Textes: Johnson wurde erst nach seinem Kirchenaustritt dazu eingeladen. In allen drei Fällen ergeben sich Aufschlüsse über den jeweiligen Text beziehungsweise Anlaß hinaus.Katja Leuchtenberger argumentiert ebenso originell wie genau beobachtend für eine Neubewertung der Zwei Ansichten. Gegen die These vom Bruch im Gesamtwerk versammelt sie Belege, die den Roman als einen »typischen Johnson« ausweisen. Auch in den beiden Beiträgen zu den Mutmassungen über Jakob werden neue Perspektiven angeboten. Holger Helbig verfolgt Johnsons erzählerischen Umgang mit Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung. Matthias Göritz weitet den an diesem Intertext sichtbar werdenden Kontext aus, indem er die Art der Darstellung auf die Möglichkeit genereller moralphilosophischer Überlegungen hin prüft. Die Beiträge lösen ein, worauf die Ganzliner Tagung im Juni 1998 ausgerichtet war: das Interesse für Johnsons Andere Prosa zu wecken. Der Band enthält den Tagungsbericht von Helmut Frielinghaus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.1998Im Weinkeller
Das Uwe-Johnson-Jahrbuch 1998
Vielleicht ist die Menge an Blödsinn, die über einen Schriftsteller verfaßt wird, gar nicht das schlechteste Kriterium zur Ermittlung seiner Qualität, hat Jorge Luis Borges einmal gesagt. Uwe Neumanns "Kleines Wörterbuch der Gemeinplätze zu Uwe Johnson" hat diesen Satz zum Motto erwählt, um dann genüßlich zur Beweisführung ex negativo anzutreten, daß Johnson ein bedeutender Schriftsteller sein muß. Was wird da nicht alles vermutet, verschandelt, verrätselt und verbogen, wenn sich Kritik und Wissenschaft einen Dichter vornehmen. Die Sammlung der Entgleisungen zu Werk und Leben des Schriftstellers offeriert erstaunliche Thesen, etwa wenn Uwe Johnson als erster Schriftsteller gefeiert wird, der "formale Errungenschaften des Kubismus in die Literatur umsetzte": "Einer Dekomposition des realen Objekts entspricht seine Rekomposition nach den Kompositionsgesetzen des Kubismus und seinen neuen Sehgewohnheiten, die zugleich die bisherige Vorstellung von Realität des Objekts als Illusion entlarven. Insofern beruht die scheinbare Dekomposition des Objekts auf einer optischen Täuschung."
Aber Johnson war nicht nur ein praktizierender Zauberkünstler, sondern auch ein großer Trinker. Um besonders dringende Forschungsfragen zu diesem Thema zu beantworten ("Was hat ihn zum Alkoholiker gemacht?"), habe die Germanistik erst einmal positivistische Basisarbeit geleistet, schreibt Neumann. Johnsons "deadline", seine Lieblingsgetränke, seine letzte Flasche Wein, die von der spanischen Marke "Corrida" war: alles bekannt. Recherchen haben ergeben, daß in Johnsons Keller die "Kisten mit leeren Weinflaschen fast bis zur Decke hinaufreichten". Zum Glück trägt das Johnson-Jahrbuch, Band 5, in dem sich Neumanns amüsante Gemeinplätzesammlung befindet, nur in Maßen Neues zu dieser Sammlung bei. Es enthält unter anderem akribische Aufsätze wie den von Klaus Kokol, einem Juristen, "Zur finanziellen Dimension der Lebensverhältnisse der Familie Cresspahl in New York City", eine informative Studie von Dietrich Spaeth über literarische Bezüge in den "Jahrestagen" und kluge Kritiken zu den letzten Werken der Johnson-Sekundärliteratur, wo wiederum der Sinn vom Blödsinn getrennt wird. (Johnson-Jahrbuch. Band 5 / 1998. Herausgegeben von Ulrich Fries und Holger Helbig. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. 254 Seiten, geb., 78,- DM.) sil.
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Das Uwe-Johnson-Jahrbuch 1998
Vielleicht ist die Menge an Blödsinn, die über einen Schriftsteller verfaßt wird, gar nicht das schlechteste Kriterium zur Ermittlung seiner Qualität, hat Jorge Luis Borges einmal gesagt. Uwe Neumanns "Kleines Wörterbuch der Gemeinplätze zu Uwe Johnson" hat diesen Satz zum Motto erwählt, um dann genüßlich zur Beweisführung ex negativo anzutreten, daß Johnson ein bedeutender Schriftsteller sein muß. Was wird da nicht alles vermutet, verschandelt, verrätselt und verbogen, wenn sich Kritik und Wissenschaft einen Dichter vornehmen. Die Sammlung der Entgleisungen zu Werk und Leben des Schriftstellers offeriert erstaunliche Thesen, etwa wenn Uwe Johnson als erster Schriftsteller gefeiert wird, der "formale Errungenschaften des Kubismus in die Literatur umsetzte": "Einer Dekomposition des realen Objekts entspricht seine Rekomposition nach den Kompositionsgesetzen des Kubismus und seinen neuen Sehgewohnheiten, die zugleich die bisherige Vorstellung von Realität des Objekts als Illusion entlarven. Insofern beruht die scheinbare Dekomposition des Objekts auf einer optischen Täuschung."
Aber Johnson war nicht nur ein praktizierender Zauberkünstler, sondern auch ein großer Trinker. Um besonders dringende Forschungsfragen zu diesem Thema zu beantworten ("Was hat ihn zum Alkoholiker gemacht?"), habe die Germanistik erst einmal positivistische Basisarbeit geleistet, schreibt Neumann. Johnsons "deadline", seine Lieblingsgetränke, seine letzte Flasche Wein, die von der spanischen Marke "Corrida" war: alles bekannt. Recherchen haben ergeben, daß in Johnsons Keller die "Kisten mit leeren Weinflaschen fast bis zur Decke hinaufreichten". Zum Glück trägt das Johnson-Jahrbuch, Band 5, in dem sich Neumanns amüsante Gemeinplätzesammlung befindet, nur in Maßen Neues zu dieser Sammlung bei. Es enthält unter anderem akribische Aufsätze wie den von Klaus Kokol, einem Juristen, "Zur finanziellen Dimension der Lebensverhältnisse der Familie Cresspahl in New York City", eine informative Studie von Dietrich Spaeth über literarische Bezüge in den "Jahrestagen" und kluge Kritiken zu den letzten Werken der Johnson-Sekundärliteratur, wo wiederum der Sinn vom Blödsinn getrennt wird. (Johnson-Jahrbuch. Band 5 / 1998. Herausgegeben von Ulrich Fries und Holger Helbig. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. 254 Seiten, geb., 78,- DM.) sil.
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