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Produktdetails
  • Suhrkamp Taschenbücher Materialien
  • Verlag: Suhrkamp
  • Abmessung: 177mm x 108mm x 20mm
  • Gewicht: 222g
  • ISBN-13: 9783518385579
  • ISBN-10: 3518385577
  • Artikelnr.: 24151657
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.06.2008

Wie ’68 wirklich war
Uwe Johnsons „Jahrestage”, gelesen als Chronik eines unruhigen Jahres / Von Rolf Michaelis
Ist das wirklich erst vierzig Jahre her, dass Studenten, „Ho – Ho – Ho – Tschi – Minh” und „Amis raus aus Vietnam!” rufend durch die Straßen zogen, dass die sozialistischen „Bruderstaaten” in die verbündete Tschechoslowakei einmarschierten, um Dubceks Versuch eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz” blutig niederzuschlagen, dass der Studentenführer Rudi Dutschke auf offener Straße in Berlin niedergeschossen wurde, dass Studenten Frankreich fast unregierbar machten und in Amerika der Präsidenten-Kandidat Robert F. Kennedy und der führende Kopf der Bürgerrechtsbewegung, Martin Luther King, ermordet wurden? Was für ein Jahr.
Und was für eine Erzählung, „Jahrestage”. Uwe Johnson nennt die Tageskapitel vom 21. 8. 1967 bis zum 20. 8. 1968 – bewusst – nicht Roman, sondern betont, im Untertitel, „Aus dem Leben von Gesine Cresspahl”, den Charakter eines epischen Fragments, das er zu erweitern gedachte. „Jahrestage”: Das ist Gegenwart der Tage eines Jahres, gelebt zu Ende der sechziger Jahre in New York. Das heißt aber auch – Vergangenheit erinnerter Tage. Das Gedächtnis feiert Jahrestage. Das Tagebuch der in Ostdeutschland geborenen, jetzt in New York lebenden Bankangestellten Gesine Cresspahl, das diese Erzählung auch ist, beginnt am 21. August 1967 und endet am 20. August 1968, dem Tag, an dem ein todgeweihter Sozialismus, diktatorisch und mit Waffengewalt, dem „Prager Frühling” ein blutiges Ende bereitet. „Nicht ich bin es”, erklärte Johnson 1983, als endlich der vierte und letzte Band der Erzählung erscheinen konnte, „nicht ich bin es, der den Roman mit dem 20. August 1968 auf ein Theaterdonner-Ende hinauslaufen lässt. Das tut die Wirklichkeit, die ich mir nun einmal eingehandelt habe . . . durch den Einsatz mit einem ersten Kapitel für den 21. August 1967. Als ich das anfing, hatte ich ja keinerlei Ahnung, was die Zukunft bescheren würde.”
Schon während der Arbeit an dem schon Ende der sechziger Jahre begonnenen Buch, die sich durch eine zehn Jahre währende Schreibblockade bis 1983 hinzog, hat Johnson das Geständnis gemacht: „Da ist mir von der sogenannten Realität etwas geschenkt worden” – und er meint damit die Parallelität (und den Kontrast) der Ereignisse in der mecklenburgischen Gemeinde Jerichow, wo Gesine Cresspahl 1933 geboren wurde und die Sowjet-Armee in den Nachkriegsjahren 1945/46 bei den Agrarkapitalisten und Kleinbauern den Sozialismus – mit Gewalt – einzuführen gedenkt, und dem Versuch der Sozialisten in der CSSR 1967/68, diese Staatsform auf humane und demokratische Weise den Menschen nahezubringen.
So kommt es zu einer ständigen Parallele – Musiker würden von „Engführung” reden – zwischen den Zeitschichten einer Erzählung, die sowohl im Deutschland der späten Weimarer Republik und beginnenden Nazi-Zeit von 1930 bis 1939 wie in Amerika während des Vietnam-Kriegs spielt, und die zudem als transatlantische Engführung erkennen lässt: dass der demokratische Protest gegen eine verbrecherisch handelnde Regierung in den USA die Revolte in Deutschland gegen Muff und Reform-Unwillen einer Großen Koalition befeuert.
Wenn man sieht, wie bei uns derzeit die „68er” geschmäht oder wie ihnen, verschämt, Kränzchen gewunden werden, dann kann man in Versuchung kommen, „Jahrestage” – ein Buch, das als Zeitroman, als Familienroman, Heimatroman, ja auch als verschwiegener Liebesroman gelesen worden ist, einmal als Chronik der laufenden Ereignisse zur unruhigen Zeit 1967/68 zu entziffern. Da fallen, von heute aus gesehen, sofort die Parallelen auf zwischen Amerika im Vietnam- und Irak-Krieg. Lügen damals und jetzt. Gründet das irrwitzige Abenteuer von George W. Bush und seinen dem militärisch-industriellen Komplex auch finanziell hörigen Neokonservativen auf Verleugnung der Wirklichkeit, so lesen wir schon bei Johnson am 1. 9. 67: „Der amerikanische Befehlshaber in Südvietnam sagt: Die Nordvietnamesen lügen. Radio Hanoi gibt die amerikanischen Verluste . . . für die ersten sechs Monate dieses Jahres mit 110 000 an. Er sagt: Es sind 37 038.”
Und so weiter mit Verschleierung der Wahrheit. Uwe Johnson beginnt jedes Tageskapitel mit Nachrichten aus der New York Times, die seine Hauptfigur Gesine Cresspahl jeden Morgen studiert. Ihr fällt auf, dass die Zeitung auf Seite eins das Foto eines abgeschossenen US-Flugzeugs bringt, die „vierzig” toten Amerikaner aber „auf der sechsten Seite” versteckt, „verstellt von Neuigkeiten aus Jerusalem”. Ein andermal lesen wir: „Die amtlichen Toten der Amerikaner stehen heute auf der zwölften Seite, sieben Zeilen ohne Zusammenhang mit den Nachrichten darüber. ,Ein Mann aus Long Island unter den Toten‘ sagt die Überschrift. In der Meldung sind es dann achtundzwanzig.”
Was vor vierzig Jahren noch möglich war und den damals in New York als Verlagslektor arbeitenden Johnson verstörte, ist nun vorbei: Damals wurden in Deutschland die Neonazis der NPD mit 8,8 Prozent in die Bremer Bürgerschaft gewählt, und in Amerika wurde im August 1967 der Naziführer George Lincoln Rockwell von einem Konkurrenten erschossen – und sollte auf einem „militärischen Ehrenfriedhof” beigesetzt werden. Auf den „Nationalfriedhof” von Virginia kam er nur deshalb nicht, „weil die Polizei nicht das Hakenkreuz vom Leichenwagen nehmen wollte” . . . Weitere sechs Friedhöfe haben die Leiche . . . zurückgewiesen, nun hat die Partei ihn verbrannt und steht Wache neben der Asche.”
Die Schrecken der mörderischen Nazi-Zeit sitzen so tief in Johnson, dass in die „Jahrestage” selbst der Maler-Dichter aus Wiedensahl, der von 1832 bis 1908 gelebt hat, nur als „der große deutsche Antisemit Wilhelm Busch” Aufnahme findet. Johnson hat der von ihm verehrten Schriftsteller-Kollegin Margret Boveri, deren Erinnerungen er herausgegeben hat, nie verzeihen mögen, dass sie im Dritten Reich publiziert hat. Der Moralist Johnson, der es sich auch mit anderen Zeitgenossen schwer gemacht hat, kann den Blick nicht abwenden von politisch-moralischen Sündenfällen: „Theodor Heuss – der hatte 1933 Hitler abstützen helfen mit dem Ermächtigungsgesetz, das die Weimarer Republik um die Ecke brachte . . . Der Staatsverräter, der hierzulande Staatspräsident war.”
Was geht in Johnson, was geht in seiner Hauptfigur Gesine Cresspahl vor, die oft auf dem Kinderspielplatz in New York mit Emigranten-Müttern sitzt, die deutsche Vernichtungslager überlebt haben („Mrs. Ferwalter: Die Ärzte nennen ihr Fett . . . am ganzen Leibe einen Ausdruck des KZ-Syndroms”), wenn sie 1968 lesen müssen, im Prozess gegen einen Beamten des Auswärtigen Amtes, einen adeligen Herrn von Hahn, „angeklagt der Mitschuld am Tod von dreißigtausend bulgarischen und griechischen Juden”, tritt als Zeuge auf, auch ein „ehemals in leitender Funktion beschäftigter Kollege beim Außenministerium der Nazis . . . Kiesinger, Beruf: Bundeskanzler. Solche Silberhaarigen haben das Vertrauen der Westdeutschen . . . Chef der sogenannten Christlichen Demokraten, der während der Herrschaft der Faschisten blind, taub und lahm gewesen ist.”
Wie sollte man nicht verstehen, was Gesine Cresspahl ihrer Tochter Marie sagt: „Aber in Deutschland möchte ich nicht noch einmal leben”? Gegen solchen Ekel hilft auch nicht die Erinnerung an den tapferen Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen, „einen der wenigen im Amt, die von Anfang an die Verbrechen der Nazis für gerichtlich erfassbar hielten und erfassten . . . Ohne ihn hätte es den Prozess über Auschwitz von 1963 bis 1965 nicht gegeben.”
Moralist? Ja – aber er sieht auf die Welt mit beiden Augen. Da lesen wir über das KZ Flossenbürg: „Boshafte Tötungen von Juden waren an der Tagesordnung, Einspritzungen von Gift” – doch bleibt uns nicht die Mitteilung erspart, die Gesine Cresspahl entsetzt, ein amerikanischer Soldat habe aus Vietnam „ein Foto geschickt, da hat er so eine Kette von abgeschnittenen Ohren von Vietkongs schräg über der Schulter”.
Ja, da gibt es die Emigrantin Mrs. Blumenroth, die seit dem KZ die Angst verfolgt, dort „unfruchtbar gemacht worden zu sein”, aber es lebt in „Jahrestagen” auch Gesines Schulfreundin Anita Gantlik, der nach der „Vergewaltigung durch drei Rotarmisten” als „Spätfolge ewige Unfruchtbarkeit” bescheinigt wird. Wir lesen, dass „die Sowjets einem ihrer Schriftsteller den Prozess machen, weil er protestierte dagegen, dass Schriftstellern ein Prozess gemacht wurde” – aber auch, dass der amerikanische Dramatiker LeRoi Jones zu zweieinhalb Jahren Staatsgefängnis und 1000 Dollar Strafe verurteilt wurde, weil er, vielfach verfolgt, zwei Revolver illegal in seinem Auto hatte.
Hier formuliert kein Autor der Beliebigkeit, des Sowohl-als-auch. Hier zwingt uns ein Mensch seinen unbestechlichen Blick auf die Ungeheuerlichkeiten, Ungerechtigkeiten des Lebens auf.
Davor bleibt keiner sicher. Über den Kollegen und Nachbarn im Suhrkamp-Verlag lesen wir, was damals dem Verleger (beider Autoren) Siegfried Unseld Pein bereitete, „was aber in der New York Times stand: ,Der 38-jährige Dichter teilte . . . einem Publikum von Studenten und Professoren mit, dass ihn kürzlich ein dreiwöchiger Aufenthalt in Cuba überzeugt habe davon, dass das cubanische Volk ein Bewusstsein von Freude, bedeutungsvoll und tieferem Sinn‘.” Und wenig später folgt der Eintrag: „In Cuba wird an Personen über 13 Jahre keine Milch mehr ausgegeben; hoffentlich ist dies nicht ein Leibgetränk des Dichters Enzensberger.”
Man sieht: Wie man auch in das Universum dieser großen Erzählung „Jahrestage” hineinkommt – es sind hier immer neue Entdeckungen zu machen. Ein Grund mehr, dieses Werk als aufklärerisches Lesebuch über unsere Zeit zu entdecken, ein Werk, das die Illustrierte Stern vor vierzig Jahren schmähte („Für jeden, der Langeweile zu kultivieren vermag, ist dies ein ungeheuer spannendes Buch”), während der Kritiker Günter Blöcker in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schon damals schrieb: „Johnson lässt mit diesem Band alle der mit ihm angetretenen Autoren seiner Generation hinter sich zurück.”
Wäre das Jahr 2008 nicht Anlass, sich dieser großen Erzählung noch einmal zuzuwenden? Wie aktuell ist sie in vielem, wenn man nur darauf sehen will! Orakelt da nicht schon 1967 ein amerikanischer „Kriegsminister” von einer „Mauer von Stacheldraht, Landminen und eleganter Elektronik”? Was ist geworden aus der Mauer durch Jerusalem, aus der Berliner Mauer, was wird aus der Mauer der Israelis durch palästinensisches Gebiet? Unschuldige Tote. Schande für alle politischen Maurer.
Und ist der unter Literaten vertraute, politische Schnack, den die „Jahrestage” in sich aufgenommen und festgehalten haben, nicht längst – höchst gegenwärtig: „Was machen die Chinesen?”
Wer aber Uwe Johnsons „Jahrestage” nun tatsächlich noch einmal lesen will – und es ist ein Vergnügen – sollte nie vergessen, aus welcher Gesinnung, Moral, Erzähl-Perspektive hier gesprochen wird: „Ich bin das Kind eines Vaters, der von der planmäßigen Ermordung der Juden gewusst hat.”
Rolf Michaelis, geboren 1933 in Schwäbisch Hall, lebt als Autor und Journalist in Hamburg. Im Jahr 1983 veröffentlichte er sein „Kleines Adressbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman ,Jahrestage‘ ” im Suhrkamp Verlag.
Ein Moralist, der auf die Welt mit beiden Augen sieht
Ist dieser politische Schnack nicht längst höchst gegenwärtig?
George Lincoln Rockwell, 1918 geboren, gründete 1959 die „American Nazi Party”. Am 25. August 1967 wurde er von einem Konkurrenten vor einem Waschsalon erschossen. Uwe Johnson berichtet auch von der Farce um die Beisetzung. Foto: Lee Lockwood/Time & Life Pictures/Getty Image
Uwe Johnson, 1974, „Jahrestage” 1-3 waren erschienen. Foto: Brigitte Friedrich
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