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Hochstapler oder Heiliger? Ist Josche Kalb der törichte Stumme, den man, ohne zu fragen, mit der schwachsinnigen Tochter des Synagogendieners von Bialogura verheiratet hat, oder aber der verloren geglaubte, kluge und lang vermisste Gatte der Tochter des Wunderrabbis von Njeschawe? Nur das hohe Gericht der siebzig Rabbiner vermag diese Frage zu klären.

Produktbeschreibung
Hochstapler oder Heiliger? Ist Josche Kalb der törichte Stumme, den man, ohne zu fragen, mit der schwachsinnigen Tochter des Synagogendieners von Bialogura verheiratet hat, oder aber der verloren geglaubte, kluge und lang vermisste Gatte der Tochter des Wunderrabbis von Njeschawe? Nur das hohe Gericht der siebzig Rabbiner vermag diese Frage zu klären.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.05.1999

Auf der Fährte des Wunderrabbi
Flucht in eine untergehende Welt: Isaac J. Singer zerlegt das Schtetl

Die Welt dieses Romans ist unserer Gegenwart fremd. Die Personen, die darin handeln, kennen wir so wenig, als wohnten sie hoffnungslos weit weg von der uns vertrauten Erde. Zugleich aber wissen wir, daß Menschen wie sie einst unsere Nachbarn gewesen, daß ihre Wirklichkeit vor mehr als einem halben Jahrhundert ausgelöscht wurde, so rigoros, daß es kaum Erinnerungen gibt an ihren Alltag und ihre Feste, ihren Aberglauben und ihre Weisheit, ihre Schwächen und ihre Gottesstärke.

Die Rede ist von den Juden in der einstigen Donaumonarchie und im Zarenreich, den Bewohnern des "Schtetl". Nur die Literatur hat uns diesen Begriff überliefert. Die klassischen Schtetl-Bürger ruhen längst in ihren Gräbern. Von ihren Kindern und Enkeln verschwanden die meisten in den nazistischen Mordlagern, wenigen gelang die Flucht in andere Erdregionen. Die Nachfahren der Davongekommenen leben über die Welt verstreut, in den Vereinigten Staaten und in Israel. Das alles können wir eigentlich nicht aus dem Gedächtnis scheuchen, wenn wir der Geschichte der osteuropäischen Juden begegnen.

Doch der vorliegende Roman läßt sich nur schwer verarbeiten, wenn wir ständig dieses Wissen um das Vergangene mitdenken. Die Lektüre verlangt, daß wir uns in den Stand der Unschuld versetzen, die geschilderten Ereignisse sine ira et studio zur Kenntnis nehmen, um für die unbekannte Realität offen zu sein. Selten hat ein Buch von uns so viel Unmögliches verlangt, und vielleicht erweisen wir uns als zu schwach, um ihm gerecht zu werden.

Geschrieben hat dieses Stück jüdischer Geschichte Israel Joshua Singer, von dem sein jüngerer Bruder, der Literatur-Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer, sagte, er sei sein Lehrmeister gewesen. Der ältere Singer, 1883 im polnischen Bilgoraj geboren, entzog sich 1933 den europäischen Bedrohungen durch Emigration in die Vereinigten Staaten. Er starb dort elf Jahre später. Der Roman, mit dem wir es heute zu tun haben, entstand vor der Auswanderung; er erschien, in jiddischer Sprache, 1932 in Warschau. Erst 1988, vierundvierzig Jahre nach des Autors Tod, gab es eine amerikanische Ausgabe. Sie ist die Vorlage für die deutsche Version, doch wurde, wie im Impressum vermerkt, wegen der Entsprechungen zwischen Deutsch und Jiddisch auch das Original herangezogen.

Der Roman spielt, ohne daß es besonders betont wird, erkennbar in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Österreichische und russische Monarchie existieren noch unangetastet, die jüdischen Bürger hier wie dort leben nach dem Vorbild zahlloser Generationen, nicht unangefochten vom Druck der jeweiligen Staatsvölker und -religionen, dennoch als treue Kinder ihrer jahrtausendealten Überlieferungen. Israel Joshua Singer tritt nicht als vorbehaltloser Interpret der ostjüdischen Denk- und Lebensweise auf. Andererseits verwirft er auch nicht kurzerhand, was zur aufdämmernden europäischen Moderne nicht mehr so recht paßt. Er nimmt sich einfach die Freiheit des Erzählers, der Menschenschicksale komponiert, taucht tief hinein in das ostjüdische Mittelalter, dessen Hinterlassenschaften, ehrwürdige und törichte, diese Schicksale beeinflussen.

Singer malt seine Figuren in ihrer Befangenheit durch das Überlieferte, schildert also ihre Schwierigkeiten, mit dem zurechtzukommen, was noch nicht da ist, aber unvermeidlich eintreten wird. Mit anderen Worten: Er erzählt von der jüdischen Spielart menschlicher Unzulänglichkeit, wie es sie immer und überall gegeben hat, bei allen Völkern, allen Rassen. Man begegnet Vertretern der Judenheit, die nicht Opfer sind oder Kämpfer oder Weise, vor denen man, eingedenk deutscher Schuld, den Hut ziehen muß. Vielmehr sind sie Alltagsleute, manch einer zeigt peinliche, gar verachtenswerte Züge wie Macht- und Profitgier, Engstirnigkeit, abergläubisches Fehldenken. Der Leser muß diese Romanfiguren nicht lieben, er darf sie gegebenenfalls geringschätzen oder über sie lächeln. Nur besser dünken sollte er sich nicht, selbst wenn er, als Individuum, gescheiter geraten ist. Das Kollektiv nämlich, aus dem er stammt, ist nicht gescheiter als das jüdische des Romans. Wer das nicht in Rechnung stellt, verpaßt die Unschuld, die diese Lektüre verlangt.

Schauplatz der Romangeschichte ist ein galizisches Städtchen namens Njeschawe, Sitz eines sogenannten Wunderrabbis, an dessen ungepflegtem Hof sich alle Untugenden sammeln, die gemeinhin im Schatten der Macht gedeihen. Auch der Rabbi ist kein Edelwesen, er giert nach Einfluß, Geld und Bettgefährtinnen. Die Rolle der Frauen in der jüdischen Gemeinschaft ist altertümlich beschränkt. Der Alte hat drei Eheweiber überlebt, das halbe Kind Malka als viertes ausgespäht, all so etwas steht ihm zu. Doch mit der vierten Frau holt er sich eine Liebesteufelin ins Haus, deren Sinn nicht auf ihn gerichtet ist, sondern auf seinen blutjungen Schwiegersohn. Das Unheil nimmt seinen Lauf.

Nicht allein für den Rabbi, weit mehr und eigentlich in erster Linie für den Eidam Nachum, einen gepflegten, gebildeten Jüngling aus vornehmem Gelehrtenhaus, dessen Seele erfüllt ist von den Weisheiten der Väter und den Botschaften Gottes. Dessen Leib aber empfänglich ist für Malkas Reize, so daß er in Sünde fällt. Malka stirbt bei der Geburt. Um zu verstehen, wie vernichtend der Fehltritt und seine Folgen auf Nachums Leben wirken, muß man die aberhundert Einzelheiten, aus denen die jüdische Romanwelt gefügt ist, begreifen lernen. Nachum macht sich zum Niemand, er verschwindet, und wenn er in einem fremden Städtchen wieder auftaucht, verleugnet er seine Person, seinen Willen, seine gesamte Geschichte. So wird er zu Josche, dem Stummen, dem Dummen, genannt "Kalb", den man am neuen Ort, ohne ihn zu fragen, mit der schwachsinnigen Rabbitochter Ziwje vereinen will.

Doch das wäre neue Sünde. Nachum entzieht sich ihr durch Flucht in das alte Njeschawe, doch keineswegs zurück in die Arme seines rechtmäßigen Weibes. Er will nur noch Gott und seinen Schriften gehören. Daran jedoch hindern ihn die Mechanismen irdischer Gerechtigkeit. Beide Rabbihöfe hadern um den Schwiegersohn, den angeblichen Bigamisten, dessen wahres Vergehen kein Lebender kennt. Der Rechtsstreit stürzt die tröstliche Welt des Herkömmlichen in ein Chaos, aus dem die gewöhnlichen Juden ihr Stückchen Beute davonzutragen versuchen. Der nach Reinigung dürstende Sünder jedoch entzieht sich abermals, endgültig verschlingt ihn ein ferner Horizont. Niemand spricht es aus, auch der Autor nicht, dennoch dringt aus dem Buch die Ahnung, wie Nachum werde die jüdische Welt Osteuropas dahinschwinden und mit ihr alle Geborgenheit, Gewißheit, Zuversicht.

Es ist ein geistiges und geistliches Debakel, das der Autor Singer hier über sein Judentum hereinbrechen läßt. Nach allem, was uns leider zu vertraut ist, fällt es nicht ganz leicht, ihm das gebührende Gewicht beizumessen. Was ist schon der Tod einer Tradition gegen millionenfachen Mord? Und doch, beides gehört zusammen. Singers Geschichte gibt uns ein Vorspiel zur kommenden Katastrophe, in leisen Tönen nur, aber mit deutlich erkennbarer Melodie. Vernehmen jedoch kann diese Weise nur, wer sich durch den Lärm der späteren Mordjahre nicht beim Erlauschen der frühen Stimmen stören läßt.

SABINE BRANDT

Israel Joshua Singer: "Josche Kalb". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sylvia List. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999. 320 S., geb., 39,80 DM.

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