Josefine Mutzenbacher oder die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt erschien erstmals 1906 als Privatdruck von 1000 nummerierten Exemplaren in Wien. Damals unter der Hand verkauft, erlebte das Buch rasch unzählige Nachdrucke, Neuauflagen und Adaptionen, zensierte Versionen für den Buchhandel und natürlich: Verbote. Die anonym publizierte Mutzenbacher, wie das Buch meist salopp genannt wird, ist nicht nur ein Paradebeispiel einer kommerziellen Metropolen-Pornografie um 1900, in ihr schlagen sich auch großflächigere Debatten um Geschlechterdifferenz und Sexualität der Zeit nieder. Sie bildet einen Konflikt ab, der zwischen korrodierenden alten und emergenten neuen Diskursen das Feld bildete für Psychoanalyse, Wiener Moderne und etliche, teils kryptopädophile Zwischentöne, die nach wie vor wenig erforscht sind.Bemerkenswert ist, dass die Mutzenbacher auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine reichhaltige Wirkungsgeschichte entfaltete: Von Rechtsstreigikeiten (dem bekanntlich gescheiterten Versuch der Erben Felix Saltens, die Tantiemen einzuklagen und der beständigen Frage nach der Zensur) über Verfilmungen bis hin zur produktiven Fortschreibung in der literarischen Avantgarde, allem voran durch Oswald Wiener. Noch bemerkenswerter allerdings ist, dass dennoch kaum wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Stoff zu verzeichnen sind. Dies war der Anlass für eine von Clemens Ruthner 2016 organisierte Tagung im Wien Museum, wo den Kontexten, Subtexten und möglichen Relektüren des immer noch problematisch anstößigen Textes nachgegangen wurde. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden als Sammelband 2019 bei Sonderzahl publiziert, doch machte die kollektive Forschungsarbeit einmal mehr deutlich, dass es bislang keine verlässliche Textgrundlage für die Forschung gab. Diese Lücke schließt die vorliegende Ausgabe, die erstmalig eine kritische Edition des Textes zugänglich macht.Zur Edition: Die Kritische Ausgabe der Mutzenbacherbasiert auf dem ungeglätteten Text der Erstausgabe, der seiten- und fehlergetreu wiedergegeben wird. Begleitet wird der Text von einem umfangreichen Stellenkommentar, kontextualisiert und verortet in einem Nachwort des Herausgebers. Ebenfalls aufgenommen wurden Oswald Wieners Beiträge zu einer Ädöologie des Wienerischen.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Daniela Strigl stimmt Oswald Wiener, der das erstmals 1906 erschienene Werk im Jahr 1969 herausgab, nicht unbedingt zu, dass dieser pornografische Roman zur Weltliteratur gezählt werden müsse. Der Autor ist bis heute unbekannt, als wahrscheinlichste Option gilt der Wiener Ernst Klein, der in diesem umstrittenen und bis 2017 in Deutschland als jugendgefährdend verbotenen Buch von Josefine und ihrem Weg zur Prostitution erzählt, informiert Strigl. Dabei besteht die Handlung der Rezensentin zufolge aber nur aus unzusammenhängenden Fragmenten, die immerhin durch Milieubeschreibungen, Bildhaftigkeit und auch gelegentlichem Witz überzeugen. Die nun erschienene neue Prachtausgabe lobt Strigl alledings für die hervorragende Typographie und das kulturgeschichtlich informative Nachwort. Über die Ambivalenzen im Text kann sie indes nicht hinwegsehen: Das "anarchische Trommelfeuer der Sexualakte" stehe dem sozialkritischen Erkenntnisgewinn im Weg, meint sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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