Eichendorff war ein in sich widersprüchlicher Mensch, der den anarchischen Impuls, den er von Jugend an verspürte, in Bildern der Gefährdung literarisch auslebte. Der Verlust der elterlichen Güter in Schlesien zwang ihn zur Ausübung eines Brotberufs; sein Lebensgefühl ist geprägt vom Gedanken, immer zu spät gekommen zu sein. Die Romantik erlebt in seinen Erzählungen und Gedichten eine letzte Blüte, während er an seinem Beamtenschreibtisch - durchaus eigensinnig und widerständig - der preußischen Regierung dient.Besonderes Gewicht legt Hartwig Schultz auf Eichendorffs Werk, ausdrücklich auch auf unbekanntere Schriften. Dabei werden heute eher befremdliche Seiten nicht ausgespart, Eichendorffs Frauenbild etwa, wie es sich in seiner Bewertung Bettine von Arnims manifestiert, oder sein dogmatischer Antiprotestantismus. Ein neuer Blick fällt auf die zumeist als ideal verklärte Ehe des Romantikers und die Zeit, in der er von seinem Dienst in Königsberg freigestellt war, um in Berlin unter strenger Geheimhaltung an einem neuen Pressegesetz mitzuarbeiten.
Hartwig Schultz porträtiert Eichendorff
Als "betörende Essenz der Romantik" bezeichnete Thomas Mann einmal Joseph von Eichendorffs Gedicht "Der Abend": "Schweigt der Menschen laute Lust: / Rauscht die Erde wie in Träumen / Wunderbar mit allen Bäumen." Von all dem ist in Hartwig Schultz' Biographie über den Freiherrn selten die Rede. Sein Ziel ist kein weiteres Panorama der Romantik und auch keine Fortschreibung der vom Autor selbst aufgebrachten Legenden, sondern die Rekonstruktion seiner Lebensumstände und seines uneingeschränkt konservativen Weltbildes.
Eichendorff hegte selbst den Plan, sein Leben als "Erlebtes" zu beschreiben, worunter er "die Zeit und ihre Wechsel" unter weitgehender Ausblendung seiner eigenen Person verstand. Schultz verfolgt gleichsam die Umkehrung dieses autobiographischen Projektes, also mit Eichendorff gegen Eichendorff. Das bringt einen eher nüchternen, faktischen Blick mit sich, der nicht bloß bestätigt, was man schon weiß. Das war lange Zeit nicht allzu viel: Die Unterschätzung des vermeintlichen Volksdichters hielt sich hartnäckig, erst die jüngere, auf soliden Editionen gründende Forschung hat etablierte Vorurteile zerstreut und manche künstlerische Vielschichtigkeit freigelegt. Der Eichendorff-Herausgeber Schultz nennt seinen Helden in diesem Sinne einen "großen Unbekannten".
Drei Konstanten treten in diesem Lebensbild deutlich hervor: die Traditionsverbundenheit des schlesischen Adligen, die Vermittlung zwischen bürgerlicher und poetischer Existenz, schließlich das Gottvertrauen des strikten Katholiken. Zwei Kapitel am Beginn und Schluss des Buches schaffen dafür den Rahmen: Es geht um die politischen Erschütterungen von 1789 und 1848, die Konflikte zwischen alter und neuer Zeit. Von der Französischen Revolution erfährt der 1788 geborene Landadlige nur vom Hörensagen. Die "rasende neue Zeit" zeichnet sich in Memoirenentwürfen lediglich als fernes "Gewitter" am Horizont hinter dem idyllischen Familienschlösschen Lubowitz ab.
Ein Jahr vor seinem Tod 1857 kommt Eichendorff auf dieses Unwetter zurück. In einer späten Teilfassung des satirischen Märchens "Libertas und ihre Freier" überblendet er den gescheiterten Freiheitskampf von 1848 auf die Zeit um 1800, um Gottlosigkeit als das Grundübel aller "Freigeisterei" zu stilisieren. Eine frühe, erst 2006 publizierte Version bietet hingegen ein Zerrbild vom Kampf um die Berliner Barrikaden 1848: Angestiftet vom schlauen "Magog", legt der einfältige Riese "Rüpel" aus Gier nach saftigen Schinken ein Schloss des jüdischen Geldadels in Schutt und Asche, befreit die "Libertas", steckt das Hofgesinde in einen Sack und verspeist auf dem Heimweg die fette Beute. Warum das Proletariat aber hungert und verzweifelt aufbegehrt, wird hier so wenig bedacht wie die Rolle der Intellektuellen, die der Staat als "Dämagogen" verfolgt.
Nicht nur hier rückt Schultz die Dinge kritisch gegen Selbstaussagen des Dichters zurecht. So zeigt er etwa, dass der 1807 von Halle nach Heidelberg gewechselte Jurastudent die bewunderten Romantiker Arnim und Brentano hier nicht kennengelernt hat, sondern erst zwei Jahre später in Berlin. Oder er rechnet die prekäre finanzielle Lage der Familie nach, die Eichendorff einen raschen Studienabschluss in Wien gebietet und die Verlobungszeit mit Luise Larisch auf sechs Jahre ausdehnt. Vor der Ehe zaudern lassen ihn wohl auch emotionale Irritationen, die in Wien von einer attraktiven Choristin sowie der mütterlichen Dorothea Schlegel ausgehen. Entgegen seiner sonstigen Versessenheit auf Fakten sieht Schultz diese Verhältnisse zugleich in Eichendorffs erstem Roman "Ahnung und Gegenwart" gespiegelt.
Im "Taugenichts" die von Eichendorff für sich selbst beanspruchte Rolle des ewigen Verlierers zu wittern wäre kurzschlüssig; aber sonderlich leicht hat es sein Verfasser nie gehabt, das steht nach dieser Biographie fest. Breiten Raum gibt Schultz dem vielfach erfolglosen Streben nach einem Posten. In die Befreiungskriege zieht Eichendorff als freiwilliger Jäger im Lützowschen Corps, eine vom Turnvater Jahn kommandierte Truppe kampfuntauglicher Intellektueller. Offizier mit "Vorschuss und Gehalt" kann er da nicht werden. Der Dienst als Leutnant bei der Infanterie bleibt eine ebenso traurige Episode. Auch im Berliner Kriegsministerium ist kaum etwas zu verdienen und als Referendar in Breslau schon gar nichts. Bewerbungen als Geschichtsdozent an den rheinischen Universitäten oder als Landrat in Rybnik scheitern. 1819 hat er bereits Frau und drei Kinder, doch die Stelle als Assessor in Breslau ist noch immer unbezahlt.
Immerhin, das zweite Staatsexamen bringt einen Durchbruch, doch die Frage dazu ist hinterlistig. Sie gilt der Säkularisation, dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Eichendorff beugt sich jedoch nicht; statt die Übertragung von Kirchengütern an den preußischen Staat zu loben, folgt er seinem Gewissen. Im Ministerium wird ein gleichgesinnter Oberregierungsrat auf die couragierte Abhandlung aufmerksam. Endlich beginnt eine bescheidene Verwaltungskarriere als "beamteter Philister" in Berlin, Danzig und Königsberg. Eichendorff versieht loyal seinen Dienst und spottet nur heimlich in Gedichten.
Um Königsberg zu entgehen und in Berlin leben zu können, begnügt sich Eichendorff bis zum frühzeitigen Ruhestand 1844 mit Hilfsarbeiten in verschiedenen Ministerien, zahlreiche Bewerbungen auf Beamtenstellen scheitern. Katholische Ästhetik tritt immer stärker in den Vordergrund, die Romantik soll "das ganze Leben religiös heiligen". Unter solchen Vorzeichen versucht Eichendorff in seinen literaturgeschichtlichen Arbeiten eine ganze Epoche umzudeuten.
Den Vorwurf, nur die beliebtesten Seiten des Dichters ins Licht gerückt zu haben, kann man Schultz nicht machen. Doch häufig verzettelt sich seine redliche Vergegenwärtigung in Details; beim seitenlangen Zitieren fehlt zuweilen das Augenmaß. Oft vermisst man den Schwung.
ALEXANDER KOSENINA
Hartwig Schultz: "Joseph von Eichendorff". Eine Biographie. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007. 368 S., geb. 22,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Gabriele Killert hat zwei Biografien des Spätromantikers Joseph von Eichendorff gelesen, wobei sie die eine ärgerlich, die andere reichlich mühsam fand. Hartwig Schultz geht ihr mit seinem Experten-Gestus, dem es vor allem darum zu tun ist, Eichendorff-Irrtümer aus der Welt zu schaffen, gehörig auf die Nerven. Zumal sie findet, dass der Autor mit seiner geradezu an Polizeimethoden erinnernden akribischen Untersuchung des Dichters Leben und Werk überhaupt nicht gerecht wird. Indem er wiederholt auf die Diskrepanz zwischen den literarischen Texten und dem als juristischer Gutachter in Preußischen Diensten stehenden Beamten pocht, spricht er ihm nicht nur die "Wahrhaftigkeit" ab, so die Rezensentin indigniert. Zudem lassen seine küchenpsychologischen Deutungen und seine germanistischen Spitzfindigkeiten völlig vergessen, dass es sich bei Eichendorff um einen "bedeutenden Dichter" handelte, so Killert entrüstet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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