Das fiktive Testament eines Warschauer Juden, aufgeschrieben in der Stunde seines Todes, versteckt in einer leeren Flasche, gefunden in den Trümmern des Warschauer Ghettos. Dieser Text, der seit seinem Erscheinen immer wieder die Herzen der Menschen berührte, wurde von Paul Badde aus dem Jiddischen übertragen und liegt in einer zweisprachigen Ausgabe vor. Tomi Ungerer hat sich von Zvi Kolitz' Geschichte zu intensiven, eindrucksvollen Bildern inspirieren lassen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.1997Theodizee in der Flasche
Das Testament des Jossel Rakover, aufgezeichnet von Zvi Kolitz
Im April 1943 brach der Aufstand aus, mit dem sich die letzten Überlebenden des Warschauer Ghettos gegen ihre Ermordung zu wehren versuchten. Der hoffnungslose Kampf dauerte nur drei Wochen und endete mit dem Freitod des Führungsstabes; im kollektiven Gedächtnis der Juden aber hat sich um dieses Ereignis ein Mythos gebildet, der in die nationale Identität Israels einging. Denn die Jahrtausende des europäischen Exils durften für den jungen Staat nicht ohne eine symbolische Selbstbehauptung zu Ende gegangen sein.
Ein Mythos schreibt sich in vielen Texten aus, und einer dieser Texte liegt dem deutschen Leser nun in Buchform vor. Der Journalist Zvi Kolitz veröffentlichte ihn am 25. September 1946 erstmals in Argentiniens "Jiddischer Zeitung". Er erzählt, wie der Ghettokämpfer Jossel Rakover in seiner Sterbestunde zu Gott spricht: Kurz bevor er den SS-Schergen zum Opfer fällt, führt Jossel, fromm bis ans bittere Ende, eine letzte Unterredung mit seinem Herrn.
"In einer der Ruinen des Warschauer Ghettos", schreibt Kolitz zu Beginn, "ist zwischen Haufen verkohlter Steine und menschlichem Gebein das folgende Testament gefunden worden, in einer kleinen Flasche versteckt." Mit dieser Herausgeberfiktion führt er den Leser in den scheinbar authentischen Text ein und läßt Jossel Rakover von nun an als Ich-Erzähler sprechen. Rakovers Bericht steht unter dem Datum des 28. April 1943, scheint mitten im Kampf gegen die Deutschen geschrieben zu sein, in der Stunde des Sonnenuntergangs. Jossel erwartet den letzten Angriff des Feindes, ist sicher, daß er den Kampf nicht überleben wird, will ihn auch gar nicht überleben. Denn die Welt, aus der er scheidet, ist für ihn sinnlos geworden. Aus Grodno ist er ins Warschauer Ghetto gekommen, in einem deutschen Bombenhagel hat er seine Frau und drei Kinder verloren; seine drei anderen Kinder sind im Ghetto umgebracht worden. Jossel Rakover ist ein Chassid, und das biblische Gleichnis, in dessen Licht er zunächst sein Schicksal deutet, ist ein Teil seiner religiösen Weltsicht. "Jetzt ist meine Stunde gekommen", lesen wir, "und wie Hiob kann ich von mir sagen: Nackt kehre ich zur Erde zurück, nackt, wie am Tag, als ich geboren wurde."
Doch nun, am anderen Ende seines Lebens, tritt Jossel Rakover über die Grenzen des Hiobsgleichnisses hinaus. "Ich sage aber nicht wie Hiob", heißt es, "daß Gott seinen Finger auf meine Sünde legen soll, damit ich weiß, wofür ich dies verdiene. Denn dies ist keine Frage von Strafen und Sünden mehr." Der fromme Jude Jossel Rakover gibt sich mit keiner vorgeschriebenen Theodizee zufrieden, in der Stunde seiner Wahrheit stellt er das Gespräch mit dem Herrn auf neue, für ihn bisher unerhörte Voraussetzungen. "Früher, als es mir gutging", sagt er über Gott, "war meine Beziehung zu Ihm wie zu einem, der mich ohne Unterlaß beschenkte - und dem ich dafür ständig etwas schuldig blieb. Jetzt ist meine Beziehung zu Ihm wie zu einem, der auch mir etwas schuldet, viel schuldet. Und weil ich fühle, daß auch er in meiner Schuld steht, darum, denke ich, habe ich das Recht, Ihn zu mahnen."
Anderthalb Jahre nach Kriegsende schreibt Zvi Kolitz ein Lehrstück über die Tragödie seines Volkes. Schon das Datum der Veröffentlichung verweist auf seinen Symbolcharakter: Der Text erscheint in der Jom-Kippur-Ausgabe der "Jiddischen Zeitung", am heiligsten Feiertag der Juden, an dem sie ihr eindringlichstes Gespräch mit Gott führen. Und noch manches andere zeigt an, daß es sich hier nicht um den authentischen Bericht eines Ghettokämpfers in seiner Todesstunde handelt, sondern um eine im nachhinein erdachte Allegorie über den Zustand der Welt.
"Zwölf Menschen", so beschreibt Jossel den Ort seiner letzten Handlung, "waren wir in diesem Zimmer, als der Aufstand begann, und neun Tage haben wir gegen den Feind gekämpft. All meine elf Kameraden sind gefallen." Die Zahl symbolisiert den Untergang des jüdischen Volkes: Die Kinder Israel, das Gottesvolk, waren einst die zwölf Söhne Jakobs, und der berühmteste unter ihnen hieß Josef - wie der fiktive Jossel Rakover dieser Erzählung zum Versöhnungstag. Sie ist kein Augenzeugenbericht, sondern ein kunstvoll konstruierter literarischer Text. Aber Mythen haben eine eigene Logik. Der Herausgeber Paul Badde erzählt im Nachwort, wie zäh seit Jahrzehnten die Legende kolportiert wird, es habe Jossel Rakover und seine in den Ghettoruinen gefundene Flaschenpost tatsächlich gegeben. Ihren Anfang nimmt die Legende wohl im Jahr 1954, als der Text in Tel Aviv in einer jiddischen Zeitung ohne Autorenangabe abgedruckt wird, und auch Zvi Kolitz' Proteste haben dem Eigenleben Jossel Rakovers nichts mehr anhaben können.
Badde beschreibt den Weg des heute in New York wohnenden Autors, der 1919 in Litauen zur Welt kommt, den Zweiten Weltkrieg in Palästina überlebt und 1946 in Argentinien seine Geschichte aufschreibt, während er als zionistischer Redner für die Sache des jüdischen Staates wirbt: In der Entstehungsgeschichte des Textes wird die Verbindung zwischen dem israelischen Mythos und dem Aufstand im Warschauer Ghetto noch einmal ganz deutlich.
Dabei überkommt freilich auch den Herausgeber selbst die Lust, den Mythos noch etwas auszuspinnen. Badde reiht historische Beispiele von authentischen Texten aneinander, die in den Ghettoruinen tatsächlich gefunden worden sind, bezeichnet dann auch den vorliegenden Text zweideutig als "eine letzte Flaschenpost der vergangenen Ereignisse" und kann leider nicht umhin, die Erzählung für "wahrer als jeden Augenzeugenbericht" zu erklären.
Es gehört zu den Gemeinplätzen der Religionsgeschichte, daß um Texte, denen die "Wahrheit" zugesprochen wird, bald ein Streit ausbricht. Nach der Tel Aviver Fassung hat die Schriftstellerin Anna Maria Jokl ihn noch im gleichen Jahr, 1954, ins Deutsche übertragen, und sie war es auch, die den Namen des Autors in Erfahrung brachte. Die Entdeckung aber widersprach bereits dem entstehenden Mythos, und gerade in der deutsch-jüdischen Presse wurde Kolitz damals des Betrugs bezichtigt. Er hätte sich, so lautete die Unterstellung, des Schicksals Jossel Rakovers bemächtigt, um als Schriftsteller berühmt zu werden.
Vor solchem Streit wendet man sich lieber noch einmal dem Text zu. Die Mahnung, die Jossel Rakover an seinen Gott richtet, ist ganz nüchtern. "Aber gerade", heißt es dort, "weil Du so groß bist und ich so klein, bitte ich Dich - warne ich Dich! - um Deines Namens willen: Hör auf, Deine Größe dadurch zu krönen, daß Du die Unglücklichen schlagen läßt."
Der Text liegt in einer schönen zweisprachigen Ausgabe vor. Die phonetische Transkription aus dem Jiddischen wurde von einem Mann besorgt, dem weniger am Mythos als an der historischen Wahrheit gelegen ist: von Arno Lustiger, der die Zeugnisse des jüdischen Widerstandes gegen die Nazis gesammelt hat. JAKOB HESSING
Zvi Kolitz: "Jossel Rakovers Wendung zu Gott". Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Jiddischen übertragen, herausgegeben und kommentiert von Paul Badde. Verlag Volk & Welt, Berlin 1996. 119 S., geb., 30,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Testament des Jossel Rakover, aufgezeichnet von Zvi Kolitz
Im April 1943 brach der Aufstand aus, mit dem sich die letzten Überlebenden des Warschauer Ghettos gegen ihre Ermordung zu wehren versuchten. Der hoffnungslose Kampf dauerte nur drei Wochen und endete mit dem Freitod des Führungsstabes; im kollektiven Gedächtnis der Juden aber hat sich um dieses Ereignis ein Mythos gebildet, der in die nationale Identität Israels einging. Denn die Jahrtausende des europäischen Exils durften für den jungen Staat nicht ohne eine symbolische Selbstbehauptung zu Ende gegangen sein.
Ein Mythos schreibt sich in vielen Texten aus, und einer dieser Texte liegt dem deutschen Leser nun in Buchform vor. Der Journalist Zvi Kolitz veröffentlichte ihn am 25. September 1946 erstmals in Argentiniens "Jiddischer Zeitung". Er erzählt, wie der Ghettokämpfer Jossel Rakover in seiner Sterbestunde zu Gott spricht: Kurz bevor er den SS-Schergen zum Opfer fällt, führt Jossel, fromm bis ans bittere Ende, eine letzte Unterredung mit seinem Herrn.
"In einer der Ruinen des Warschauer Ghettos", schreibt Kolitz zu Beginn, "ist zwischen Haufen verkohlter Steine und menschlichem Gebein das folgende Testament gefunden worden, in einer kleinen Flasche versteckt." Mit dieser Herausgeberfiktion führt er den Leser in den scheinbar authentischen Text ein und läßt Jossel Rakover von nun an als Ich-Erzähler sprechen. Rakovers Bericht steht unter dem Datum des 28. April 1943, scheint mitten im Kampf gegen die Deutschen geschrieben zu sein, in der Stunde des Sonnenuntergangs. Jossel erwartet den letzten Angriff des Feindes, ist sicher, daß er den Kampf nicht überleben wird, will ihn auch gar nicht überleben. Denn die Welt, aus der er scheidet, ist für ihn sinnlos geworden. Aus Grodno ist er ins Warschauer Ghetto gekommen, in einem deutschen Bombenhagel hat er seine Frau und drei Kinder verloren; seine drei anderen Kinder sind im Ghetto umgebracht worden. Jossel Rakover ist ein Chassid, und das biblische Gleichnis, in dessen Licht er zunächst sein Schicksal deutet, ist ein Teil seiner religiösen Weltsicht. "Jetzt ist meine Stunde gekommen", lesen wir, "und wie Hiob kann ich von mir sagen: Nackt kehre ich zur Erde zurück, nackt, wie am Tag, als ich geboren wurde."
Doch nun, am anderen Ende seines Lebens, tritt Jossel Rakover über die Grenzen des Hiobsgleichnisses hinaus. "Ich sage aber nicht wie Hiob", heißt es, "daß Gott seinen Finger auf meine Sünde legen soll, damit ich weiß, wofür ich dies verdiene. Denn dies ist keine Frage von Strafen und Sünden mehr." Der fromme Jude Jossel Rakover gibt sich mit keiner vorgeschriebenen Theodizee zufrieden, in der Stunde seiner Wahrheit stellt er das Gespräch mit dem Herrn auf neue, für ihn bisher unerhörte Voraussetzungen. "Früher, als es mir gutging", sagt er über Gott, "war meine Beziehung zu Ihm wie zu einem, der mich ohne Unterlaß beschenkte - und dem ich dafür ständig etwas schuldig blieb. Jetzt ist meine Beziehung zu Ihm wie zu einem, der auch mir etwas schuldet, viel schuldet. Und weil ich fühle, daß auch er in meiner Schuld steht, darum, denke ich, habe ich das Recht, Ihn zu mahnen."
Anderthalb Jahre nach Kriegsende schreibt Zvi Kolitz ein Lehrstück über die Tragödie seines Volkes. Schon das Datum der Veröffentlichung verweist auf seinen Symbolcharakter: Der Text erscheint in der Jom-Kippur-Ausgabe der "Jiddischen Zeitung", am heiligsten Feiertag der Juden, an dem sie ihr eindringlichstes Gespräch mit Gott führen. Und noch manches andere zeigt an, daß es sich hier nicht um den authentischen Bericht eines Ghettokämpfers in seiner Todesstunde handelt, sondern um eine im nachhinein erdachte Allegorie über den Zustand der Welt.
"Zwölf Menschen", so beschreibt Jossel den Ort seiner letzten Handlung, "waren wir in diesem Zimmer, als der Aufstand begann, und neun Tage haben wir gegen den Feind gekämpft. All meine elf Kameraden sind gefallen." Die Zahl symbolisiert den Untergang des jüdischen Volkes: Die Kinder Israel, das Gottesvolk, waren einst die zwölf Söhne Jakobs, und der berühmteste unter ihnen hieß Josef - wie der fiktive Jossel Rakover dieser Erzählung zum Versöhnungstag. Sie ist kein Augenzeugenbericht, sondern ein kunstvoll konstruierter literarischer Text. Aber Mythen haben eine eigene Logik. Der Herausgeber Paul Badde erzählt im Nachwort, wie zäh seit Jahrzehnten die Legende kolportiert wird, es habe Jossel Rakover und seine in den Ghettoruinen gefundene Flaschenpost tatsächlich gegeben. Ihren Anfang nimmt die Legende wohl im Jahr 1954, als der Text in Tel Aviv in einer jiddischen Zeitung ohne Autorenangabe abgedruckt wird, und auch Zvi Kolitz' Proteste haben dem Eigenleben Jossel Rakovers nichts mehr anhaben können.
Badde beschreibt den Weg des heute in New York wohnenden Autors, der 1919 in Litauen zur Welt kommt, den Zweiten Weltkrieg in Palästina überlebt und 1946 in Argentinien seine Geschichte aufschreibt, während er als zionistischer Redner für die Sache des jüdischen Staates wirbt: In der Entstehungsgeschichte des Textes wird die Verbindung zwischen dem israelischen Mythos und dem Aufstand im Warschauer Ghetto noch einmal ganz deutlich.
Dabei überkommt freilich auch den Herausgeber selbst die Lust, den Mythos noch etwas auszuspinnen. Badde reiht historische Beispiele von authentischen Texten aneinander, die in den Ghettoruinen tatsächlich gefunden worden sind, bezeichnet dann auch den vorliegenden Text zweideutig als "eine letzte Flaschenpost der vergangenen Ereignisse" und kann leider nicht umhin, die Erzählung für "wahrer als jeden Augenzeugenbericht" zu erklären.
Es gehört zu den Gemeinplätzen der Religionsgeschichte, daß um Texte, denen die "Wahrheit" zugesprochen wird, bald ein Streit ausbricht. Nach der Tel Aviver Fassung hat die Schriftstellerin Anna Maria Jokl ihn noch im gleichen Jahr, 1954, ins Deutsche übertragen, und sie war es auch, die den Namen des Autors in Erfahrung brachte. Die Entdeckung aber widersprach bereits dem entstehenden Mythos, und gerade in der deutsch-jüdischen Presse wurde Kolitz damals des Betrugs bezichtigt. Er hätte sich, so lautete die Unterstellung, des Schicksals Jossel Rakovers bemächtigt, um als Schriftsteller berühmt zu werden.
Vor solchem Streit wendet man sich lieber noch einmal dem Text zu. Die Mahnung, die Jossel Rakover an seinen Gott richtet, ist ganz nüchtern. "Aber gerade", heißt es dort, "weil Du so groß bist und ich so klein, bitte ich Dich - warne ich Dich! - um Deines Namens willen: Hör auf, Deine Größe dadurch zu krönen, daß Du die Unglücklichen schlagen läßt."
Der Text liegt in einer schönen zweisprachigen Ausgabe vor. Die phonetische Transkription aus dem Jiddischen wurde von einem Mann besorgt, dem weniger am Mythos als an der historischen Wahrheit gelegen ist: von Arno Lustiger, der die Zeugnisse des jüdischen Widerstandes gegen die Nazis gesammelt hat. JAKOB HESSING
Zvi Kolitz: "Jossel Rakovers Wendung zu Gott". Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Jiddischen übertragen, herausgegeben und kommentiert von Paul Badde. Verlag Volk & Welt, Berlin 1996. 119 S., geb., 30,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2005Alle, die von ihrem Glauben abgefallen sind, verdienen Verständnis
„Jossel Rakovers Wendung zu Gott” - Zvi Kolitz Jahrhunderttext über das Warschauer Ghetto in einer neuen Ausgabe
Die höchste Stufe des Ruhms ist für ein literarisches Werk erreicht, wenn seine Fabel und seine Figuren im allgemeinen Bewusstsein nahezu sprichwörtliche Bedeutung gewonnen haben. In einem solchen Fall tritt der Autor hinter seine Schöpfung zurück: Wer noch nie etwas von Nabokov gehört hat, weiß doch, was eine Lolita ist, und unter einem Kampf gegen Windmühlen können sich auch jene etwas vorstellen, die vor der langwierigen Lektüre von Don Quichottes Abenteuern stets zurückgeschreckt sind.
Jossel Rakover, der jüdische Widerstandskämpfer gegen die Nazis, ist nicht ganz so bekannt wie die mythischen Figuren der Weltliteratur. Dennoch ist sein Ruhm lange einhergegangen mit dem Vergessen des Zvi Kolitz, der ihn 1946 erfunden hat. Erst 1993 gelang es dem Historiker und Journalisten Paul Badde, den inzwischen 80-Jährigen in New York aufzuspüren. In den Jahrzehnten zuvor ist „Jossel Rakovers Wendung zu Gott” in zahlreichen Übersetzungen als authentisches Zeugnis, nicht als meisterhafte Fiktion gelesen worden. Die Ausgabe, die jetzt bei Diogenes erschienen ist, darf man als definitiv betrachten; sie enthält einen ausführlichen, sehr persönlichen Kommentar von Badde und ist von Tomi Ungerer dezent illustriert worden.
In einem der letzten Häuser des Warschauer Ghettos, die am 28. April 1943 noch nicht in Flammen stehen, sitzt, umgeben von seinen toten Kameraden, Jossel Rakover und verfasst sein Testament. Er blickt zurück auf die Zeit, als er nicht nur ein erfolgreicher, geachteter Bürger, sondern auch ein glücklicher Ehemann und Vater war. Jetzt sind alle Mitglieder seiner Familie umgebracht worden. Seine Tochter Rachel wurde zu Tode gehetzt, als sie sich mit einer Freundin auf der verzweifelten Suche nach einem Stück Brot aus dem Ghetto wagte: „Man hätte meinen können, dass da entlaufene gefährliche Verbrecher gejagt würden, als diese furchtbare Meute im Amoklauf hinter den beiden zehnjährigen, ausgemergelten Kindern hersetzte. Lang konnten sie dieses Wettrennen nicht durchhalten, bis eines von ihnen, mein Kind, das seine letzte Kraft im Lauf verausgabt hatte, erschöpft zu Boden stürzte. Die Nazis haben seinen Kopf durchbohrt.”
Die Schrecken des Holocausts zwingen Jossel zu einer grundsätzlichen religiösen Reflexion. Er sieht sich als einen modernen Hiob und hadert mit Gott, der ihm unverdient Böses widerfahren lässt. Allerdings macht er sich größer und den Allmächtigen kleiner, als sein biblischer Vorgänger es je gewagt hätte. Mehr Unglück, warnt Jossel, darf dem jüdischen Volk nicht geschehen: Die äußersten Grenzen des Erträglichen sind erreicht, und alle, die von ihrem Glauben abgefallen sind, verdienen Verständnis. Aber obwohl Gott sein Gesicht verhüllt und die Menschen offenbar sich selbst überlassen hat, will Jossel nicht aufhören, ihn zu verehren. Seine Liebe zu Gott ist stolz und trotzig. Unerschütterlich verfolgt sie den, der vor ihr flieht: „Es wird Dir gar nichts nützen! Du hast alles getan, dass ich an Dir irre werde, dass ich nicht an Dich glaube. Ich sterbe aber gerade so, wie ich gelebt habe, als unbeirrbar an Dich Glaubender.”
Die Übersetzung von Paul Badde ist nüchtern und linear. Sie stellt sich ganz in den Dienst des Originals, lässt dessen poetische Kraft um so deutlicher hervortreten. „Das Warschauer Ghetto stirbt im Kampf, es geht schießend, kämpfend und brennend zugrunde - aber ohne Geschrei.” Wie harmlos wirkt dieser Satz auf Deutsch, und wie dunkel tönt die Klage, wie hell lodert der Zorn im Jiddischen: „Die Warschewer Getto starbt in Kampf. Sie starbt schiessendig, kämpfendig, brennendig, ober - neijn, nit schreiendig!” Die ungeheure Wirkung, zu der dieser Text fähig ist, entfaltet sich erst, wenn er im ständigen Wechsel zwischen den Sprachen gelesen wird. Zvi Kolitz, der Sohn eines Rabbiners aus Litauen, ist 2002 gestorben. Im Warschauer Ghetto war er nie; seine Erzählung verdankt sich nicht eigener Anschauung, sondern allein literarisch-philosophischer Imagination. Kolitz hat hat später noch einige andere Bücher geschrieben, aber da er auch Journalist, Geschäftsmann und höchst aktiver Zionist war, hat er sich nie allzu intensiv darum bemüht, als Autor seines sicherlich wichtigsten Werkes anerkannt zu werden. Paul Badde nennt „Jossel Rakovers Wendung zu Gott” einen „Jahrhunderttext”. Wer nach Auschwitz noch von Gott reden will, wird diesem Urteil nicht widersprechen.
CHRISTOPH HAAS
ZVI KOLITZ: Jossel Rakovers Wendung zu Gott. Jiddisch - Deutsch. Hrsg. von Paul Badde. Mit Zeichnungen von Tomi Ungerer. Diogenes Verlag, Zürich 2004. 208 Seiten, 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
„Jossel Rakovers Wendung zu Gott” - Zvi Kolitz Jahrhunderttext über das Warschauer Ghetto in einer neuen Ausgabe
Die höchste Stufe des Ruhms ist für ein literarisches Werk erreicht, wenn seine Fabel und seine Figuren im allgemeinen Bewusstsein nahezu sprichwörtliche Bedeutung gewonnen haben. In einem solchen Fall tritt der Autor hinter seine Schöpfung zurück: Wer noch nie etwas von Nabokov gehört hat, weiß doch, was eine Lolita ist, und unter einem Kampf gegen Windmühlen können sich auch jene etwas vorstellen, die vor der langwierigen Lektüre von Don Quichottes Abenteuern stets zurückgeschreckt sind.
Jossel Rakover, der jüdische Widerstandskämpfer gegen die Nazis, ist nicht ganz so bekannt wie die mythischen Figuren der Weltliteratur. Dennoch ist sein Ruhm lange einhergegangen mit dem Vergessen des Zvi Kolitz, der ihn 1946 erfunden hat. Erst 1993 gelang es dem Historiker und Journalisten Paul Badde, den inzwischen 80-Jährigen in New York aufzuspüren. In den Jahrzehnten zuvor ist „Jossel Rakovers Wendung zu Gott” in zahlreichen Übersetzungen als authentisches Zeugnis, nicht als meisterhafte Fiktion gelesen worden. Die Ausgabe, die jetzt bei Diogenes erschienen ist, darf man als definitiv betrachten; sie enthält einen ausführlichen, sehr persönlichen Kommentar von Badde und ist von Tomi Ungerer dezent illustriert worden.
In einem der letzten Häuser des Warschauer Ghettos, die am 28. April 1943 noch nicht in Flammen stehen, sitzt, umgeben von seinen toten Kameraden, Jossel Rakover und verfasst sein Testament. Er blickt zurück auf die Zeit, als er nicht nur ein erfolgreicher, geachteter Bürger, sondern auch ein glücklicher Ehemann und Vater war. Jetzt sind alle Mitglieder seiner Familie umgebracht worden. Seine Tochter Rachel wurde zu Tode gehetzt, als sie sich mit einer Freundin auf der verzweifelten Suche nach einem Stück Brot aus dem Ghetto wagte: „Man hätte meinen können, dass da entlaufene gefährliche Verbrecher gejagt würden, als diese furchtbare Meute im Amoklauf hinter den beiden zehnjährigen, ausgemergelten Kindern hersetzte. Lang konnten sie dieses Wettrennen nicht durchhalten, bis eines von ihnen, mein Kind, das seine letzte Kraft im Lauf verausgabt hatte, erschöpft zu Boden stürzte. Die Nazis haben seinen Kopf durchbohrt.”
Die Schrecken des Holocausts zwingen Jossel zu einer grundsätzlichen religiösen Reflexion. Er sieht sich als einen modernen Hiob und hadert mit Gott, der ihm unverdient Böses widerfahren lässt. Allerdings macht er sich größer und den Allmächtigen kleiner, als sein biblischer Vorgänger es je gewagt hätte. Mehr Unglück, warnt Jossel, darf dem jüdischen Volk nicht geschehen: Die äußersten Grenzen des Erträglichen sind erreicht, und alle, die von ihrem Glauben abgefallen sind, verdienen Verständnis. Aber obwohl Gott sein Gesicht verhüllt und die Menschen offenbar sich selbst überlassen hat, will Jossel nicht aufhören, ihn zu verehren. Seine Liebe zu Gott ist stolz und trotzig. Unerschütterlich verfolgt sie den, der vor ihr flieht: „Es wird Dir gar nichts nützen! Du hast alles getan, dass ich an Dir irre werde, dass ich nicht an Dich glaube. Ich sterbe aber gerade so, wie ich gelebt habe, als unbeirrbar an Dich Glaubender.”
Die Übersetzung von Paul Badde ist nüchtern und linear. Sie stellt sich ganz in den Dienst des Originals, lässt dessen poetische Kraft um so deutlicher hervortreten. „Das Warschauer Ghetto stirbt im Kampf, es geht schießend, kämpfend und brennend zugrunde - aber ohne Geschrei.” Wie harmlos wirkt dieser Satz auf Deutsch, und wie dunkel tönt die Klage, wie hell lodert der Zorn im Jiddischen: „Die Warschewer Getto starbt in Kampf. Sie starbt schiessendig, kämpfendig, brennendig, ober - neijn, nit schreiendig!” Die ungeheure Wirkung, zu der dieser Text fähig ist, entfaltet sich erst, wenn er im ständigen Wechsel zwischen den Sprachen gelesen wird. Zvi Kolitz, der Sohn eines Rabbiners aus Litauen, ist 2002 gestorben. Im Warschauer Ghetto war er nie; seine Erzählung verdankt sich nicht eigener Anschauung, sondern allein literarisch-philosophischer Imagination. Kolitz hat hat später noch einige andere Bücher geschrieben, aber da er auch Journalist, Geschäftsmann und höchst aktiver Zionist war, hat er sich nie allzu intensiv darum bemüht, als Autor seines sicherlich wichtigsten Werkes anerkannt zu werden. Paul Badde nennt „Jossel Rakovers Wendung zu Gott” einen „Jahrhunderttext”. Wer nach Auschwitz noch von Gott reden will, wird diesem Urteil nicht widersprechen.
CHRISTOPH HAAS
ZVI KOLITZ: Jossel Rakovers Wendung zu Gott. Jiddisch - Deutsch. Hrsg. von Paul Badde. Mit Zeichnungen von Tomi Ungerer. Diogenes Verlag, Zürich 2004. 208 Seiten, 22,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Glänzende Augen bekommt Stefana Sabin bei der "aufwendig-schönen" Ausgabe von Zvi Kolitz' Geschichte der letzten Stunden von Jossel Rakover im belagerten Warschauer Ghetto, die Paul Badde herausgegeben hat. Die zweisprachige Ausgabe basiert auf Baddes revidierter Übersetzung des vollständigen Originals und enthält auch das Faksimile des jiddischen Manuskripts, das mittlerweile bei einem Bombenattentat auf das jüdische Kulturzentrum in Buenos Aires in Flammen aufgegangen ist. Lobend erwähnt Stefana Sabin auch das "ausführliche" Nachwort, in dem die Erscheinungs- und Rezeptionsgeschichte rekapituliert und die letzte Begegnung mit Kolitz geschildert wird. Die mit "einfachen Bildmetaphern" arbeitenden Illustrationen von Tomi Ungerer vervollständigen den positiven Eindruck, indem sie die Dramatik der Erzählung veranschaulichen und "pointieren".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ach, was sind die putzigen Strölchlein der durchschnittlichen Krimis und Thriller für blasse Kerlchen gegen die absurde, böse Komik und Aussagekraft Ungererscher Gestalten.« Thomas Wörtche / Titel Magazin Titel Magazin