Als der fünfjährige Josef Tomulka im Juli 1930 mit seiner Mutter und den Großeltern umzieht, hofft er darauf, dass nun alles besser wird. Denn der kleine Junge wird lieblos erzogen. Seine Mutter scheint sich nicht besonders für ihn zu interessieren, sein Großvater schlägt ihn und die Oma grantelt
ständig herum. In seiner neuen Nachbarschaft lernt er den jungen SA-Mann Wilhelm Reckzügel kennen, der…mehrAls der fünfjährige Josef Tomulka im Juli 1930 mit seiner Mutter und den Großeltern umzieht, hofft er darauf, dass nun alles besser wird. Denn der kleine Junge wird lieblos erzogen. Seine Mutter scheint sich nicht besonders für ihn zu interessieren, sein Großvater schlägt ihn und die Oma grantelt ständig herum. In seiner neuen Nachbarschaft lernt er den jungen SA-Mann Wilhelm Reckzügel kennen, der sich des Kindes fürsorglich annimmt und ihn nicht nur vor dem Großvater schützt. Doch schnell wird klar, dass dieser Einsatz alles andere als selbstlos ist, denn Wilhelm erzieht Josef mehr und mehr zu seinem willfährigen Handlanger. Erst als der Junge von seiner Mutter nähere Details zu seinem für ihn unbekannten Vater erfährt, beginnt er, Schritt für Schritt an Wilhelms guten Absichten zu zweifeln...
"Josses Tal" ist der kürzlich erschienene Debütroman der 74-jährigen Angelika Rehse, die laut Klappentext des Pendragon Verlags in einem Umfeld von Heimatvertriebenen aufwuchs und zu ihrem Roman von den "erzählten und lang verschwiegenen Geschichten der Generation ihrer Eltern" inspiriert wurde. Dieser persönliche Bezug der Autorin, der auch im Nachwort noch einmal deutlich wird, ist das große Plus des Buches, denn Rehse begleitet ihre Figuren mit Empathie und Gewissenhaftigkeit.
Der Haupthandlungsstrang des Romans befasst sich mit der Zeit zwischen 1930 und 1943. Umfasst wird sie von einer Rahmenhandlung im Juli 2004, die gleichzeitig Ausgangssituation für das weitere Geschehen ist. In ihr reist eine Frau namens Helen in einen norwegischen Nationalpark, um dort Klarheit über den Tod ihrer Urgroßmutter Else zu erhalten. Denn für diesen ist offenbar Josef Tomulka verantwortlich, der in Norwegen mittlerweile Josse genannt wird und dort ein Eremitendasein pflegt. Mit der Begegnung der beiden beginnt nicht nur der Roman, sondern auch dessen größtes Problem: die Figurenzeichnung. Denn nach einem kurzen Abtasten verfällt Helen sofort in das familiäre "Josse", dabei ist der Mann, der ihr gegenübersitzt, doch vermeintlich Mitschuld am Tod Elses.
Auch der Rest der Figuren ist - mit Ausnahme von Josefs Mutter Helene - eindimensional und eher holzschnittartig gezeichnet. Da gibt es den schlagenden Großvater, die grantige Großmutter, den smarten, aber bösen SA-Mann, seinen liebenswerten hinkenden Bruder Werner als Gegengewicht und den qua seines Alters naiven Josef, der alles aufsaugt, was Wilhelm ihm vorbetet. Die Mutterfigur ist hingegen als einzige wohltuend ambivalent. Sie ist mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert, schwach und zeigt selten einmal Liebe. Doch dann gibt es plötzlich Szenen, in denen sie förmlich ausbricht, einem Pfarrer in aller Öffentlichkeit ihre Meinung geigt und wehmütig von einer besseren Zukunft träumt. Bedauerlich ist, dass diese Figur nach den ersten etwa 100 Seiten mit einer Ausnahme kaum noch eine Rolle spielt. Denn Josefs Familie findet eigentlich nicht mehr statt, seitdem er Tag für Tag bei den Reckzügels verbringt.
Ein weiteres Problem ist, dass sich der Roman nicht ausreichend Zeit für die Opfer der Geschichte nimmt, sich für sie nicht wirklich interessiert. Protagonist Josef ist zwar anfangs auch ein Opfer des manipuliativen Nazis, entwickelt sich aber mit zunehmender Dauer zu einem Täter, denn Josef belauscht und denunziert Gegner der Nationalsozialisten mit Hingabe, so dass meine Empathie für den Jungen immer stärker abnahm.
Die Täterperspektive der Nationalsozialisten und HJ wird hingegend detailliert ausgeleuchtet. Hierbei gelingen Angelika Rehse allerdings Szenen unheimlicher Intensität, insbesondere bei der Bücherverbrennung in Berlin im Mai 1933. Der gerade einmal achtjährige Josef partizipiert aktiv an ihr und als Leser:in meint man fast, den Qualm riechen zu können. Ohnehin ist es der Schreibstil, mit dem Rehse überzeugt. Denn "Josses Tal" liest sich überwiegend flüssig, spannend und unterhaltsam, so dass einem die 400 Seiten viel kürzer vorkommen. Vorausgesetzt, man stört sich nicht an den zahlreichen Dialogen.
Nachteilig ist in diesem Zusammenhang allerdings die pausenlose Ausformulierung der Gedanken der Figuren. Durch die vielen Dialoge gibt es eigentlich schon genug Satzzeichen, doch die mit je einem Anführungszeichen eingeleiteten Gedanken stören den Lesefluss doch das ein oder andere Mal. Hinzu kommt, dass Angelika Rehse hier durchaus mehr Vertrauen in die Leserschaft hätte haben können, denn es macht ja gerade den Reiz eines Romans aus, selbst in die Figuren zu blicken und nicht ständig gesagt zu bekommen, was diese nun gerade denken und fühlen.
So ist "Josses Tal" ingesamt ein zwar unterhaltsamer, aber auch etwas ärgerlicher Roman geworden. Nicht abzusprechen ist ihm der gute Wille, die auch für die Kinder schreckliche NS-Zeit wieder ins Gedächtnis zu rufen, und ein Aktualitätsbezug, denn auch heute sehen sich Menschen jeden Alters Manipulationen jeder Art ausgesetzt. Die Umsetzung kam mir allerdings durch die blasse Charakterisierung und Eindimensionalität der Figuren zu didaktisch vor.