Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 5,45 €
  • Broschiertes Buch

Die Gedichte in diesem Buch sind zwischen 1993 und 1997 entstanden; sie setzen ein poetisches Werk fort, für das Jürgen Becker eine ganz eigene Sprechweise gefunden hat. Sie reicht von der knappen, lakonischen Mitteilung ins lange, weitausholende Erzählen; sie konzentriert sich auf kürzeste Notate und überläßt sich den Turbulenzen blitzhaft wechselnder Assoziationen. Das Nebeneinander von Widersprüchen: diese Art von Wirklichkeitserfahrung bildet sich in den Gedichten ab, deren bevorzugtes Motiv die Erfahrung landschaftlicher Räume bleibt. Dabei entsteht alles andere als Naturlyrik; in Jürgen…mehr

Produktbeschreibung
Die Gedichte in diesem Buch sind zwischen 1993 und 1997 entstanden; sie setzen ein poetisches Werk fort, für das Jürgen Becker eine ganz eigene Sprechweise gefunden hat. Sie reicht von der knappen, lakonischen Mitteilung ins lange, weitausholende Erzählen; sie konzentriert sich auf kürzeste Notate und überläßt sich den Turbulenzen blitzhaft wechselnder Assoziationen. Das Nebeneinander von Widersprüchen: diese Art von Wirklichkeitserfahrung bildet sich in den Gedichten ab, deren bevorzugtes Motiv die Erfahrung landschaftlicher Räume bleibt. Dabei entsteht alles andere als Naturlyrik; in Jürgen Beckers Gedichten erscheint Landschaft als so konkreter wie imaginärer Raum, durch den die Zeit geht und in dem die Geschichte ihre Spuren hinterlassen hat. Die Zeit, das ist in diesen Gedichten immer eine Art von Gleichzeitigkeit, die den aktuellen Augenblick mit jahrzehntealter Vergangenheit verschmilzt; die Spuren der Geschichte setzen eine Erinnerungsarbeit in Gang, die nicht einfach nach den Relikten greift, sondern die Erinnerungen erst herstellt. Dieser Vorgang, in der Wirklichkeit wie im Bewußtsein, findet kein Ende - indem er sich wiederholt, stiftet er einen poetischen Zusammenhang, das Kontinuum der Stimmen, der Bilder, die in diesen Gedichten hörbar und sichtbar werden.
Autorenporträt
Jürgen Becker, geboren 1932 in Köln, machte 1953 Abitur. Nach kurzem, abgebrochenem Studium begann er seine Existenz als freier Schriftsteller. Seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden Tätigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist. Er arbeitete für den WDR und in verschiedenen Verlagen. Zwanzig Jahre lang, bis 1993, leitete er die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks. Er verfasste Lyrik, Prosa und Hörspiele. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. erhielt er den Preis der Gruppe 47, den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste, das Villa Massimo Stipendium, den Bremer Literaturpreis, den Heinrich Böll Preis und 2006 den Hermann-Lenz-Preis. Jürgen Becker ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin- Brandenburg, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur sowie des PEN-Clubs. 2011 wurde er mit dem Thüringer Literaturpreis ausgezeichnet und 2014 mit dem Georg-Büchner-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.1999

Dämmern auf der Wolkenbank
Jürgen Beckers lyrische Wiederholungen

"Journal der Wiederholungen" - ein Titel, der Argwohn weckt: Denn wenn es ohnehin als ausgemacht gilt, daß die wahrnehmbare Welt sich in Wiederholungen erschöpft, warum ihnen noch mit einem Journal zu Leibe gehen, das auf die komplette Zählung jedes einzelnen Durchgangs verpflichtet ist? Es kündigt sich als tragendes Prinzip dieser Gedichte ihre Langweiligkeit an. Das titelgebende Gedicht klingt beispielsweise so: "Die Frühnachrichten warnen vorm Chaos, das längst in vollem Gange ist; die schweren Waffen bleiben liegen. Noch einmal läuft eine Frist ab, der Himmel macht zögernd die Wolkenfront auf; du holst aus dem Schuppen die Schaufel. Die Spur des Geländewagens taucht auf, die eine Kurve zieht bis zur Gartentür. Vom Fenster oben sieht das aus wie das Fernsehbild einer Stellung, die gerade geräumt worden ist. Dann löst der Regen den Schnee ab, und langsam wird klar: eine Lage ist das, die so neu wie vertraut in der Geschichte der Jahreszeiten ist . . ."

Wem es jetzt schon reicht, der hat das Wesentliche dieses Gedichts noch nicht erfaßt: seine Länge von nicht weniger als fünfzehn Seiten, ohne einen Rhythmus als den Zeilen- und Strophenbruch, der es abrupt und sinnlos wie ein Schluckauf durchzieht. Hier findet einer sein lyrisches Genügen in der Verdoppelung der Fernsehnachrichten, und namentlich erklärt er aus mürrischem Herzen sein Einverständnis mit ihrer zentralen Sitte, politisches Geschehen und Wetterbericht zu einem einzigen Paket zu schnüren, so daß das eine täglich neu seine Deutung durch das andere erfährt: Irgendein Wetter gibt's immer, und wenn es uns auch zumeist ärgert, es beruhigt irgendwie; das läßt sich getrost auf die geschichtliche Welt samt ihren Katastrophen übertragen. "Die Zeitungen am Vormittag, danach hinaus / auf die Wiese, um alles zu vergessen. Man sagt mir / die Sucht nach Neuigkeiten nach, nun gut, wie ist / der Stand der Radieschen . . ."

Nicht daß dieser Dichter unpolitisch wäre, ist das Verdrießliche, das ist sein gutes Recht; sondern daß er in solch nachlässigen, übellaunigen Passagen sogar an seinem eigenen Desinteresse desinteressiert scheint und es zwanglos von den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst auf das Wachstum der Natur ausdehnt: nichts Neues unter der Sonne, "nachts auf den Landstraßen / taucht das Problem der wandernden Kröten auf". Wenn es wenigstens die Kröten wären, die auftauchen! "Aber die Geschwindigkeit der Korrespondenzen / nimmt zu, und die Aufmerksamkeit richtet sich / nach allen Seiten." Zum Beispiel nach dieser: "Zu lange gezögert; jetzt ist zu / die Waschanlage." Oder nach jener: "Der Nachtfrost hat zugegriffen. Ich habe vergessen, / verzeih, die letzten Blüten der Kapuzinerkresse / zu pflücken." Hier ist anscheinend durch ein Versehen des Setzers ein Post-it-Zettel unverändert von der Kühlschranktür ins Gedicht eingewandert. "Aber das war es auch nicht." Aber was dann? "Laß mich nachdenken, wie / ich mich fühle. / Auf Anhieb weiß ich das nie." Gut, warten wir ein Weilchen, vielleicht fällt es ihm ein. "Also noch einmal, es geht / um die Wiedergabe der Augenblicke, die plötzlich / etwas unterbrechen . . ." Ja, darum geht es wohl; doch es will nicht klappen, nicht das erste Mal, nicht das zweite und überhaupt nicht.

Was ist diesem Lyriker widerfahren? Es ist offenbar die Erfahrung des Alters, die Beckers Band zugrunde liegt (er ist 1932 geboren), das Alter als der Zustand der Indifferenz gegen alles, was sich ereignet hat und noch ereignen mag. Es wird seiner Verlaufsstruktur entkleidet und in den engen halbländlichen Raum versetzt, den zu überschreiten dieses Ich keinen Anlaß mehr sieht: eine allumfassende Leere, eine Art graues Nirwana. "Austausch und alles gleich", wie es beim alten Benn heißt. Und es ist auf traurige Weise bezeichnend, daß man, um zu benennen, was Becker gemeint haben könnte, einen anderen Lyriker zu Hilfe rufen muß. Ein nur Allgemeines, das sich müde nicht mehr in sein Besonderes auseinanderfächern will, findet seinen unmittelbaren Niederschlag in der Gleichgültigkeit des Autors gegenüber dem, was zum Schluß auf dem Blatt steht: Es kehrt sich um und vernichtet die Gedichte, indem es sie unkenntlich macht. Ich glaube nicht, daß Becker diese Identität von Problem und Form seines Werks entgangen ist; aber ich vermute, er hat heimlich übertriebene Hoffnungen in die selbstregulierende Kraft der Sprache gesetzt, die, wenn man ihr allseits genügend weißen Raum zur Verfügung stellt, ihn von sich aus mit Bedeutung aufladen würde.

Beckers Verfahren besteht darin, kleine Vokabelgruppen wie eine Handvoll Steine auf den glatten Spiegel eines Blatts zu werfen und abzuwarten, welche Ringfiguren sie bilden werden: "Hanglage mit rotem Traktor", eine isolierte Zeile; "Die Geschichte der Holzstapel", eine zweite; "Mit den wandernden Schatten", eine dritte. Es scheint darin ein Ethos der Kargheit zu walten; sieht man jedoch näher hin, so wird man mehr als bloß eine Spur Bequemlichkeit entdecken: Das Schweigen wird's schon richten. Das Schweigen richtet aber von sich aus gar nichts. Abgesehen von den wenigen Fällen, wo es einen genau umschriebenen Binnenraum füllt, gibt es so etwas wie ein beredtes Schweigen nicht; wenn es jedoch, wie so oft, einen weiten und unbestimmten Dunstkreis rings um die Verszeilen bildet, ertönt es völlig gleichlautend, egal, wer es im Munde führt; es gehört der Zone der Verwechselbarkeit und damit des Geschwätzes an. Wer, um Himmelswillen, hätte all diesen Lyrikern denn das Reden verboten?

Und wen denkt und wünscht sich Jürgen Becker als seinen Leser? Es kann nicht sein, daß ihn diese Frage nicht bekümmert. Aber was er schreibt, atmet solche Unlust und strömt solche Öde aus, daß vielleicht niemand mehr ihn lesen mag. Schlimmeres kann einem zeitgenössischen Autor nicht geschehen.

BURKHARD MÜLLER

Jürgen Becker: "Journal der Wiederholungen". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 104 S., geb., 29,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr