Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2011Lieber Primzahlen als Karaoke
Sehr zeitgeisty: In "JPod" archiviert Douglas Coupland die Technikgesellschaft
Erinnert sich noch jemand an den sogenannten Y2K-Bug? Bekanntlich kamen die Computersysteme von New York bis Baikonur besser mit der Jahrtausendwende zurecht als befürchtet, und die Welt ging nicht durch wildgewordene russische Interkontinentalraketen unter. Einzelne E-Mail-Systeme fielen kalendarisch in die Völkerwanderungszeit zurück, aber sonst waren die Auswirkungen eher komisch als katastrophal. Auch in einer fiktiven kanadischen Computerspielfirma passierte nicht viel mehr, als dass sämtliche Leveldesigner, deren Nachnamen mit J begannen, in einem Büro zusammengepfercht wurden. Dieser Raum wurde fortan von der Belegschaft JPod genannt, und er zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es nahezu unmöglich ist, ihm wieder zu entkommen.
Vom Kosmos des JPod und seiner Bewohner handelt Douglas Couplands gleichnamiger Roman. Bereits 2006 ist das Buch in der englischen Originalausgabe erschienen, und an einigen Anachronismen merkt man ihm an, dass seither fünf Jahre Technologiegeschichte ins Land gezogen sind. Damals war die Technik noch weitgehend stationär, man ließ sie am Schreibtisch zurück und saß uninformiert über Weltgeschehen und Bürotratsch in der Kantine: Zustände, die dem vernetzten Fortschrittsoptimisten mittlerweile unerträglich wären.
Auch die Sparte der Informationstechnologie, auf die sich die Fortschrittshoffnungen projizieren, ist mittlerweile eine andere. Damals waren es die Spiele, die das Eintauchen in virtuelle Welten verhießen, heute verschmelzen Apps eher unaufdringlich, dafür umso wirkungsvoller mit dem Alltag. Dabei hat JPod selbst schon einen Vorgänger: Couplands Roman "Mikrosklaven" um eine Gruppe Microsoft-Programmierer erschien 1995 und ist erzählerisch wie thematisch mit "JPod" vergleichbar. Damals, so wundern wir uns heute, galt die Programmierung öder Bürosoftware für graue Rechenkästen tatsächlich als richtungweisend; Microsoft war Alleinherrscher auf dem Markt und Steve Jobs im Exil.
Nun also gewissermaßen das Update zum Programmierer-Büroroman. Denn knapp fünfzehn Jahre später sitzen noch immer inselbegabte, ansatzweise soziophobe Gestalten um die dreißig vor Bildschirmen und tun Dinge, die sie ihrem Umfeld nur schwer vermitteln können. Weil das so ist, weil sie so unersetzbar sind, genießen sie eine Narrenfreiheit, von der normale Angestellte nur träumen können. Dass sie in den meisten Bereichen außerhalb des Büros eher dysfunktional sind, wissen sie selbst. Sie können ihrer neuen Kollegin Kaitlin nur zustimmen, wenn sie in einem genervten Moment ausruft: "Ihr seid eine deprimierende Anhäufung popkultureller Einflüsse und verkümmerter Emotionen, angetrieben vom stotternden Motor des Kapitalismus in seiner banalsten Form."
Solche Anwürfe sind zunächst einmal ernst zu nehmen, wenn man über ein nur rudimentäres Selbstbild verfügt. Und so setzen sie sich hin und entwerfen sich Persönlichkeiten - mit den Mitteln und in den Formen, die ihnen geläufig sind: Als Rollenspiel-Charakterblatt, als Ebay-Annonce, als Liebesbrief an Ronald McDonald oder als Liste, immer wieder als Liste. Diese Versatzstücke setzte Coupland schon bei "Mikrosklaven" ein. Dazu typographische Mittel, Slogans, Spam-Mails und Sonderzeichen in Fettdruck, gern auch über eine ganze Seite, und alle Primzahlen zwischen zehntausend und hunderttausend auf zweiundzwanzig Seiten. 8363 Stück, um genau zu sein, plus eine, die keine Primzahl ist, und die Ethan, seines Zeichens Erzähler des Romans, in unter fünf Minuten findet. Er kann zwar kein Karaoke und findet seine Mitmenschen unberechenbar, aber seinen Job beherrscht er.
So kommt Ethan zu dem Schluss: "Ich finde mich eigentlich ganz in Ordnung" - gerade noch rechtzeitig, bevor Coupland richtig hinlangt und ihm das bislang reichlich komfortable Leben zwischen Tastatur und sparsam möbliertem Apartment auseinandernimmt. Ethans Vater ist als selbsternannter Schauspieler notorisch erfolglos, seine Mutter hat keine sprichwörtliche, sondern eine ziemlich reale Leiche im Keller, beide zusammen sind deutlich unreifer als der auch nicht eben verantwortungsvolle Ethan, die vorwiegend aus Nichtspielern bestehende Marketingabteilung macht der JPod-Besatzung in ihrer schlagenden Unkenntnis das Leben zur Hölle, verfügt aber über schier unendliche Macht, weil deren Leiter einmal die Marke Toblerone rettete. Der ganz normale Wahnsinn eines Büros, einer Abteilung, einer Firma eben.
Berufliches und familiäres Umfeld vermischen sich schließlich so lange in abwegigen Verwicklungen miteinander, bis Ethan und der drogensüchtige Toblerone-Retter nach zwei Dritteln des Buches mittellos in China stranden. Und wie holt Coupland sie um Himmels willen da wieder heraus? Er parkt seine Limousine, steigt aus dem Auto und tauscht die rettende Mitfahrgelegenheit gegen Ethans Laptop mit sämtlichen seiner Aufzeichnungen. Es gibt wohl kaum einen Autor, dem man durchgehen ließe, als Deus ex machina in seinem eigenen Roman aufzutauchen. Doch hier wird die ganze Sache durch eine in ihrer Unplausibilität schon wieder sehr komische Herausgeberfiktion eingerahmt.
Womit also haben wir es hier zu tun? Als deprimierende Anhäufung popkultureller Einflüsse, die wir ja auch selbst sind, wissen wir das Buch als Sitcom zu lesen. Genau so funktioniert es in all seiner Überdrehtheit, Schlagfertigkeit, in seinem ungebremsten Herausschleudern wirrer Einfälle und unnützem Wissen. Es ist keinen Moment berechenbar, ständig einen halben Meter voraus und schlägt alle altbewährten Gesetze wirkungsvoller Plotentwicklung in den Wind, bis auf die eine Regel, dass immer alles sehr viel schlimmer kommt, als Leser und Figuren es vermuten. Es ist also nur konsequent, dass es "JPod" auch als Fernsehserie gab, mit eingeschworener, aber zu kleiner Fangemeinde, als dass das Format die erste Staffel überlebt hätte.
Aber das war auch schon 2008. Für uns, die wir wegen eines Verlagswechsels lange auf die deutsche Übersetzung gewartet haben, ist das alles längst Geschichte. "Mikrosklaven" ist ohnehin schon ein Zeugnis einer lange vergangenen Epoche, jener Zeit vor der New-Economy-Blase. Auch wenn auf unserer vergilbten, demnächst auseinanderfallenden Ausgabe das schöne Wort "zeitgeisty" auf dem Titel prangt - es ist der Zeitgeist von vorgestern, nicht beständiger als eine Taschenbuchbindung. Zum Glück ist "zeitgeisty" nicht die einzige literarische Qualität, die man "Mikrosklaven" attestieren kann. Und zum Glück gilt das auch für "JPod".
Es ist nicht nur dieser nostalgische Reiz, den die Zukunft von gestern auf technikaffine Menschen ausstrahlt, während sich Fortschrittsverweigerer lebenslang in der langweiligen Gewissheit sonnen können, dass alles vorübergeht, weshalb sie sich mit derart kurzlebigen Phänomenen besser gar nicht erst beschäftigen und dabei die Gegenwart verschlafen. Diese Fraktionen gegeneinander auszuspielen wäre Coupland auch zu billig. Stattdessen konfrontiert er seinen Ethan mit Problemen, die ihn öfter aus dem Büro und damit dem Kreis seiner Ersatzfamilie treiben, als ihm angenehm wäre. Und auf uns Leser lässt er die geballte Wucht popkultureller Einflüsse, Floskeln und Zeichen los, die für JPod-Mitarbeiter leicht zu dechiffrieren sind, uns aber hoffnungslos überfordern.
Und eigentlich, denkt man, wäre es an der Zeit, dass Douglas Coupland sich allmählich an den nächsten Roman setzt. Stoff gäbe es genug: Apple hat sich in den letzten fünf Jahren ordentlich berappelt und Google strebt mindestens die Weltherrschaft an. Es gibt Facebook, es gibt iPhones. Und es gibt immer noch die überbegabten Programmierer mit ihrem Herrschaftswissen, die uns die Technik so zurechtbauen, dass wir Restmenschen sie wenigstens halbwegs fehlerfrei bedienen können, wenn wir schon nicht verstehen, wie das alles funktioniert. Uns zu erklären, wie die Programmierer funktionieren, dafür haben wir glücklicherweise Douglas Coupland.
ANDREA DIENER.
Douglas Coupland: "JPod". Roman.
Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Tropen Verlag bei Klett-Cotta, Stuttgart 2011. 528 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sehr zeitgeisty: In "JPod" archiviert Douglas Coupland die Technikgesellschaft
Erinnert sich noch jemand an den sogenannten Y2K-Bug? Bekanntlich kamen die Computersysteme von New York bis Baikonur besser mit der Jahrtausendwende zurecht als befürchtet, und die Welt ging nicht durch wildgewordene russische Interkontinentalraketen unter. Einzelne E-Mail-Systeme fielen kalendarisch in die Völkerwanderungszeit zurück, aber sonst waren die Auswirkungen eher komisch als katastrophal. Auch in einer fiktiven kanadischen Computerspielfirma passierte nicht viel mehr, als dass sämtliche Leveldesigner, deren Nachnamen mit J begannen, in einem Büro zusammengepfercht wurden. Dieser Raum wurde fortan von der Belegschaft JPod genannt, und er zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es nahezu unmöglich ist, ihm wieder zu entkommen.
Vom Kosmos des JPod und seiner Bewohner handelt Douglas Couplands gleichnamiger Roman. Bereits 2006 ist das Buch in der englischen Originalausgabe erschienen, und an einigen Anachronismen merkt man ihm an, dass seither fünf Jahre Technologiegeschichte ins Land gezogen sind. Damals war die Technik noch weitgehend stationär, man ließ sie am Schreibtisch zurück und saß uninformiert über Weltgeschehen und Bürotratsch in der Kantine: Zustände, die dem vernetzten Fortschrittsoptimisten mittlerweile unerträglich wären.
Auch die Sparte der Informationstechnologie, auf die sich die Fortschrittshoffnungen projizieren, ist mittlerweile eine andere. Damals waren es die Spiele, die das Eintauchen in virtuelle Welten verhießen, heute verschmelzen Apps eher unaufdringlich, dafür umso wirkungsvoller mit dem Alltag. Dabei hat JPod selbst schon einen Vorgänger: Couplands Roman "Mikrosklaven" um eine Gruppe Microsoft-Programmierer erschien 1995 und ist erzählerisch wie thematisch mit "JPod" vergleichbar. Damals, so wundern wir uns heute, galt die Programmierung öder Bürosoftware für graue Rechenkästen tatsächlich als richtungweisend; Microsoft war Alleinherrscher auf dem Markt und Steve Jobs im Exil.
Nun also gewissermaßen das Update zum Programmierer-Büroroman. Denn knapp fünfzehn Jahre später sitzen noch immer inselbegabte, ansatzweise soziophobe Gestalten um die dreißig vor Bildschirmen und tun Dinge, die sie ihrem Umfeld nur schwer vermitteln können. Weil das so ist, weil sie so unersetzbar sind, genießen sie eine Narrenfreiheit, von der normale Angestellte nur träumen können. Dass sie in den meisten Bereichen außerhalb des Büros eher dysfunktional sind, wissen sie selbst. Sie können ihrer neuen Kollegin Kaitlin nur zustimmen, wenn sie in einem genervten Moment ausruft: "Ihr seid eine deprimierende Anhäufung popkultureller Einflüsse und verkümmerter Emotionen, angetrieben vom stotternden Motor des Kapitalismus in seiner banalsten Form."
Solche Anwürfe sind zunächst einmal ernst zu nehmen, wenn man über ein nur rudimentäres Selbstbild verfügt. Und so setzen sie sich hin und entwerfen sich Persönlichkeiten - mit den Mitteln und in den Formen, die ihnen geläufig sind: Als Rollenspiel-Charakterblatt, als Ebay-Annonce, als Liebesbrief an Ronald McDonald oder als Liste, immer wieder als Liste. Diese Versatzstücke setzte Coupland schon bei "Mikrosklaven" ein. Dazu typographische Mittel, Slogans, Spam-Mails und Sonderzeichen in Fettdruck, gern auch über eine ganze Seite, und alle Primzahlen zwischen zehntausend und hunderttausend auf zweiundzwanzig Seiten. 8363 Stück, um genau zu sein, plus eine, die keine Primzahl ist, und die Ethan, seines Zeichens Erzähler des Romans, in unter fünf Minuten findet. Er kann zwar kein Karaoke und findet seine Mitmenschen unberechenbar, aber seinen Job beherrscht er.
So kommt Ethan zu dem Schluss: "Ich finde mich eigentlich ganz in Ordnung" - gerade noch rechtzeitig, bevor Coupland richtig hinlangt und ihm das bislang reichlich komfortable Leben zwischen Tastatur und sparsam möbliertem Apartment auseinandernimmt. Ethans Vater ist als selbsternannter Schauspieler notorisch erfolglos, seine Mutter hat keine sprichwörtliche, sondern eine ziemlich reale Leiche im Keller, beide zusammen sind deutlich unreifer als der auch nicht eben verantwortungsvolle Ethan, die vorwiegend aus Nichtspielern bestehende Marketingabteilung macht der JPod-Besatzung in ihrer schlagenden Unkenntnis das Leben zur Hölle, verfügt aber über schier unendliche Macht, weil deren Leiter einmal die Marke Toblerone rettete. Der ganz normale Wahnsinn eines Büros, einer Abteilung, einer Firma eben.
Berufliches und familiäres Umfeld vermischen sich schließlich so lange in abwegigen Verwicklungen miteinander, bis Ethan und der drogensüchtige Toblerone-Retter nach zwei Dritteln des Buches mittellos in China stranden. Und wie holt Coupland sie um Himmels willen da wieder heraus? Er parkt seine Limousine, steigt aus dem Auto und tauscht die rettende Mitfahrgelegenheit gegen Ethans Laptop mit sämtlichen seiner Aufzeichnungen. Es gibt wohl kaum einen Autor, dem man durchgehen ließe, als Deus ex machina in seinem eigenen Roman aufzutauchen. Doch hier wird die ganze Sache durch eine in ihrer Unplausibilität schon wieder sehr komische Herausgeberfiktion eingerahmt.
Womit also haben wir es hier zu tun? Als deprimierende Anhäufung popkultureller Einflüsse, die wir ja auch selbst sind, wissen wir das Buch als Sitcom zu lesen. Genau so funktioniert es in all seiner Überdrehtheit, Schlagfertigkeit, in seinem ungebremsten Herausschleudern wirrer Einfälle und unnützem Wissen. Es ist keinen Moment berechenbar, ständig einen halben Meter voraus und schlägt alle altbewährten Gesetze wirkungsvoller Plotentwicklung in den Wind, bis auf die eine Regel, dass immer alles sehr viel schlimmer kommt, als Leser und Figuren es vermuten. Es ist also nur konsequent, dass es "JPod" auch als Fernsehserie gab, mit eingeschworener, aber zu kleiner Fangemeinde, als dass das Format die erste Staffel überlebt hätte.
Aber das war auch schon 2008. Für uns, die wir wegen eines Verlagswechsels lange auf die deutsche Übersetzung gewartet haben, ist das alles längst Geschichte. "Mikrosklaven" ist ohnehin schon ein Zeugnis einer lange vergangenen Epoche, jener Zeit vor der New-Economy-Blase. Auch wenn auf unserer vergilbten, demnächst auseinanderfallenden Ausgabe das schöne Wort "zeitgeisty" auf dem Titel prangt - es ist der Zeitgeist von vorgestern, nicht beständiger als eine Taschenbuchbindung. Zum Glück ist "zeitgeisty" nicht die einzige literarische Qualität, die man "Mikrosklaven" attestieren kann. Und zum Glück gilt das auch für "JPod".
Es ist nicht nur dieser nostalgische Reiz, den die Zukunft von gestern auf technikaffine Menschen ausstrahlt, während sich Fortschrittsverweigerer lebenslang in der langweiligen Gewissheit sonnen können, dass alles vorübergeht, weshalb sie sich mit derart kurzlebigen Phänomenen besser gar nicht erst beschäftigen und dabei die Gegenwart verschlafen. Diese Fraktionen gegeneinander auszuspielen wäre Coupland auch zu billig. Stattdessen konfrontiert er seinen Ethan mit Problemen, die ihn öfter aus dem Büro und damit dem Kreis seiner Ersatzfamilie treiben, als ihm angenehm wäre. Und auf uns Leser lässt er die geballte Wucht popkultureller Einflüsse, Floskeln und Zeichen los, die für JPod-Mitarbeiter leicht zu dechiffrieren sind, uns aber hoffnungslos überfordern.
Und eigentlich, denkt man, wäre es an der Zeit, dass Douglas Coupland sich allmählich an den nächsten Roman setzt. Stoff gäbe es genug: Apple hat sich in den letzten fünf Jahren ordentlich berappelt und Google strebt mindestens die Weltherrschaft an. Es gibt Facebook, es gibt iPhones. Und es gibt immer noch die überbegabten Programmierer mit ihrem Herrschaftswissen, die uns die Technik so zurechtbauen, dass wir Restmenschen sie wenigstens halbwegs fehlerfrei bedienen können, wenn wir schon nicht verstehen, wie das alles funktioniert. Uns zu erklären, wie die Programmierer funktionieren, dafür haben wir glücklicherweise Douglas Coupland.
ANDREA DIENER.
Douglas Coupland: "JPod". Roman.
Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Tropen Verlag bei Klett-Cotta, Stuttgart 2011. 528 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2011Das große
Autisten-Spiel
Angestaubtes Nerd-Theater:
Douglas Couplands Roman „JPod“
Den entscheidenden Satz ruft Kaitlin hinter ihrer Trennwand im JPod ihren Kollegen zu: „Ihr seid eine deprimierende Anhäufung popkultureller Einflüsse und verkümmerter Emotionen, angetrieben vom stotternden Motor des Kapitalismus in seiner banalsten Form.“ Das ist nicht nur ausnahmsweise einmal sauber und klar formuliert, sondern noch dazu so wahr wie kaum sonst ein Satz in diesem Buch. Tiefe Ironie, klar. Exkulpierung durch Selbstentlarvung. Was man nicht verbergen kann, soll man betonen.
Douglas Coupland, Erfinder der „Generation X“, war schon immer ein Schriftsteller, den nicht das Bleibende, sondern das Verschwindende interessiert hat. Positiv formuliert: Wer sich so dezidiert nahe am technischen und popkulturellen Zeitgeist aufhält, registriert automatisch auch die immer größer werdenden Reibungsverluste, die mit dem rasanten Wandel in Kommunikation und Lebensformen einhergehen. In „Microserfs“ (1995) trug Coupland der Vorherrschaft des Softwaregiganten Microsoft Rechnung; „JPod“ ist eine Art von Fortsetzung: Wieder ist es eine Gruppe von Programmierern in Diensten einer in diesem Fall namenlosen Firma.
In „JPod“ allerdings geht es um Computerspiele, genauer gesagt: Der gesamte Roman selbst lässt sich als die virtuelle Benutzeroberfläche eines großen Spiels begreifen. Das nimmt ihm, gerade gegenüber „Microserfs“, die Schärfe und die Relevanz. Das englische Original erschien vor fünf Jahren, und es ist frappierend, wie gering die Haltbarkeitsdauer eines literarischen Textes ist, der den Istzustand der vorhandenen Möglichkeiten als einzig gültiges Referenzsystem zulässt: Im Internet kennen sie sich alle bestens aus, besser, als ihnen gut tut; das Mobiltelefon ist ihnen quasi an den Händen festgewachsen – doch noch keine Spur von den mittlerweile alltagsbeherrschenden Netzwerken, von Facebook oder Apps, die sich ihre eigene soziale Realität schaffen.
Der JPod ist der Arbeitsraum einer Gruppe von sechs Programmierern, deren Nachnamen allesamt mit dem Buchstaben „J“ beginnen (das Resultat einer Computerpanne) und die gemeinsam an der Entwicklung eines Adventuregames arbeiten; allen voran der Ich-Erzähler Ethan Jarlewski. Mehr gibt es im Grunde nicht zu sagen. Der Rest ist ein pompöses Ideengewitter, das sich bereits nach kurzer Zeit so durchschaubar wie ermüdend gestaltet. Ethans Mutter treibt einen schwunghaften Handel mit illegalen Substanzen und bringt aus Versehen ihren jugendlichen Rocker-Liebhaber um die Ecke. Der Vater versucht sich als Schauspieler und sehnt sich nach einer Rolle in einem Werbespot, in der er auch einmal etwas sagen darf.
Es treten weiterhin auf: Ein chinesischer Menschenhändler, ein verkorkster Chef, der in das Abenteuerspiel unbedingt eine Schildkröte einbauen will, eine esoterische Kampflesbe sowie ein höchst unsympathischer Schriftsteller namens Douglas Coupland, der Ethan, als sich dieser auf einer Chinareise in einer ausweglosen Situation befindet, aus der Patsche hilft und sich diese Gefälligkeit mit dem Recht auf die Verwertung von Ethans Biographie bezahlen lässt. Sehr kokett und ziemlich eitel.
Ganz davon abgesehen hat Coupland damit ein schlechtes Geschäft gemacht. Im Großen und Ganzen ist eine Partie „Pacman“ wahrscheinlich unterhaltsamer als die Lektüre von „JPod“, eines Buches, das nicht mehr ist als ein mit Hilfe von Listen, Zahlenreihen und Symbolen auf mehr als 500 Seiten aufgemotztes Nerd-Theater mit kaum einem Funken von Originalität. Allenfalls einen Anflug von Situationskomik erzeugen Couplands „High-Functioning-Autisten“, wenn er sie von Level zu Level seines überschaubaren Szenarios hüpfen lässt. Gefährlich wird das zu keinem Zeitpunkt, für niemanden. Vielleicht ist es Couplands Fluch, dass man von ihm stets eine allgemeingültige und generationenspezifische Aussage erwartet. Der Erkenntnisgewinn von „JPod“ bleibt allerdings recht dünn: „Noch einmal spielen? J/N“, so steht es in fetten Lettern auf der letzten Seite des Romans. Ganz entschieden: N! CHRISTOPH SCHRÖDER
DOUGLAS COUPLAND: JPod. Roman. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Tropen Verlag, Stuttgart 2011. 520 Seiten, 24,95 Euro.
Auf der Höhe von Couplands Roman: Ein 2005 aktuelles Spielgerät Foto: dpa
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Autisten-Spiel
Angestaubtes Nerd-Theater:
Douglas Couplands Roman „JPod“
Den entscheidenden Satz ruft Kaitlin hinter ihrer Trennwand im JPod ihren Kollegen zu: „Ihr seid eine deprimierende Anhäufung popkultureller Einflüsse und verkümmerter Emotionen, angetrieben vom stotternden Motor des Kapitalismus in seiner banalsten Form.“ Das ist nicht nur ausnahmsweise einmal sauber und klar formuliert, sondern noch dazu so wahr wie kaum sonst ein Satz in diesem Buch. Tiefe Ironie, klar. Exkulpierung durch Selbstentlarvung. Was man nicht verbergen kann, soll man betonen.
Douglas Coupland, Erfinder der „Generation X“, war schon immer ein Schriftsteller, den nicht das Bleibende, sondern das Verschwindende interessiert hat. Positiv formuliert: Wer sich so dezidiert nahe am technischen und popkulturellen Zeitgeist aufhält, registriert automatisch auch die immer größer werdenden Reibungsverluste, die mit dem rasanten Wandel in Kommunikation und Lebensformen einhergehen. In „Microserfs“ (1995) trug Coupland der Vorherrschaft des Softwaregiganten Microsoft Rechnung; „JPod“ ist eine Art von Fortsetzung: Wieder ist es eine Gruppe von Programmierern in Diensten einer in diesem Fall namenlosen Firma.
In „JPod“ allerdings geht es um Computerspiele, genauer gesagt: Der gesamte Roman selbst lässt sich als die virtuelle Benutzeroberfläche eines großen Spiels begreifen. Das nimmt ihm, gerade gegenüber „Microserfs“, die Schärfe und die Relevanz. Das englische Original erschien vor fünf Jahren, und es ist frappierend, wie gering die Haltbarkeitsdauer eines literarischen Textes ist, der den Istzustand der vorhandenen Möglichkeiten als einzig gültiges Referenzsystem zulässt: Im Internet kennen sie sich alle bestens aus, besser, als ihnen gut tut; das Mobiltelefon ist ihnen quasi an den Händen festgewachsen – doch noch keine Spur von den mittlerweile alltagsbeherrschenden Netzwerken, von Facebook oder Apps, die sich ihre eigene soziale Realität schaffen.
Der JPod ist der Arbeitsraum einer Gruppe von sechs Programmierern, deren Nachnamen allesamt mit dem Buchstaben „J“ beginnen (das Resultat einer Computerpanne) und die gemeinsam an der Entwicklung eines Adventuregames arbeiten; allen voran der Ich-Erzähler Ethan Jarlewski. Mehr gibt es im Grunde nicht zu sagen. Der Rest ist ein pompöses Ideengewitter, das sich bereits nach kurzer Zeit so durchschaubar wie ermüdend gestaltet. Ethans Mutter treibt einen schwunghaften Handel mit illegalen Substanzen und bringt aus Versehen ihren jugendlichen Rocker-Liebhaber um die Ecke. Der Vater versucht sich als Schauspieler und sehnt sich nach einer Rolle in einem Werbespot, in der er auch einmal etwas sagen darf.
Es treten weiterhin auf: Ein chinesischer Menschenhändler, ein verkorkster Chef, der in das Abenteuerspiel unbedingt eine Schildkröte einbauen will, eine esoterische Kampflesbe sowie ein höchst unsympathischer Schriftsteller namens Douglas Coupland, der Ethan, als sich dieser auf einer Chinareise in einer ausweglosen Situation befindet, aus der Patsche hilft und sich diese Gefälligkeit mit dem Recht auf die Verwertung von Ethans Biographie bezahlen lässt. Sehr kokett und ziemlich eitel.
Ganz davon abgesehen hat Coupland damit ein schlechtes Geschäft gemacht. Im Großen und Ganzen ist eine Partie „Pacman“ wahrscheinlich unterhaltsamer als die Lektüre von „JPod“, eines Buches, das nicht mehr ist als ein mit Hilfe von Listen, Zahlenreihen und Symbolen auf mehr als 500 Seiten aufgemotztes Nerd-Theater mit kaum einem Funken von Originalität. Allenfalls einen Anflug von Situationskomik erzeugen Couplands „High-Functioning-Autisten“, wenn er sie von Level zu Level seines überschaubaren Szenarios hüpfen lässt. Gefährlich wird das zu keinem Zeitpunkt, für niemanden. Vielleicht ist es Couplands Fluch, dass man von ihm stets eine allgemeingültige und generationenspezifische Aussage erwartet. Der Erkenntnisgewinn von „JPod“ bleibt allerdings recht dünn: „Noch einmal spielen? J/N“, so steht es in fetten Lettern auf der letzten Seite des Romans. Ganz entschieden: N! CHRISTOPH SCHRÖDER
DOUGLAS COUPLAND: JPod. Roman. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Tropen Verlag, Stuttgart 2011. 520 Seiten, 24,95 Euro.
Auf der Höhe von Couplands Roman: Ein 2005 aktuelles Spielgerät Foto: dpa
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