Judas Iskariot hat sich durch eine einzige Tat tief in das kollektive Gedächtnis der Christenheit und der abendländischen Kultur eingegraben. Er ist zum Inbegriff geworden für Verrat und Treulosigkeit, für Habgier und Falschheit. Judas, das ist der andere - und zugleich ein Teil von mir, die Gefahr von außen - und zugleich das, wozu ich selbst fähig bin. Der Band stellt Judas in den Zusammenhang dessen, was wir historisch über Jesus von Nazareth und seinen Jüngerkreis wissen können, und zeichnet dann die Geschichte der Deutung der Judasgestalt bis zum heutigen Tag nach, die bereits bei den neutestamentlichen Texten beginnt und auch problematische antijüdische Züge enthält.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.12.2004Wir Sündenböcke
Verräter und Werkzeug der Heilsgeschichte: Martin Meiser stellt Judas als einen von uns vor
Der Name Judas ist zur Metapher für Verrat schlechthin geworden. Als konkreter Name ist er deshalb vom deutschen Namensgebungsgesetz untersagt, es darf nicht den und den Judas, sondern nur einen Judas geben. Was hat es mit Judas, diesem prototypischen Verräter und nach Augustinus Verkörperung des Juden, auf sich? Was die Judasfigur von den Kirchenvätern an über Dante, die Matthäuspassion, Klopstock, Goethe, Bulgakow bis hin zu Meditationen des protestantischen Theologen Helmut Gollwitzer, des katholischen Theologen Romano Guardini und Walter Jens „Der Fall Judas” spannend gemacht hat, ist seine Doppelfunktion: Nach einer vertrackten christlichen Logik ist er einerseits ein Verräter und andererseits als Verräter das Werkzeug des Himmels.
Über die historische Figur wissen wir nichts oder so gut wie nichts. Was die textkritischen Fragen betrifft, beispielsweise die nach der Deutung der Tat durch die Evangelisten, sieht die Lage um einiges besser aus. Jenseits und im Anschluss an sie sind die psychologischen und heilsgeschichtlichen Konstruktionen und Rekonstruktionen ins Kraut geschossen. Martin Meiser handelt in seiner Monographie die Judas-Geschichte nach Teilaspekten ab: die Tat des Judas, die Bezeichnung des Täters, Jesus in Gethsemane, die Gefangennahme Jesu, das Ende des Judas. Diese Aspekte stellt er jeweils anhand der vier Evangelien vor. Diese vergleichende Judas-Forschung ist besonders verdienstvoll.
Selige Reue
In der Rezeption ist die Kluft zwischen dem Verrat, also dem existentiellen Schaden, und dem Werkzeug der heilsgeschichtlichen Rechtfertigung dieser Tat nicht zu übersehen. Versuche, sie zu überbrücken, sind in theologischen Interpretationen eher selten - herausragend unter diesen Ausnahmen Vinzenz Ferrer, der dem Judas wegen seiner „wahrhaftigen Reuegesinnung” die ewige Seligkeit zuspricht -, in der Malerei und vor allem in der Lyrik aber häufiger anzutreffen.
Die Stärke des Buchs liegt in seiner Schwäche, dass der Autor lauter Judasbilder skizziert, ohne die Figur als „Denkfigur der Theologie” zu benutzen. Er vertritt den menschlich sympathischen Standpunkt, dass die „Judasse” die Regel und die „Nicht-Judasse” die Ausnahme seien, bezieht jedoch nicht wirklich eine Position, von der aus er die Widersprüche sei es ausgleichen, sei es transzendieren könnte. In seiner Bestandsaufnahme favorisiert er die existentialistische gegenüber der psychologisch verwerfenden und der heilsgeschichtlich rechtfertigenden Interpretation.
Drei Deutungsmöglichkeiten ergeben sich aus den drei Aspekten, dem heilsgeschichtlichen, dem psychologischen und dem existentialistischen. Die erste Möglichkeit: Das heilsgeschichtliche Werkzeug, das vor allem vom Autor des Johannesevangeliums unmittelbar ins Sakrament eingebaut wurde, ist die ewige Rechtfertigung des Judas: Ohne ihn gäbe es keine Heilsgeschichte. In Wirklichkeit jedoch hätte sich die Geschichte mit den Häschern, der jüdischen Obrigkeit und dem römischen Statthalter auch ohne den Judasverrat abspielen können.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, einen realen Verräter anzunehmen, an den sich eine Erinnerung über den Kreis der zwölf hinaus erhalten hat. Diese Erinnerung kann dann zu einer erbitterten Anklage gegen das Volk führen, dem die zwölf alle angehörten, dem Jesus selber angehörte, dem auch der Verräter angehörte. Um aber zwischen den Christen und den Juden einen signifikanten Unterschied zu machen, kann der „Judaskuss” als Argument für die Schlechtigkeit der jeweils anderen Seite herhalten.
Johannes bedient beide Möglichkeiten: durch die Kennzeichnung des Judas als Prototyp des Verräters lanciert er die Identifizierung von Judas und den Juden und ermöglicht theologisch eine folgenreiche Spaltung, den Schnitt zwischen den Juden, den Christus-Mördern, und den Christen, die auf das Opfer Jesu, das Selbstopfer, das Vateropfer und das Opfer in seiner Nachfolge setzen. Der Verfasser favorisiert die dritte Möglichkeit: die Einbindung des Judas ins Sakrament existentialistisch aufzufassen. Nicht die elf anderen Jünger sind die Mehrheit, sondern wir. Wenn wir Judas dort sitzen sehen, ist er in der Christusnachfolge und wir, die wir uns mit Christus identifiziert haben, sind alle der Judas. Diese Judasfigur enthält ein politisches Protestpotential für die Outcasts dieser Erde.
Die Figur im Johannesevangelium ist jedoch komplizierter. Jesus taucht ihm den Bissen ein. Es ist ganz und gar die Aktivität Jesu, nicht die des Judas, und Jesus stigmatisiert ihn mit dem Sakrament: Da jedes Abendmahl eine Wiederholung ist, ist Judas immer präsent. Daraus kann zweierlei gefolgert werden: Rottet die Juden aus, damit es keine Präsenz des Judas beim Abendmahl mehr geben muss. Die andere Möglichkeit ist, zu sagen: Wenn er immer präsent ist, dann gehört er ins Heilsversprechen, und ihr müsst den, den ihr ausgeschieden habt, auch wieder hereinholen.
Die beste psychoanalytische Übersetzung von „Judas” würde lauten: „die Christen”. Mit dieser Deutung ist eine Lektüre verbunden, die die Evangelien nicht verdinglicht, sondern in ihnen nach außen gespiegelte Binnengeschehnisse lesen kann, beispielsweise den mit der ersten Missionspredigt unvermeidlich entstehenden Antisemitismus. Unbewusst ist alles richtig dargestellt, aber nach außen verlagert. Nach dieser Lesart sind wir alle dann in der Tat der Judas, aber weniger als politisch Korrekte, sondern durch das fundamentum in re, die omnipräsenten Schuldgefühle, die auf einen Sündenbock abgeleitet werden.
Dennoch bleibt eigenartig, dass sich eine Ingroup von „Christen”, die sich doch nach außen eigentlich souverän präsentieren müsste, um sich für andere attraktiv zu machen, stattdessen nicht verheimlicht, dass sich im innersten Kern ein Verleugner - Petrus - und ein Verräter - Judas - befinden. Sieht das nicht gerade so aus, als ob es ein Versuch wäre, mit der Judasfigur die Destruktivität im Inneren zu integrieren?
Die schuldige Gemeinde
Diese Lesart ist abwegig, könnte der Interpret der Wirkungsgeschichte sagen, denn diese erläutert den Text. Und doch könnte es eine Doppelmotivation gewesen sein: Gerade weil sich die Gemeinde als schuldhaftes Subjekt an den Anfang gesetzt hat, will sie dies später um keinen Preis mehr sein und veräußerlicht ihre eigene Destruktivität in den Judas, den Juden. Im übrigen haben die synoptischen Evangelien die Urgemeinde nicht idealisiert. Das blieb dem Johannes-Evangelium vorbehalten. Die Offenheit, mit der die Fehler in diesen Texten zu Tage liegen, der Mangel an Idealisierung liegt wohl auch daran, dass es eben die Urkirche nicht gegeben hat, sondern von vornherein eine Pluralität von Ur-Gemeinden.
Martin Meiser ist zu danken, dass er diese Figur, die viele Fragen hervortreibt und so viele offen lassen muss, auch für Leser, die nicht mehr bibelfest sind, in einem gut verständlichen Vergleich vorgestellt hat.
CAROLINE NEUBAUR
MARTIN MEISER: Judas Iskarioth. Einer von uns. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2004. 198 S., 14.80 Euro.
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Verräter und Werkzeug der Heilsgeschichte: Martin Meiser stellt Judas als einen von uns vor
Der Name Judas ist zur Metapher für Verrat schlechthin geworden. Als konkreter Name ist er deshalb vom deutschen Namensgebungsgesetz untersagt, es darf nicht den und den Judas, sondern nur einen Judas geben. Was hat es mit Judas, diesem prototypischen Verräter und nach Augustinus Verkörperung des Juden, auf sich? Was die Judasfigur von den Kirchenvätern an über Dante, die Matthäuspassion, Klopstock, Goethe, Bulgakow bis hin zu Meditationen des protestantischen Theologen Helmut Gollwitzer, des katholischen Theologen Romano Guardini und Walter Jens „Der Fall Judas” spannend gemacht hat, ist seine Doppelfunktion: Nach einer vertrackten christlichen Logik ist er einerseits ein Verräter und andererseits als Verräter das Werkzeug des Himmels.
Über die historische Figur wissen wir nichts oder so gut wie nichts. Was die textkritischen Fragen betrifft, beispielsweise die nach der Deutung der Tat durch die Evangelisten, sieht die Lage um einiges besser aus. Jenseits und im Anschluss an sie sind die psychologischen und heilsgeschichtlichen Konstruktionen und Rekonstruktionen ins Kraut geschossen. Martin Meiser handelt in seiner Monographie die Judas-Geschichte nach Teilaspekten ab: die Tat des Judas, die Bezeichnung des Täters, Jesus in Gethsemane, die Gefangennahme Jesu, das Ende des Judas. Diese Aspekte stellt er jeweils anhand der vier Evangelien vor. Diese vergleichende Judas-Forschung ist besonders verdienstvoll.
Selige Reue
In der Rezeption ist die Kluft zwischen dem Verrat, also dem existentiellen Schaden, und dem Werkzeug der heilsgeschichtlichen Rechtfertigung dieser Tat nicht zu übersehen. Versuche, sie zu überbrücken, sind in theologischen Interpretationen eher selten - herausragend unter diesen Ausnahmen Vinzenz Ferrer, der dem Judas wegen seiner „wahrhaftigen Reuegesinnung” die ewige Seligkeit zuspricht -, in der Malerei und vor allem in der Lyrik aber häufiger anzutreffen.
Die Stärke des Buchs liegt in seiner Schwäche, dass der Autor lauter Judasbilder skizziert, ohne die Figur als „Denkfigur der Theologie” zu benutzen. Er vertritt den menschlich sympathischen Standpunkt, dass die „Judasse” die Regel und die „Nicht-Judasse” die Ausnahme seien, bezieht jedoch nicht wirklich eine Position, von der aus er die Widersprüche sei es ausgleichen, sei es transzendieren könnte. In seiner Bestandsaufnahme favorisiert er die existentialistische gegenüber der psychologisch verwerfenden und der heilsgeschichtlich rechtfertigenden Interpretation.
Drei Deutungsmöglichkeiten ergeben sich aus den drei Aspekten, dem heilsgeschichtlichen, dem psychologischen und dem existentialistischen. Die erste Möglichkeit: Das heilsgeschichtliche Werkzeug, das vor allem vom Autor des Johannesevangeliums unmittelbar ins Sakrament eingebaut wurde, ist die ewige Rechtfertigung des Judas: Ohne ihn gäbe es keine Heilsgeschichte. In Wirklichkeit jedoch hätte sich die Geschichte mit den Häschern, der jüdischen Obrigkeit und dem römischen Statthalter auch ohne den Judasverrat abspielen können.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, einen realen Verräter anzunehmen, an den sich eine Erinnerung über den Kreis der zwölf hinaus erhalten hat. Diese Erinnerung kann dann zu einer erbitterten Anklage gegen das Volk führen, dem die zwölf alle angehörten, dem Jesus selber angehörte, dem auch der Verräter angehörte. Um aber zwischen den Christen und den Juden einen signifikanten Unterschied zu machen, kann der „Judaskuss” als Argument für die Schlechtigkeit der jeweils anderen Seite herhalten.
Johannes bedient beide Möglichkeiten: durch die Kennzeichnung des Judas als Prototyp des Verräters lanciert er die Identifizierung von Judas und den Juden und ermöglicht theologisch eine folgenreiche Spaltung, den Schnitt zwischen den Juden, den Christus-Mördern, und den Christen, die auf das Opfer Jesu, das Selbstopfer, das Vateropfer und das Opfer in seiner Nachfolge setzen. Der Verfasser favorisiert die dritte Möglichkeit: die Einbindung des Judas ins Sakrament existentialistisch aufzufassen. Nicht die elf anderen Jünger sind die Mehrheit, sondern wir. Wenn wir Judas dort sitzen sehen, ist er in der Christusnachfolge und wir, die wir uns mit Christus identifiziert haben, sind alle der Judas. Diese Judasfigur enthält ein politisches Protestpotential für die Outcasts dieser Erde.
Die Figur im Johannesevangelium ist jedoch komplizierter. Jesus taucht ihm den Bissen ein. Es ist ganz und gar die Aktivität Jesu, nicht die des Judas, und Jesus stigmatisiert ihn mit dem Sakrament: Da jedes Abendmahl eine Wiederholung ist, ist Judas immer präsent. Daraus kann zweierlei gefolgert werden: Rottet die Juden aus, damit es keine Präsenz des Judas beim Abendmahl mehr geben muss. Die andere Möglichkeit ist, zu sagen: Wenn er immer präsent ist, dann gehört er ins Heilsversprechen, und ihr müsst den, den ihr ausgeschieden habt, auch wieder hereinholen.
Die beste psychoanalytische Übersetzung von „Judas” würde lauten: „die Christen”. Mit dieser Deutung ist eine Lektüre verbunden, die die Evangelien nicht verdinglicht, sondern in ihnen nach außen gespiegelte Binnengeschehnisse lesen kann, beispielsweise den mit der ersten Missionspredigt unvermeidlich entstehenden Antisemitismus. Unbewusst ist alles richtig dargestellt, aber nach außen verlagert. Nach dieser Lesart sind wir alle dann in der Tat der Judas, aber weniger als politisch Korrekte, sondern durch das fundamentum in re, die omnipräsenten Schuldgefühle, die auf einen Sündenbock abgeleitet werden.
Dennoch bleibt eigenartig, dass sich eine Ingroup von „Christen”, die sich doch nach außen eigentlich souverän präsentieren müsste, um sich für andere attraktiv zu machen, stattdessen nicht verheimlicht, dass sich im innersten Kern ein Verleugner - Petrus - und ein Verräter - Judas - befinden. Sieht das nicht gerade so aus, als ob es ein Versuch wäre, mit der Judasfigur die Destruktivität im Inneren zu integrieren?
Die schuldige Gemeinde
Diese Lesart ist abwegig, könnte der Interpret der Wirkungsgeschichte sagen, denn diese erläutert den Text. Und doch könnte es eine Doppelmotivation gewesen sein: Gerade weil sich die Gemeinde als schuldhaftes Subjekt an den Anfang gesetzt hat, will sie dies später um keinen Preis mehr sein und veräußerlicht ihre eigene Destruktivität in den Judas, den Juden. Im übrigen haben die synoptischen Evangelien die Urgemeinde nicht idealisiert. Das blieb dem Johannes-Evangelium vorbehalten. Die Offenheit, mit der die Fehler in diesen Texten zu Tage liegen, der Mangel an Idealisierung liegt wohl auch daran, dass es eben die Urkirche nicht gegeben hat, sondern von vornherein eine Pluralität von Ur-Gemeinden.
Martin Meiser ist zu danken, dass er diese Figur, die viele Fragen hervortreibt und so viele offen lassen muss, auch für Leser, die nicht mehr bibelfest sind, in einem gut verständlichen Vergleich vorgestellt hat.
CAROLINE NEUBAUR
MARTIN MEISER: Judas Iskarioth. Einer von uns. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2004. 198 S., 14.80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Name Judas gilt als Metapher schlechthin für Verrat und ist aus diesem Grunde vom deutschen Namensgebungsgesetz untersagt, teilt Caroline Neubaur mit. Seit je habe der "Fall Judas" zu theologisch-moralischen Betrachtungen Anlass gegeben, das reiche von den Kirchenvätern bis zu Walter Jens, von Goethe bis Bulgakow, umreißt Neubaur die Interpretenriege. Spannend an Judas sei seine Doppelfunktion, schreibt Neubaur: dass er einerseits als Verräter galt, andererseits aber auch als göttliches Werkzeug. Daran haben sich vor allem die vier Evangelisten abgearbeitet, deren Sichtweise Martin Meiser in seiner verdienstvollen vergleichenden Judas-Abhandlung untersucht. Die Stärke des Buches sei zugleich seine Schwäche, fasst Neubaur zusammen; ihres Erachtens trägt Meiser eine Vielzahl von Judasbildern zusammen, "ohne die Figur als 'Denkfigur der Theologie' zu benutzen". Meiser vertrete die Position, dass wir im Grunde alle Judasse seien, eine existenzialistische Sichtweise, die Neubaur zwar sympathisch findet, die ihr aber letztlich inhaltlich zu wenig Position bezieht gegenüber der "heilsgeschichtlich rechtfertigenden" Variante beziehungsweise der "psychologisch verwerfenden" Interpretation.
© Perlentaucher Medien GmbH
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