Jude Fawley, Steinmetz, von seiner Frau verlassen, trifft in Christminster seine verheiratete Cousine Sue Bridehead. Sie wird die Leidenschaft seines Lebens. Für die Gesellschaft bleiben sie durch ihre "wilde Ehe" geächtet. Doch als Judes Frau Arabella den gemeinsamen Sohn aus Australien schickt und Jude und Sue ihn mit den eigenen Kindern aufziehen wollen, beginnt eine Tragödie auf Leben und Tod. Thomas Hardys größtes Werk weckte im England des 19. Jahrhunderts einen solchen Entrüstungssturm, dass er nie wieder einen Roman schrieb. Eine der dramatischsten, leidenschaftlichsten Liebesgeschichten in der englischen Literatur - in der packenden Neuübersetzung von Alexander Pechmann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2018Das tiefe Leid des alten Kindes
Bildung als Mittel zum sozialen Aufstieg: In Thomas Hardys Roman funktioniert das nicht.
Es klingt wie eine dieser Geschichten, die das neunzehnte Jahrhundert so liebte, von der die Leser nicht genug bekamen und die sich die Autoren zu schreiben beeilten: Ein Junge wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, hat aber von Kindheit an einen Drang zu Höherem, in diesem Fall zur klassischen Bildung. Er folgt dem Beispiel seines geliebten Dorfschullehrers Phillotson, der ihn verlässt, um dorthin zu gehen, wo diese Bildung zu Hause ist: ins nahe Christminster, dessen schimmernde Kuppeln der Junge dann immer wieder von einem Hügel bestaunt. Er lernt das Steinmetzhandwerk, daneben Latein und Altgriechisch im Selbststudium, und eines Tages wird der langgehegte Traum Wirklichkeit: Jude Fawley, strotzend vor Energie und Wissen, läuft durch die Straßen von Christminster, bereit, sein Studium aufzunehmen.
Dass gleichwohl etwas mit der Geschichte nicht stimmt, dass Jude Fawley eben kein David Copperfield ist und dass kein gütiger Autor die Dinge für ihn zurechtrückt, ahnt man als Leser von Thomas Hardys Roman "Jude Fawley, der Unbekannte" (1894/95) durchaus. Nicht nur, weil Hardy das Geschehen zwar im vertrauten Berkshire ansiedelt, die reale Topographie aber gern hinter fiktiven Namen verbirgt, allen voran Oxford, das zum Vorbild jenes Sehnsuchtsorts Christminster wird. Da sind auch Stimmen, die Jude früh vor allzu hochgesteckten Zielen warnen, etwa im Heimatdorf seine Großtante Drusilla. Oder das Beispiel jenes Lehrers, der dem elfjährigen Jude einst davon vorgeschwärmt hatte, "einen akademischen Titel zu erwerben, um dann Priester zu werden", und es, wie Jude später feststellen muss, damals dann doch nicht nach Christminster geschafft hat, sondern nur in einem anderen Nest wieder einfacher Dorfschullehrer geworden ist.
Zum Warnzeichen aber avanciert recht spät im Roman die Ankunft eines seltsamen Kindes, vielleicht eines der seltsamsten, das die daran nicht eben arme Literatur des neunzehnten Jahrhunderts zu bieten hat: Jude, inzwischen erwachsen, hat früh und unbedacht eine Ehe geschlossen, die sich aparterweise durch den Wurf seiner späteren Frau Arabella mit einem Ferkelglied auf den vorüberlaufenden jungen Mann anbahnte. Arabella verlässt Jude und schifft sich nach Australien ein, wo sie einen anderen heiratet, ohne von Jude geschieden zu sein.
Eines Tages steht ein ängstliches Kind vor Jude, dem die Einsamkeit aus den Augen leuchtet, das nie getauft wurde und auf den Spitznamen "Väterchen Zeit" hört, "weil ich so alt aussehe", wie er Jude erklärt. Kein Zweifel, an dem Kind ist etwas gutzumachen. Sein Vater und dessen Freundin Sue sind dazu auch bereit, völlig ungeachtet der leisen Zweifel, die bezüglich der biologischen Vaterschaft bleiben. "Wenn man es sich genau überlegt", sagt Jude, "was macht es für einen Unterschied, ob ein Kind von dir abstammt oder nicht? All die Kleinen unserer Zeit sind die Kinder von uns Erwachsenen dieser Zeit und haben das Recht auf unsere uneingeschränkte Fürsorge." Auf diese Rede antwortet Sue mit einem Kuss "mit leidenschaftlicher Hingabe" und den Worten: "Genau, Liebster! Und wir nehmen ihn bei uns auf!"
Zu diesem Zeitpunkt hat Jude selbst schon erfahren müssen, dass er, schließlich in Christminster angekommen und gebildeter als die allermeisten Studenten, auf keinem College akzeptiert wird. Wie schreiend ungerecht das ist, versteht der Leser rasch, während Jude einige Zeit braucht, um die Endgültigkeit dieser Zurückweisung zu begreifen. Dass seine hohen Ambitionen von einer hohen Moral begleitet werden, die ihn immer wieder in Konflikte stürzt zwischen dem, was er für sich wünscht, und dem, was er als moralisch einwandfrei ansieht, macht die Sache nicht einfacher. Als er sich in Sue verliebt, ist er verheiratet, und der leichtfertige Umgang mit der Ehe, den Arabella an den Tag legt, ist ihm zuwider. Auch Sue heiratet, und selbst nachdem beide geschieden sind, ist der Weg zum gemeinsamen Glück schließlich verbaut - die Frage, welchen Anteil die beiden daran haben, welchen die Gesellschaft und welchen das Schicksal, ist zentral für den Roman, der es weder den Lesern noch den Protagonisten leichtmacht und das auch gar nicht könnte.
Die Geschichte vom sozialen Aufstieg durch Bildung also erweist sich hier als Märchen, und wenn Thomas Hardy die angebliche Unmoral seiner Geschichte verübelt worden ist, dann dürfte dahinter auch zu einem gehörigen Teil jenes Unbehagen stecken, das einen überkommt, wenn man es unversehens mit einer durch Klassendenken genährten Ungerechtigkeit zu tun bekommt - der Verlauf der Romanhandlung jedenfalls dürfte sich stark von den Erwartungen der zeitgenössischen Leser unterschieden haben.
Und natürlich ist da noch "Väterchen Zeit". Als Jude und Sue ihn bei sich aufnehmen, kurz nachdem sie überhaupt von der Existenz des Jungen erfahren haben, schmiedet der Vater sofort Pläne für das Kind: Er selbst habe es ja nicht geschafft, der Sohn aber solle von Anfang an in den Genuss von Bildung kommen, um dann zu vollenden, woran der Vater gehindert wurde.
Dass es ganz anders kommt, hat viel mit der einsetzenden Hoffnungslosigkeit der Eltern zu tun. Es ist der beeindruckenden Wucht dieses Romans geschuldet, dass der Mehltau dieser Verhältnisse auch für den Leser unmittelbar spürbar wird.
TILMAN SPRECKELSEN
Thomas Hardy: "Jude Fawley, der Unbekante". Roman.
Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Carl Hanser Verlag, München 2018. 640 S., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bildung als Mittel zum sozialen Aufstieg: In Thomas Hardys Roman funktioniert das nicht.
Es klingt wie eine dieser Geschichten, die das neunzehnte Jahrhundert so liebte, von der die Leser nicht genug bekamen und die sich die Autoren zu schreiben beeilten: Ein Junge wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, hat aber von Kindheit an einen Drang zu Höherem, in diesem Fall zur klassischen Bildung. Er folgt dem Beispiel seines geliebten Dorfschullehrers Phillotson, der ihn verlässt, um dorthin zu gehen, wo diese Bildung zu Hause ist: ins nahe Christminster, dessen schimmernde Kuppeln der Junge dann immer wieder von einem Hügel bestaunt. Er lernt das Steinmetzhandwerk, daneben Latein und Altgriechisch im Selbststudium, und eines Tages wird der langgehegte Traum Wirklichkeit: Jude Fawley, strotzend vor Energie und Wissen, läuft durch die Straßen von Christminster, bereit, sein Studium aufzunehmen.
Dass gleichwohl etwas mit der Geschichte nicht stimmt, dass Jude Fawley eben kein David Copperfield ist und dass kein gütiger Autor die Dinge für ihn zurechtrückt, ahnt man als Leser von Thomas Hardys Roman "Jude Fawley, der Unbekannte" (1894/95) durchaus. Nicht nur, weil Hardy das Geschehen zwar im vertrauten Berkshire ansiedelt, die reale Topographie aber gern hinter fiktiven Namen verbirgt, allen voran Oxford, das zum Vorbild jenes Sehnsuchtsorts Christminster wird. Da sind auch Stimmen, die Jude früh vor allzu hochgesteckten Zielen warnen, etwa im Heimatdorf seine Großtante Drusilla. Oder das Beispiel jenes Lehrers, der dem elfjährigen Jude einst davon vorgeschwärmt hatte, "einen akademischen Titel zu erwerben, um dann Priester zu werden", und es, wie Jude später feststellen muss, damals dann doch nicht nach Christminster geschafft hat, sondern nur in einem anderen Nest wieder einfacher Dorfschullehrer geworden ist.
Zum Warnzeichen aber avanciert recht spät im Roman die Ankunft eines seltsamen Kindes, vielleicht eines der seltsamsten, das die daran nicht eben arme Literatur des neunzehnten Jahrhunderts zu bieten hat: Jude, inzwischen erwachsen, hat früh und unbedacht eine Ehe geschlossen, die sich aparterweise durch den Wurf seiner späteren Frau Arabella mit einem Ferkelglied auf den vorüberlaufenden jungen Mann anbahnte. Arabella verlässt Jude und schifft sich nach Australien ein, wo sie einen anderen heiratet, ohne von Jude geschieden zu sein.
Eines Tages steht ein ängstliches Kind vor Jude, dem die Einsamkeit aus den Augen leuchtet, das nie getauft wurde und auf den Spitznamen "Väterchen Zeit" hört, "weil ich so alt aussehe", wie er Jude erklärt. Kein Zweifel, an dem Kind ist etwas gutzumachen. Sein Vater und dessen Freundin Sue sind dazu auch bereit, völlig ungeachtet der leisen Zweifel, die bezüglich der biologischen Vaterschaft bleiben. "Wenn man es sich genau überlegt", sagt Jude, "was macht es für einen Unterschied, ob ein Kind von dir abstammt oder nicht? All die Kleinen unserer Zeit sind die Kinder von uns Erwachsenen dieser Zeit und haben das Recht auf unsere uneingeschränkte Fürsorge." Auf diese Rede antwortet Sue mit einem Kuss "mit leidenschaftlicher Hingabe" und den Worten: "Genau, Liebster! Und wir nehmen ihn bei uns auf!"
Zu diesem Zeitpunkt hat Jude selbst schon erfahren müssen, dass er, schließlich in Christminster angekommen und gebildeter als die allermeisten Studenten, auf keinem College akzeptiert wird. Wie schreiend ungerecht das ist, versteht der Leser rasch, während Jude einige Zeit braucht, um die Endgültigkeit dieser Zurückweisung zu begreifen. Dass seine hohen Ambitionen von einer hohen Moral begleitet werden, die ihn immer wieder in Konflikte stürzt zwischen dem, was er für sich wünscht, und dem, was er als moralisch einwandfrei ansieht, macht die Sache nicht einfacher. Als er sich in Sue verliebt, ist er verheiratet, und der leichtfertige Umgang mit der Ehe, den Arabella an den Tag legt, ist ihm zuwider. Auch Sue heiratet, und selbst nachdem beide geschieden sind, ist der Weg zum gemeinsamen Glück schließlich verbaut - die Frage, welchen Anteil die beiden daran haben, welchen die Gesellschaft und welchen das Schicksal, ist zentral für den Roman, der es weder den Lesern noch den Protagonisten leichtmacht und das auch gar nicht könnte.
Die Geschichte vom sozialen Aufstieg durch Bildung also erweist sich hier als Märchen, und wenn Thomas Hardy die angebliche Unmoral seiner Geschichte verübelt worden ist, dann dürfte dahinter auch zu einem gehörigen Teil jenes Unbehagen stecken, das einen überkommt, wenn man es unversehens mit einer durch Klassendenken genährten Ungerechtigkeit zu tun bekommt - der Verlauf der Romanhandlung jedenfalls dürfte sich stark von den Erwartungen der zeitgenössischen Leser unterschieden haben.
Und natürlich ist da noch "Väterchen Zeit". Als Jude und Sue ihn bei sich aufnehmen, kurz nachdem sie überhaupt von der Existenz des Jungen erfahren haben, schmiedet der Vater sofort Pläne für das Kind: Er selbst habe es ja nicht geschafft, der Sohn aber solle von Anfang an in den Genuss von Bildung kommen, um dann zu vollenden, woran der Vater gehindert wurde.
Dass es ganz anders kommt, hat viel mit der einsetzenden Hoffnungslosigkeit der Eltern zu tun. Es ist der beeindruckenden Wucht dieses Romans geschuldet, dass der Mehltau dieser Verhältnisse auch für den Leser unmittelbar spürbar wird.
TILMAN SPRECKELSEN
Thomas Hardy: "Jude Fawley, der Unbekante". Roman.
Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Carl Hanser Verlag, München 2018. 640 S., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das Leben ist möglich ohne die Lektüre von Thomas Hardy, man hat aber weniger davon und hält es schlechter aus." Elmar Krekeler, Die Welt, 20.07.2015
"Es ist der beeindruckenden Wucht dieses Romans geschuldet, dass der Mehltau dieser Verhältnisse auch für den Leser unmittelbar spürbar wird." Tilman Spreckelsen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.2018
"Es ist der beeindruckenden Wucht dieses Romans geschuldet, dass der Mehltau dieser Verhältnisse auch für den Leser unmittelbar spürbar wird." Tilman Spreckelsen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.2018