Judith und Hamnet
Roman Ausgezeichnet mit dem Women's Prize for Fiction 2020 und British Book Award 2021
Übersetzung:Mittag, Anne-Kristin
Judith und Hamnet
Roman Ausgezeichnet mit dem Women's Prize for Fiction 2020 und British Book Award 2021
Übersetzung:Mittag, Anne-Kristin
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Über ein halbes Jahr in den Top 10 der Sunday Times
Einer der fünf besten Romane des Jahres der New York Times
»Maggie O'Farrell erzählt eine der spannendsten Geschichten überhaupt: die Geschichte, wie aus Leben Literatur wird. Magisch!« Denis Scheck
Agnes sieht ihn und weiß: Das wird er sein. Dabei ist der schmächtige Lateinlehrer aus Stratford-upon-Avon noch nicht einmal achtzehn. Egal, besser, sie küsst ihn schnell. Besser, sie erwartet ein Kind, bevor ihr einer die Heirat verbieten kann. Vierzehn Jahre später sind es drei Kinder geworden. Doch wie sollen sie auskommen, solange ihr…mehr
- Maggie O'FarrellJudith und Hamnet14,00 €
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Einer der fünf besten Romane des Jahres der New York Times
»Maggie O'Farrell erzählt eine der spannendsten Geschichten überhaupt: die Geschichte, wie aus Leben Literatur wird. Magisch!« Denis Scheck
Agnes sieht ihn und weiß: Das wird er sein. Dabei ist der schmächtige Lateinlehrer aus Stratford-upon-Avon noch nicht einmal achtzehn. Egal, besser, sie küsst ihn schnell. Besser, sie erwartet ein Kind, bevor ihr einer die Heirat verbieten kann. Vierzehn Jahre später sind es drei Kinder geworden. Doch wie sollen sie auskommen, solange ihr Mann wer weiß was mit diesen Theaterstücken treibt? Er ist in London, als der elfjährige Hamnet die Beulen am Hals seiner Zwillingsschwester Judith ertastet. Als Agnes im Blick ihres Sohnes den Schwarzen Tod erkennt.
Maggie O'Farrell entdeckt den bedeutendsten aller Dramatiker neu, als Liebenden und als Vater. Vor allem aber erzählt sie zum ersten Mal die unvergessliche Geschichte seiner eigensinnigen, zärtlich kühnen Frau: Agnes.
»Judith und Hamnet verknüpft auf grandiose Weise Liebe und Tod, untröstliche Trauer und Hoffnung, Hamnets einsames Sterben und sein Fortleben im Werk des abwesenden Vaters.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Maggie O'Farrell ist eine absolute Ausnahmeerscheinung. Offenbar kann sie beim Schreiben so ziemlich alles tun, was sie will.« The Guardian
»Judith und Hamnet ist ein brillanter Roman.« Süddeutsche Zeitung
»O'Farrells Geniestreich besteht darin, die Spärlichkeit der Informationen über Shakespeares Privatleben als literarische Chance zu begreifen - und in der Verbindung, die sie zwischen seinem toten Sohn und seinem großartigsten Stück herstellt.« The New York Times
»Was Maggie O'Farrells Schaffen auf eine andere Stufe hebt, sind ihre scharfsinnige Beobachtungsgabe und ihre Figuren, so herzzerreißend lebendig, dass man sie manchmal direkt in den Arm nehmen will.« The Sunday Times
»Es gibt Bücher, die stoßen eine Tür auf und schubsen einen hinein in ein Jetzt, das so nah, so absolut erscheint wie der eigene Herzschlag. Jede Zeile hat bei Maggie O'Farrell etwas Pulsierendes, und zugleich spürt man in jedem Moment, wie fragil der Lebensstrom ist und dass jede Fülle plötzlich vorbei sein kann.« Brigitte
»Maggie O'Farrell gelingt es meisterlich, sich in die Gefühle von Agnes, einer Frau, die im 16. Jahrhundert lebte, hineinzuversetzen.« Deutschlandfunk
»Eine zu Tränen rührende und doch tröstliche Geschichte über Liebe und Tod in Pandemie-Zeiten.« MDR Kultur
»Ein Buch wie ein schimmerndes Wunder.« David Mitchell
- Produktdetails
- Verlag: Piper
- Originaltitel: Hamnet
- 6. Aufl.
- Seitenzahl: 416
- Erscheinungstermin: 14. September 2020
- Deutsch
- Abmessung: 129mm x 204mm x 40mm
- Gewicht: 512g
- ISBN-13: 9783492070362
- ISBN-10: 3492070361
- Artikelnr.: 58975719
- Verlag: Piper
- Originaltitel: Hamnet
- 6. Aufl.
- Seitenzahl: 416
- Erscheinungstermin: 14. September 2020
- Deutsch
- Abmessung: 129mm x 204mm x 40mm
- Gewicht: 512g
- ISBN-13: 9783492070362
- ISBN-10: 3492070361
- Artikelnr.: 58975719
indem er sich an der Wand entlangschiebt
eine Stufe nach der anderen mit polternden Stiefelschritten. Beinahe am Fuß der Treppe hält er kurz inne und schielt noch einmal über die Schulter hinauf
ehe er kurz entschlossen die letzten drei Stufen überspringt
wie er es immer tut. Beim Aufkommen stolpert er und schlägt mit den Knien auf dem Steinfußboden auf. Es ist ein drückender
windstiller Tag im Spätsommer. Lange Bahnen aus Licht fallen durch das Zimmer im Erdgeschoss
und von draußen brennt die Sonne herein
sodass die Fenster wie vergitterte Platten Gelb im Putz leuchten. Er steht auf und reibt sich die Knie. Blickt hierhin
die Treppe hoch. Blickt dorthin
ratlos
welchen Weg er einschlagen soll. Das Zimmer ist leer. Nur das Feuer schwelt auf seinem Rost vor sich hin
orangefarbene Glut unter zart aufsteigenden Rauchspiralen. Die wunden Knie des Jungen pochen im Takt seines Herzschlags. Er verharrt mit einer Hand auf dem Riegel der Treppentür
die verschrammte lederne Spitze seines Stiefels in der Luft
bereit zum Sprung
zur Flucht. Seine hellen
beinahe goldenen Haare stehen ihm in kleinen Büscheln vom Kopf ab. Es ist niemand da. Er seufzt
atmet tief die warme
staubige Luft ein und geht durchs Zimmer zur Haustür und auf die Straße hinaus. Vom Lärm der Wagen
Pferde
Händler und anderen Menschen
die einander zurufen
von einem Mann
der einen Sack aus dem ersten Stock wirft
bekommt er nichts mit. Der Junge schlendert am Haus entlang und in den nächsten Eingang hinein. Bei seinen Großeltern riecht es nach der ewig gleichen Mischung aus Holzrauch
Politur
Leder und Wolle
ähnlich und doch auf unbestimmbare Weise anders als in dem angrenzenden Zweizimmerhäuschen
das sein Großvater in eine schmale Lücke neben das größere Haus gebaut hat. Dort wohnt der Junge mit seiner Mutter und seinen Schwestern. Manchmal wundert er sich darüber
schließlich sind die beiden Wohnungen nur durch eine dünne Flechtwand getrennt
und trotzdem hat die Luft hier eine andere Note
einen anderen Geruch und eine andere Temperatur. In diesem Haus pfeift es förmlich
so quirlig ist der Durchzug
so laut das Klopfen und Hämmern aus der Werkstatt seines Großvaters
das Pochen und Rufen der Kunden am Fenster
das lärmende Treiben auf dem Hinterhof
das Kommen und Gehen seiner Onkel. Doch heute nicht. Der Junge steht im Durchgang und lauscht auf ein Lebenszeichen. Von hier aus kann er erkennen
dass die Werkstatt zu seiner Rechten leer ist. Die Hocker an den Werkbänken sind verwaist
die Werkzeuge liegen unbenutzt da
während die Handschuhe auf der Ablage daneben aussehen wie absichtlich hinterlassene Handabdrücke. Das Verkaufsfenster ist geschlossen und fest verriegelt. Niemand ist im Speisezimmer zu seiner Linken. Auf dem langen Tisch ein Stoß Servietten
eine unangezündete Kerze
ein Haufen Federn. Mehr nicht. Aus seiner Kehle dringt ein Ruf
ein fragendes Geräusch. Einmal
zweimal gibt er diesen Laut von sich und wartet mit schief gelegtem Kopf auf eine Antwort. Nichts. Nur das Knarren von Holzbalken
die sich sanft in der Sonne ausdehnen
das Seufzen eines Lufthauchs unter Türen und von Zimmer zu Zimmer
das Wispern von Leintüchern
das Knacken des Feuers
die unbestimmbaren Geräusche eines Hauses
das im Stillstand ist
leer. Seine Finger krampfen sich um das Eisen der Türklinke. Die Hitze des Tages treibt ihm selbst jetzt noch den Schweiß auf die Stirn und den Rücken hinunter. Der Schmerz in seinen Knien wird stärker
stechend und verfliegt wieder. Der Junge öffnet den Mund. Einen nach dem andern ruft er die Namen aller
die hier wohnen. Seine Großmutter. Die Magd. Seine Onkel. Seine Tante. Den Lehrling. Seinen Großvater. Der Junge probiert sie nacheinander durch
und kurz kommt ihm sogar der Gedanke
seinen Vater zu rufen
nach ihm zu schreien
doch der Vater ist Meilen und Stunden und Tage weit weg in London
wo der Junge noch nie war. Aber wo
fragt er sich
sind seine Mutter
seine große Schwester
seine Großmutter
seine Onkel? Wo ist die Magd? Wo sein Großvater
der tagsüber eigentlich immer zu Hause ist und für gewöhnlich in der Werkstatt dabei anzutreffen
wie er seinen Lehrling schikaniert oder seine Einnahmen notiert? Wo sind denn alle? Wie können nur beide Häuser leer sein? Der Junge wandert den Durchgang entlang. An der Tür zur Werkstatt bleibt er stehen und wirft einen prüfenden Blick über die Schulter
ehe er eintritt. Die Handschuhwerkstatt seines Großvaters darf er nur sehr selten betreten. Es ist sogar verboten
in der Tür haltzumachen. »Steh da nicht bloß untätig herum«
brüllt sein Großvater dann. »Kann ein Mensch nicht mal ein ehrliches Stück Arbeit verrichten
ohne dass die Leute stehen bleiben und ihn angaffen? Hast du nichts Besseres zu tun
als da herumzulungern und Maulaffen feilzuhalten?« Hamnet hat einen raschen Verstand: Dem Schulunterricht kann er mühelos folgen. Er erfasst Sinn und Logik dessen
was ihm gesagt wird
und er kann sich Dinge ohne Weiteres einprägen. Verben und Grammatik und Zeitformen und Rhetorik und Zahlen und Rechenergebnisse kann er sich so leicht ins Gedächtnis rufen
dass dies gelegentlich den Neid der anderen Jungen weckt. Ebenso leicht lässt er sich aber auch ablenken. Ein Karren
der während einer Griechischstunde auf der Straße vorbeifährt
lässt seine Gedanken unweigerlich von der Schiefertafel abschweifen. Er grübelt
wohin der Karren wohl unterwegs und mit was er beladen sein könnte
und dann das eine Mal
als sein Onkel ihn und seine Schwestern auf einem Heuwagen mitgenommen hatte
wie wunderbar das war
wie das frisch geschnittene Heu duftete und pikste und die Räder zum müden Hufschlag vorwärtsruckelten. Mehr als zweimal ist er in den letzten Wochen gezüchtigt worden
weil er nicht aufgepasst hatte (und die Großmutter hat gesagt
wenn das noch einmal
nur ein einziges Mal
vorkomme
würde sie seinen Vater verständigen). Die Lehrer können sich keinen Reim darauf machen. Hamnet lernt schnell und kann aus dem Gedächtnis zitieren
aber mit dem Kopf einfach nicht bei der Sache bleiben. Beim Kreischen eines Vogels in der Luft kann er mitten im Satz abbrechen
als hätte es ihm aus heiterem Himmel die Sprache verschlagen. Sieht er aus dem Augenwinkel jemanden ins Zimmer kommen
kann er alles stehen und liegen lassen - essen
lesen
seine Schularbeiten -
und demjenigen entgegensehen
als sei er herbeigeeilt
um ihm eine wichtige Nachricht zu überbringen. Er neigt dazu
sich der wirklichen
greifbaren Welt um sich herum zu entziehen. Körperlich ist er zwar noch anwesend
gedanklich aber woanders
jemand anderes
an einem Ort
den nur er selbst kennt. »Wach auf
Kind«
schreit seine Großmutter dann und schnalzt mit den Fingern vor seinem Gesicht. »Komm zurück«
zischt seine große Schwester Susanna und schnippt ihm gegens Ohr. »Pass endlich auf«
brüllen seine Lehrer. »Wohin bist du gegangen?«
flüstert Judith ihm zu
wenn er schließlich wieder im Hier und Jetzt aufwacht
sich blinzelnd umsieht und feststellt
dass er zurück ist
zu Hause
am Tisch im Kreis der Familie
und seine Mutter ihn verschmitzt ansieht
als wüsste sie ganz genau
wo er gewesen ist. Genau so ist Hamnet
als er jetzt das verbotene Reich der Handschuhwerkstatt betritt
entfallen
wozu er eigentlich hergekommen ist. Für einen Moment ist alles wie weggewischt - dass es Judith nicht gut geht und jemand nach ihr sehen muss
dass er ihre Mutter oder Großmutter oder irgendwen finden muss
der vielleicht weiß
was zu tun ist. Von einer Stange hängen Felle herab. Hamnet kennt sich gut genug aus
um den rostroten getupften Balg eines Hirsches zu erkennen
das feine
schmiegsame Ziegenleder
die kleineren Felle von Eichhörnchen
die grobe
borstige Wildschweinhaut. Als er näher tritt
geht durch die Felle ein Rascheln und Raunen
gerade so
als könnte noch ein Fünkchen Leben in ihnen stecken
genug
um ihn zu hören. Hamnet streckt einen Finger aus und berührt die Ziegenhaut. Sie fühlt sich so unerfindlich weich an
wie Flussalgen
die an seinen Beinen entlangstreichen
wenn er an heißen Tagen schwimmen geht. Die Haut schwingt sanft hin und her
die Beine wie im Flug gespreizt
einem Vogel ähnlich oder einem Ghul. Hamnet dreht sich um und betrachtet die zwei Arbeitsplätze an der Werkbank: den gepolsterten aus Leder
glatt gescheuert von den Kniebundhosen seines Großvaters
und den harten Holzhocker für Ned
den Lehrling. An der Wand darüber hängen die Werkzeuge. Er weiß genau
welche zum Schneiden
zum Dehnen
welche zum Stecken und Nähen sind. Aber der schmalere der beiden Handschuhstrecker - der für Frauen - ist nicht an seinem Platz. Er liegt auf dem Tisch
an dem Ned sonst mit gesenktem Kopf
gebeugten Schultern und eifrigen
flinken Fingern arbeitet. Hamnet weiß
dass sein Großvater den Jungen schon beim geringsten Anlass anbrüllt - oder Schlimmeres -
deshalb nimmt er den Handschuhstrecker
wiegt das warme Holz kurz in der Hand und hängt ihn dann an seinen Haken zurück. Gerade als er die Schublade herausziehen will
in der die Garnknäuel und die Knopfschachteln aufbewahrt werden - sachte
sachte
weil er weiß
dass die Lade quietscht -
dringt ein Geräusch
ein leises Scharren oder Knarzen
an sein Ohr. In Sekundenschnelle ist Hamnet im Durchgang und draußen auf dem Hof. Seine Aufgabe fällt ihm wieder ein. Was macht er da nur? Trödelt in der Werkstatt
während seine Schwester leidet - er muss Hilfe holen. Eine nach der anderen reißt er die Tür zum Küchenhaus
zum Sudhaus
zur Waschküche auf. Allesamt leer
dunkel und kühl. Er ruft noch einmal
ein wenig heiser jetzt
der Hals kratzt ihm schon vom Schreien. Er lehnt sich an die Mauer des Küchenhauses und befördert eine Nussschale mit einem Tritt quer über den Hof. Er weiß weder ein noch aus. Irgendjemand sollte doch da sein. Irgendjemand ist immer da. Wo stecken bloß alle? Was soll er tun? Wie kann es sein
dass niemand zu Hause ist? Dass seine Mutter und Großmutter nicht wie sonst drinnen Ofentüren aufwuchten oder in irgendwelchen Töpfen über dem Feuer rühren? Er steht im Hof und blickt sich um: die Durchgangstür
die Sudhaustür
die Tür zu ihrem Haus. Wo soll er hin? Wen kann er zu Hilfe rufen? Und wo sind die anderen? Jedes Leben hat seinen Kern
seinen Dreh- und Angelpunkt
von dem alles ausgeht
zu dem alles zurückkehrt. Für die abwesende Mutter ist es dieser Moment: der Junge
das leere Haus
der verwaiste Hof
der ungehörte Schrei. Wie er da hinterm Haus steht und nach den Menschen ruft
die ihn gefüttert
gewickelt
in den Schlaf gewiegt
bei seinen ersten Schritten an die Hand genommen und ihm beigebracht haben
einen Löffel zu benutzen
auf eine Brühe zu pusten
bevor er davon isst
sich beim Überqueren einer Straße in Acht zu nehmen
schlafende Hunde nicht zu wecken
einen Becher vor dem Trinken auszuspülen
nicht ins tiefe Wasser zu gehen. Für den Rest ihres Lebens wird dieser Moment ihr zuinnerst eingeprägt sein. Hamnet scharrt mit den Stiefeln durch den Streusand im Hof
wo noch die Überbleibsel eines Spiels herumliegen
mit dem Judith und er sich vorhin erst die Zeit vertrieben haben: Mit Kiefernzapfen an Schnüren haben sie die Jungen der Küchenkatze gelockt und an der Nase herumgeführt. Kleine Geschöpfe sind das
mit Gesichtern wie Stiefmütterchen und weichen Polstern an den Pfoten. Die Katze hatte sich in einem Fass in der Speisekammer verkrochen
um sie zur Welt zu bringen
und sie dort wochenlang versteckt. Hamnets Großmutter hatte überall nach dem Wurf gesucht
weil sie ihn
wie sonst auch
ertränken wollte
doch die Katze hatte das zu verhindern gewusst und ihre Jungen in Sicherheit gebracht. Jetzt sind sie halb ausgewachsen
die zwei
laufen herum
klettern an Säcken hoch
jagen Federn und Wollresten und Blättern nach. Judith hält es kaum ein paar Stunden ohne sie aus. Meistens steckt eins in ihrer Schürzentasche
eine verräterische Ausbuchtung
ein spitzes Ohrenpaar
das hervorlugt
woraufhin die Großmutter wieder losschreit und mit der Regentonne droht. Dann raunt Hamnets Mutter ihnen zu
dass die Jungen zu groß sind
um noch ertränkt zu werden. »Sie könnte es jetzt nicht mehr«
sagt sie
wenn die drei unter sich sind
und wischt Judith die Tränen aus dem entsetzten Gesicht. »Sie hätte gar nicht den Mumm dazu. Die Kleinen würden sich doch wehren
sie würden kämpfen.« Jetzt schlendert Hamnet zu den verlassenen Kiefernzapfen
deren Bänder sich durch die zerstampfte Erde schlängeln. Die Kätzchen sind nirgends zu sehen. Mit der Fußspitze stupst er einen Zapfen an
der in einem ungleichmäßigen Bogen fortkullert. Er sieht zu den beiden Häusern hoch
den vielen Fenstern des großen und dem dunklen Eingang seines eigenen. Normalerweise wären er und Judith hellauf begeistert
plötzlich allein zu sein. In genau diesem Moment würde er mit Engelszungen auf sie einreden
dass sie mit ihm aufs Dach des Küchenhauses klettert
wo ein Pflaumenbaum seine Zweige über die Nachbarsmauer reckt. Sie biegen sich unter dem Gewicht der vielen Pflaumen
deren rotgoldene Haut vor Reife schier platzt; schon vor Tagen hat Hamnet sie durch eines der oberen Fenster bei seinen Großeltern erspäht. Wenn dies ein normaler Tag wäre
würde er Judith trotz ihrer Einwände aufs Dach hinaufschieben
damit sie ihre Taschen mit gestohlenen Früchten vollstopfen kann. Arglos
wie sie ist
tut sie nicht gern etwas Unehrliches oder Verbotenes
und doch kann Hamnet sie gewöhnlich mit ein paar Worten umstimmen. Als sie aber heute mit den Katzenjungen spielten
die ihrem verfrühten Tod entronnen waren
hatte Judith gesagt
dass sie Kopfschmerzen habe und ihr der Hals wehtue
dass ihr kalt sei
dann warm. Sie war hineingegangen
um sich hinzulegen. Hamnet kehrt ins Haupthaus zurück. Gerade als er vom Gang auf die Straße hinaustreten will
hört er etwas
ein Klicken oder Knarren
ein winziges Geräusch nur
aber eindeutig das eines anderen Menschen. »Hallo?«
ruft Hamnet. Er wartet. Nichts. Stille flutet aus dem Speisezimmer und der Stube dahinter. »Wer ist da?« Einen Augenblick
nur einen kurzen Augenblick lang
schwelgt er in der Vorstellung
dass sein Vater aus London heimgekehrt sein könnte
um sie zu überraschen. Das war schon vorgekommen. Sein Vater ist da
er steht gleich hinter dieser Tür und hält sich vielleicht nur zum Spaß versteckt
um sie ein wenig hinters Licht zu führen. Wenn Hamnet ins Zimmer tritt
wird sein Vater hervorspringen; seine Tasche und sein Geldbeutel werden mit Geschenken vollgestopft sein; er wird nach Pferden
nach Heu
nach vielen Tagen auf der Straße riechen; er wird seinen Sohn in die Arme schließen
und der wird die Wange an die groben
kratzigen Verschlüsse am Wams seines Vaters drücken. Natürlich ist es nicht sein Vater. Hamnet weiß es einfach. Der Vater würde auf seine Rufe antworten
er würde sich nie so verstecken
wenn niemand zu Hause ist. Dennoch spürt Hamnet beim Betreten der Stube ein sickerndes
sackendes Gefühl der Enttäuschung in der Brust
als er dort seinen Großvater neben dem niedrigen Tisch sieht. Im Zimmer ist es düster
vor fast alle Fenster sind die Vorhänge zugezogen. Sein Großvater kauert mit dem Rücken zu ihm und ist mit irgendetwas zugange: Papieren
einem Stoffsack
Rechenmünzen. Auf dem Tisch steht ein Krug
daneben ein Becher. Die Hand seines Großvaters umkreist unschlüssig diese Gegenstände; sein Kopf ist gebeugt
sein Atem geht stoßweise und schnaufend. Hamnet räuspert sich höflich. Wutentbrannt schwenkt sein Großvater herum und rudert mit den Armen
als müsse er einen Angreifer abwehren. »Wer da?«
schreit er. »Wer ist das?« »Ich bin's.« »Wer?« »Ich.« Der Junge tritt in den schräg durchs Fenster fallenden Lichtstreifen. »Hamnet.« Sein Großvater lässt sich wieder auf den Stuhl plumpsen. »Du hast mir einen Heidenschrecken eingejagt«
ruft er. »Was schleichst du hier so herum?« »Bitte entschuldige«
sagt Hamnet. »Ich habe gerufen und gerufen
aber keiner hat geantwortet. Judith ist ...« »Sie sind nicht da«
schneidet ihm sein Großvater mit einer knappen Handbewegung das Wort ab. »Was willst du nur immer mit diesen ganzen Weibern?« Er packt den Krug und zielt damit auf seinen Becher. Die Flüssigkeit - Ale
denkt Hamnet - schwappt heraus
ein Teil in den Becher
ein Teil daneben auf den Tisch. Fluchend tupft sein Großvater mit dem Ärmel die Papiere ab
und Hamnet kommt zum ersten Mal der Gedanke
dass er vielleicht betrunken sein könnte. »Weißt du
wo sie sind?«
fragt er. »Was?«
sagt der Großvater
immer noch mit seinen Papieren befasst. Seine Verärgerung über den angerichteten Schaden scheint wie ein Rapier aus ihm herauszufahren und auf der Suche nach einem Gegner durchs Zimmer zu wandern
und kurz kommt dem Jungen das Haselholz seiner Mutter in den Sinn
wie es zum Wasser hinzieht
nur dass er keine Wasserader ist und die Wut seines Großvaters nicht die zitternde Wünschelrute. Diese Wut ist schneidend
scharf und unberechenbar. Hamnet hat keine Ahnung
was ihm blüht oder was er jetzt tun soll. »Steh da nicht so untätig rum«
faucht sein Großvater. »Jetzt hilf mir schon!« Hamnet macht einen schlurfenden Schritt nach vorn
dann noch einen. Er ist auf der Hut
die Worte seines Vaters immer im Hinterkopf: »Halt dich von deinem Großvater fern
wenn er wieder eine seiner Launen hat. Sieh zu
dass du einen weiten Bogen um ihn machst. Hörst du?« Das hatte ihm der Vater bei seinem letzten Besuch gesagt. Sie hatten dabei geholfen
einen Wagen von der Gerberei auszuladen
als John
sein Großvater
ein Bündel Felle in den Schmutz fallen ließ und vor Wut ein Schälmesser gegen die Hofmauer schleuderte. Der Vater hatte Hamnet sofort beiseite- und hinter sich gezogen
aber John war ohne ein weiteres Wort an ihnen vorbei ins Haus gestürmt. Da hatte der Vater Hamnets Gesicht zwischen beide Hände genommen
die Finger in seinem Nacken eingerollt und ihn fest angesehen. »Deinen Schwestern wird er nichts tun
aber um dich mache ich mir Sorgen«
murmelte er mit gerunzelter Stirn. »Du weißt
welche Launen ich meine
oder?« Hamnet hatte genickt
sich zugleich aber gewünscht
dass der Moment andauern
der Vater seinen Kopf noch länger so halten möge: Es gab ihm ein Gefühl von Leichtigkeit und Sicherheit
davon
bis ins Innerste erkannt und geschätzt zu werden. Gleichzeitig spürte er eine zähe Unruhe in sich aufwogen wie eine Mahlzeit
die sein Magen nicht vertrug. Er dachte an das schneidende Hickhack der Worte zwischen seinem Vater und Großvater
und wie der Vater sich unaufhörlich am Kragen herumzerrte
wenn er mit seinen Eltern am Tisch saß. »Schwör es mir«
hatte sein Vater mit heiserer Stimme gesagt
als sie da im Hof standen. »Schwöre. Ich muss wissen
dass du in Sicherheit bist
wenn ich nicht da bin
um dafür zu sorgen.« Hamnet nimmt an
dass er sein Wort hält. Er bleibt weit zurück
auf der anderen Seite des Kamins. Hier kann ihn sein Großvater nicht kriegen
selbst wenn er wollte. Der Großvater leert seinen Becher mit einer Hand
schüttelt mit der anderen die letzten Tropfen von einem Blatt Papier. »Nimm das«
befiehlt er und hält es ihm hin. Hamnet beugt sich vor
als ob ihm die Füße am Boden festgewachsen wären
und nimmt es mit den Fingerspitzen entgegen. Die Augen seines Großvaters sind zu wachsamen Schlitzen verengt
seine Zunge guckt aus dem Mundwinkel hervor. Er sitzt zusammengekauert auf seinem Stuhl - eine alte
traurige Kröte auf einem Stein. »Und das hier.« Sein Großvater hält ihm noch eine Seite hin. Mit gebührendem Abstand beugt sich Hamnet ein zweites Mal vor. Wie stolz sein Vater jetzt wäre
wie zufrieden. Flink wie ein Fuchs macht sein Großvater einen Satz nach vorn. Alles geht so schnell
dass Hamnet gar nicht weiß
wie ihm geschieht: Das Blatt segelt auf den Boden zwischen ihnen
sein Großvater packt ihn am Handgelenk
dann am Ellbogen und zerrt ihn in die Lücke
den Abstand
den er nach den Worten des Vaters hatte einhalten sollen. Im nächsten Moment hebt der Großvater auch die andere Hand
die immer noch den Becher hält. Hamnet sieht nur noch Schlieren vor sich - rot
orange
die Farben des Feuers
die auf ihn einstürzen -
ehe er den Schmerz spürt. Es ist ein scharfer
stechender
knüppelharter Schmerz. Der Becherrand hat ihn direkt unter der Augenbraue getroffen. »Das wird dir eine Lehre sein«
sagt sein Großvater ruhig
»dich so an Leute heranzuschleichen.« Tränen schießen Hamnet in die Augen. »Und flennst noch wie ein kleines Mädchen? Genauso eine Memme wie der Vater«
setzt der Großvater verächtlich hinzu und lässt los. Hamnet springt zurück und stößt mit dem Schienbein gegen das Faulbett. »Immer nur am Heulen und Jammern und Klagen. Kein Rückgrat. Kein Verstand. Das war von Anfang an sein Problem. Hat immer gleich gekniffen.« Hamnet rennt auf die Straße hinaus. Er wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht und tupft das Blut ab
macht dann die eigene Haustür auf und steigt hastig die Treppe hinauf
wo neben dem großen
mit Vorhängen versehenen Bett ihrer Eltern eine Gestalt auf dem Strohsack zusammengesunken ist. Sie trägt noch immer das braune Leinenhemd
dazu eine weiße Haube
deren Bänder sich lose an ihrem Hals herunterschlängeln
und liegt auf statt unter der Decke. Nur die Schuhe hat sie von sich geschleudert
die jetzt wie ein Paar leere Hülsen umgestülpt neben ihr liegen. »Judith«
sagt der Junge und berührt ihre Hand. »Geht es dir besser?« Die Lider des Mädchens heben sich. Sie starrt ihren Bruder einen Augenblick lang wie aus weiter Ferne an
ehe ihr die Augen wieder zufallen. »Ich schlafe«
murmelt sie. Sie hat das gleiche herzförmige Gesicht wie er
den gleichen spitzen Haaransatz
das gleiche unbändige kornfarbene Haar. Die Augen
die so flüchtig auf ihm lagen
sind von der gleichen Farbe - einem warmen
goldgesprenkelten Bernsteinton -
dem gleichen Schnitt wie seine eigenen. Der Grund dafür: Sie teilen sich einen Geburtstag
so
wie sie sich einmal den Leib ihrer Mutter geteilt haben. Der Junge und das Mädchen sind Zwillinge
im Abstand von wenigen Minuten geboren. Sie ähneln einander so sehr
als wären sie in derselben Glückshaube auf die Welt gekommen. Er schließt seine Finger um ihre - die gleichen Nägel
die gleiche Form der Knöchel
obwohl seine schon etwas größer
breiter
schmutziger sind - und schiebt den Gedanken beiseite
wie klamm und heiß sie sich anfühlen. »Wie geht es dir?«
fragt er. »Besser?« Sie rührt sich
krümmt ihre Finger in seinen. Ihr Kinn hebt und senkt sich wieder. Unterhalb des Kehlkopfs entdeckt der Junge eine Schwellung. Und eine weitere
wo ihr Hals in die Schulter übergeht. Er starrt sie an. Ein Paar Wachteleier unter Judiths Haut. Blass und oval liegen sie dort eingebettet
als warteten sie nur darauf zu schlüpfen. Eins an ihrem Hals
eins an ihrer Schulter. Sie flüstert etwas
ihre Lippen teilen sich
die Zunge bewegt sich in ihrem Mund. »Was hast du gesagt?«
fragt er und beugt sich hinunter. »Dein Gesicht«
wiederholt sie. »Was ist mit deinem Gesicht?« Er fasst sich an die Augenbraue und fühlt die Schwellung dort
das nasse
frische Blut. »Nichts. Es ist nichts«
erwidert er gedankenverloren. Und fährt eindringlicher fort: »Pass auf
ich hole jetzt den Arzt. Ich bin bald wieder da.« Sie sagt noch etwas. »Mama?«
wiederholt er. »Sie ... sie kommt. Sie ist nicht weit.« In Wirklichkeit ist sie über eine Meile weit weg. Agnes hat von ihrem Bruder ein Stück Land bei Hewlands gepachtet
das sich von dem Haus
in dem sie geboren wurde
bis zum Wald erstreckt. Hier hält sie Bienen in geflochtenen Hanfkörben
die von einem emsigen
hoch konzentrierten Summen erfüllt sind. Es gibt Reihen von Kräutern
Blumen
Pflanzen und Stielen
die sich an Stützzweigen heraufwinden. »Agnes' Hexengarten«
nennt ihre Stiefmutter es nur und verdreht die Augen. In den meisten Wochen kann man Agnes dabei zusehen
wie sie die Reihen dieser Pflanzen abschreitet
Unkraut jätet
die Hand auf die Windungen ihrer Bienenstöcke legt
hier und da einen Trieb beschneidet und bestimmte Blüten
Blätter
Kapseln und Samen in einem Lederbeutel an ihrer Hüfte verschwinden lässt. Heute aber ist sie von ihrem Bruder herbeigerufen worden
der den Schäferssohn losgeschickt hat
weil mit den Bienen etwas nicht stimmt - sie haben den Stock verlassen und sammeln sich in den Bäumen. Agnes umrundet die Körbe und lauscht auf das
was die Bienen ihr mitteilen. Sie mustert den Schwarm im Obstgarten
einen auf sämtliche Äste verteilten schwärzlichen Fleck
der vor Empörung regelrecht bebt. Etwas hat die Bienen in Aufruhr versetzt - das Wetter
ein Temperaturwechsel oder vielleicht ein Störenfried? Eines der Kinder
ein verirrtes Schaf
ihre Stiefmutter? Sie lässt ihre Hand von unten in einen der Körbe hineingleiten und fährt an der Schicht der verbliebenen Bienen entlang. Im kühlen
fließenden Schatten der Bäume steht sie in einem einfachen Gewand
der dicke Zopf ist unter einer weißen Bundhaube auf ihrem Scheitel festgesteckt. Keine Bienenkappe bedeckt ihr Gesicht - sie trägt nie eine. Von Nahem würde man sehen
dass ihre Lippen sich bewegen
weil sie die Insekten
die ihren Kopf umkreisen
sich auf ihren Ärmel oder in ihr Gesicht verirren
mit kleinen Geräuschen und Klicklauten beschwichtigt. Sie zieht eine Honigwabe aus dem Korb und geht in die Hocke
um sie in Augenschein zu nehmen. Die ganze Oberfläche wimmelt von etwas
das ein einziges lebendiges Gebilde zu sein scheint
braun mit goldenen Streifen
die Flügel wie winzige Herzen. Es sind Hunderte Bienen
die sich an ihre übervolle Wabe klammern
ihre Arbeit
ihren Lohn. Sie hebt ein schwelendes Rosmarinbündel und fächelt damit sanft über die Wabe. Eine Rauchfahne zieht durch die stille Augustluft. Die Bienen fliegen geschlossen auf und schwärmen aus
eine Wolke ohne Ränder
ein Netz in der Luft
das wie von Zauberhand immer wieder ausgeworfen wird. Sachte
sachte schabt sie das bleiche Wachs in einen Korb
und der Honig löst sich als vorsichtiger
beinahe widerstrebender Tropfen von der Wabe. Zäh wie Harz
orangegolden
scharf nach Thymian und der blumigen Süße von Lavendel duftend
rinnt er in den Topf
den Agnes bereithält
ein anschwellender
verschlungener Faden
der sich von der Wabe nach unten zieht. Plötzlich ist da das Gefühl einer Veränderung
eines Lufthauchs. Als wäre ein Vogel lautlos über sie hinweggeflogen. Noch immer in der Hocke
blickt Agnes auf. Die Bewegung erfasst ihre Hand
und Honig tropft ihr aufs Handgelenk
läuft ihr über die Finger und am Topf herunter. Agnes runzelt die Stirn
legt die Honigwabe ab und steht
sich die Fingerspitzen leckend
auf. Sie überblickt die strohgedeckten Dachvorsprünge von Hewlands zu ihrer Rechten
das weiße Geröll der Wolken darüber
die rauschenden Äste des Waldes zu ihrer Linken
den Bienenschwarm in den Apfelbäumen. In der Ferne treibt ihr zweitjüngster Bruder eine Schafherde mit einer Gerte den Reitweg hinunter
umkreist von dem hierhin und dorthin tollenden Hund. Alles ist so
wie es sein sollte. Einen Moment lang starrt Agnes auf den holprigen Zug der Schafe
ihre dahinhuschenden Klauen
ihr schmutziges
schlammverkrustetes Fell. Eine Biene landet auf ihrer Wange; sie streicht sie weg. Später
und für den Rest ihres Lebens
wird sie glauben
dass sie
wenn sie nur auf der Stelle aufgebrochen wäre
ihre Taschen
ihre Pflanzen
ihren Honig zusammengesucht und den Weg nach Hause angetreten
wen
indem er sich an der Wand entlangschiebt
eine Stufe nach der anderen mit polternden Stiefelschritten. Beinahe am Fuß der Treppe hält er kurz inne und schielt noch einmal über die Schulter hinauf
ehe er kurz entschlossen die letzten drei Stufen überspringt
wie er es immer tut. Beim Aufkommen stolpert er und schlägt mit den Knien auf dem Steinfußboden auf. Es ist ein drückender
windstiller Tag im Spätsommer. Lange Bahnen aus Licht fallen durch das Zimmer im Erdgeschoss
und von draußen brennt die Sonne herein
sodass die Fenster wie vergitterte Platten Gelb im Putz leuchten. Er steht auf und reibt sich die Knie. Blickt hierhin
die Treppe hoch. Blickt dorthin
ratlos
welchen Weg er einschlagen soll. Das Zimmer ist leer. Nur das Feuer schwelt auf seinem Rost vor sich hin
orangefarbene Glut unter zart aufsteigenden Rauchspiralen. Die wunden Knie des Jungen pochen im Takt seines Herzschlags. Er verharrt mit einer Hand auf dem Riegel der Treppentür
die verschrammte lederne Spitze seines Stiefels in der Luft
bereit zum Sprung
zur Flucht. Seine hellen
beinahe goldenen Haare stehen ihm in kleinen Büscheln vom Kopf ab. Es ist niemand da. Er seufzt
atmet tief die warme
staubige Luft ein und geht durchs Zimmer zur Haustür und auf die Straße hinaus. Vom Lärm der Wagen
Pferde
Händler und anderen Menschen
die einander zurufen
von einem Mann
der einen Sack aus dem ersten Stock wirft
bekommt er nichts mit. Der Junge schlendert am Haus entlang und in den nächsten Eingang hinein. Bei seinen Großeltern riecht es nach der ewig gleichen Mischung aus Holzrauch
Politur
Leder und Wolle
ähnlich und doch auf unbestimmbare Weise anders als in dem angrenzenden Zweizimmerhäuschen
das sein Großvater in eine schmale Lücke neben das größere Haus gebaut hat. Dort wohnt der Junge mit seiner Mutter und seinen Schwestern. Manchmal wundert er sich darüber
schließlich sind die beiden Wohnungen nur durch eine dünne Flechtwand getrennt
und trotzdem hat die Luft hier eine andere Note
einen anderen Geruch und eine andere Temperatur. In diesem Haus pfeift es förmlich
so quirlig ist der Durchzug
so laut das Klopfen und Hämmern aus der Werkstatt seines Großvaters
das Pochen und Rufen der Kunden am Fenster
das lärmende Treiben auf dem Hinterhof
das Kommen und Gehen seiner Onkel. Doch heute nicht. Der Junge steht im Durchgang und lauscht auf ein Lebenszeichen. Von hier aus kann er erkennen
dass die Werkstatt zu seiner Rechten leer ist. Die Hocker an den Werkbänken sind verwaist
die Werkzeuge liegen unbenutzt da
während die Handschuhe auf der Ablage daneben aussehen wie absichtlich hinterlassene Handabdrücke. Das Verkaufsfenster ist geschlossen und fest verriegelt. Niemand ist im Speisezimmer zu seiner Linken. Auf dem langen Tisch ein Stoß Servietten
eine unangezündete Kerze
ein Haufen Federn. Mehr nicht. Aus seiner Kehle dringt ein Ruf
ein fragendes Geräusch. Einmal
zweimal gibt er diesen Laut von sich und wartet mit schief gelegtem Kopf auf eine Antwort. Nichts. Nur das Knarren von Holzbalken
die sich sanft in der Sonne ausdehnen
das Seufzen eines Lufthauchs unter Türen und von Zimmer zu Zimmer
das Wispern von Leintüchern
das Knacken des Feuers
die unbestimmbaren Geräusche eines Hauses
das im Stillstand ist
leer. Seine Finger krampfen sich um das Eisen der Türklinke. Die Hitze des Tages treibt ihm selbst jetzt noch den Schweiß auf die Stirn und den Rücken hinunter. Der Schmerz in seinen Knien wird stärker
stechend und verfliegt wieder. Der Junge öffnet den Mund. Einen nach dem andern ruft er die Namen aller
die hier wohnen. Seine Großmutter. Die Magd. Seine Onkel. Seine Tante. Den Lehrling. Seinen Großvater. Der Junge probiert sie nacheinander durch
und kurz kommt ihm sogar der Gedanke
seinen Vater zu rufen
nach ihm zu schreien
doch der Vater ist Meilen und Stunden und Tage weit weg in London
wo der Junge noch nie war. Aber wo
fragt er sich
sind seine Mutter
seine große Schwester
seine Großmutter
seine Onkel? Wo ist die Magd? Wo sein Großvater
der tagsüber eigentlich immer zu Hause ist und für gewöhnlich in der Werkstatt dabei anzutreffen
wie er seinen Lehrling schikaniert oder seine Einnahmen notiert? Wo sind denn alle? Wie können nur beide Häuser leer sein? Der Junge wandert den Durchgang entlang. An der Tür zur Werkstatt bleibt er stehen und wirft einen prüfenden Blick über die Schulter
ehe er eintritt. Die Handschuhwerkstatt seines Großvaters darf er nur sehr selten betreten. Es ist sogar verboten
in der Tür haltzumachen. »Steh da nicht bloß untätig herum«
brüllt sein Großvater dann. »Kann ein Mensch nicht mal ein ehrliches Stück Arbeit verrichten
ohne dass die Leute stehen bleiben und ihn angaffen? Hast du nichts Besseres zu tun
als da herumzulungern und Maulaffen feilzuhalten?« Hamnet hat einen raschen Verstand: Dem Schulunterricht kann er mühelos folgen. Er erfasst Sinn und Logik dessen
was ihm gesagt wird
und er kann sich Dinge ohne Weiteres einprägen. Verben und Grammatik und Zeitformen und Rhetorik und Zahlen und Rechenergebnisse kann er sich so leicht ins Gedächtnis rufen
dass dies gelegentlich den Neid der anderen Jungen weckt. Ebenso leicht lässt er sich aber auch ablenken. Ein Karren
der während einer Griechischstunde auf der Straße vorbeifährt
lässt seine Gedanken unweigerlich von der Schiefertafel abschweifen. Er grübelt
wohin der Karren wohl unterwegs und mit was er beladen sein könnte
und dann das eine Mal
als sein Onkel ihn und seine Schwestern auf einem Heuwagen mitgenommen hatte
wie wunderbar das war
wie das frisch geschnittene Heu duftete und pikste und die Räder zum müden Hufschlag vorwärtsruckelten. Mehr als zweimal ist er in den letzten Wochen gezüchtigt worden
weil er nicht aufgepasst hatte (und die Großmutter hat gesagt
wenn das noch einmal
nur ein einziges Mal
vorkomme
würde sie seinen Vater verständigen). Die Lehrer können sich keinen Reim darauf machen. Hamnet lernt schnell und kann aus dem Gedächtnis zitieren
aber mit dem Kopf einfach nicht bei der Sache bleiben. Beim Kreischen eines Vogels in der Luft kann er mitten im Satz abbrechen
als hätte es ihm aus heiterem Himmel die Sprache verschlagen. Sieht er aus dem Augenwinkel jemanden ins Zimmer kommen
kann er alles stehen und liegen lassen - essen
lesen
seine Schularbeiten -
und demjenigen entgegensehen
als sei er herbeigeeilt
um ihm eine wichtige Nachricht zu überbringen. Er neigt dazu
sich der wirklichen
greifbaren Welt um sich herum zu entziehen. Körperlich ist er zwar noch anwesend
gedanklich aber woanders
jemand anderes
an einem Ort
den nur er selbst kennt. »Wach auf
Kind«
schreit seine Großmutter dann und schnalzt mit den Fingern vor seinem Gesicht. »Komm zurück«
zischt seine große Schwester Susanna und schnippt ihm gegens Ohr. »Pass endlich auf«
brüllen seine Lehrer. »Wohin bist du gegangen?«
flüstert Judith ihm zu
wenn er schließlich wieder im Hier und Jetzt aufwacht
sich blinzelnd umsieht und feststellt
dass er zurück ist
zu Hause
am Tisch im Kreis der Familie
und seine Mutter ihn verschmitzt ansieht
als wüsste sie ganz genau
wo er gewesen ist. Genau so ist Hamnet
als er jetzt das verbotene Reich der Handschuhwerkstatt betritt
entfallen
wozu er eigentlich hergekommen ist. Für einen Moment ist alles wie weggewischt - dass es Judith nicht gut geht und jemand nach ihr sehen muss
dass er ihre Mutter oder Großmutter oder irgendwen finden muss
der vielleicht weiß
was zu tun ist. Von einer Stange hängen Felle herab. Hamnet kennt sich gut genug aus
um den rostroten getupften Balg eines Hirsches zu erkennen
das feine
schmiegsame Ziegenleder
die kleineren Felle von Eichhörnchen
die grobe
borstige Wildschweinhaut. Als er näher tritt
geht durch die Felle ein Rascheln und Raunen
gerade so
als könnte noch ein Fünkchen Leben in ihnen stecken
genug
um ihn zu hören. Hamnet streckt einen Finger aus und berührt die Ziegenhaut. Sie fühlt sich so unerfindlich weich an
wie Flussalgen
die an seinen Beinen entlangstreichen
wenn er an heißen Tagen schwimmen geht. Die Haut schwingt sanft hin und her
die Beine wie im Flug gespreizt
einem Vogel ähnlich oder einem Ghul. Hamnet dreht sich um und betrachtet die zwei Arbeitsplätze an der Werkbank: den gepolsterten aus Leder
glatt gescheuert von den Kniebundhosen seines Großvaters
und den harten Holzhocker für Ned
den Lehrling. An der Wand darüber hängen die Werkzeuge. Er weiß genau
welche zum Schneiden
zum Dehnen
welche zum Stecken und Nähen sind. Aber der schmalere der beiden Handschuhstrecker - der für Frauen - ist nicht an seinem Platz. Er liegt auf dem Tisch
an dem Ned sonst mit gesenktem Kopf
gebeugten Schultern und eifrigen
flinken Fingern arbeitet. Hamnet weiß
dass sein Großvater den Jungen schon beim geringsten Anlass anbrüllt - oder Schlimmeres -
deshalb nimmt er den Handschuhstrecker
wiegt das warme Holz kurz in der Hand und hängt ihn dann an seinen Haken zurück. Gerade als er die Schublade herausziehen will
in der die Garnknäuel und die Knopfschachteln aufbewahrt werden - sachte
sachte
weil er weiß
dass die Lade quietscht -
dringt ein Geräusch
ein leises Scharren oder Knarzen
an sein Ohr. In Sekundenschnelle ist Hamnet im Durchgang und draußen auf dem Hof. Seine Aufgabe fällt ihm wieder ein. Was macht er da nur? Trödelt in der Werkstatt
während seine Schwester leidet - er muss Hilfe holen. Eine nach der anderen reißt er die Tür zum Küchenhaus
zum Sudhaus
zur Waschküche auf. Allesamt leer
dunkel und kühl. Er ruft noch einmal
ein wenig heiser jetzt
der Hals kratzt ihm schon vom Schreien. Er lehnt sich an die Mauer des Küchenhauses und befördert eine Nussschale mit einem Tritt quer über den Hof. Er weiß weder ein noch aus. Irgendjemand sollte doch da sein. Irgendjemand ist immer da. Wo stecken bloß alle? Was soll er tun? Wie kann es sein
dass niemand zu Hause ist? Dass seine Mutter und Großmutter nicht wie sonst drinnen Ofentüren aufwuchten oder in irgendwelchen Töpfen über dem Feuer rühren? Er steht im Hof und blickt sich um: die Durchgangstür
die Sudhaustür
die Tür zu ihrem Haus. Wo soll er hin? Wen kann er zu Hilfe rufen? Und wo sind die anderen? Jedes Leben hat seinen Kern
seinen Dreh- und Angelpunkt
von dem alles ausgeht
zu dem alles zurückkehrt. Für die abwesende Mutter ist es dieser Moment: der Junge
das leere Haus
der verwaiste Hof
der ungehörte Schrei. Wie er da hinterm Haus steht und nach den Menschen ruft
die ihn gefüttert
gewickelt
in den Schlaf gewiegt
bei seinen ersten Schritten an die Hand genommen und ihm beigebracht haben
einen Löffel zu benutzen
auf eine Brühe zu pusten
bevor er davon isst
sich beim Überqueren einer Straße in Acht zu nehmen
schlafende Hunde nicht zu wecken
einen Becher vor dem Trinken auszuspülen
nicht ins tiefe Wasser zu gehen. Für den Rest ihres Lebens wird dieser Moment ihr zuinnerst eingeprägt sein. Hamnet scharrt mit den Stiefeln durch den Streusand im Hof
wo noch die Überbleibsel eines Spiels herumliegen
mit dem Judith und er sich vorhin erst die Zeit vertrieben haben: Mit Kiefernzapfen an Schnüren haben sie die Jungen der Küchenkatze gelockt und an der Nase herumgeführt. Kleine Geschöpfe sind das
mit Gesichtern wie Stiefmütterchen und weichen Polstern an den Pfoten. Die Katze hatte sich in einem Fass in der Speisekammer verkrochen
um sie zur Welt zu bringen
und sie dort wochenlang versteckt. Hamnets Großmutter hatte überall nach dem Wurf gesucht
weil sie ihn
wie sonst auch
ertränken wollte
doch die Katze hatte das zu verhindern gewusst und ihre Jungen in Sicherheit gebracht. Jetzt sind sie halb ausgewachsen
die zwei
laufen herum
klettern an Säcken hoch
jagen Federn und Wollresten und Blättern nach. Judith hält es kaum ein paar Stunden ohne sie aus. Meistens steckt eins in ihrer Schürzentasche
eine verräterische Ausbuchtung
ein spitzes Ohrenpaar
das hervorlugt
woraufhin die Großmutter wieder losschreit und mit der Regentonne droht. Dann raunt Hamnets Mutter ihnen zu
dass die Jungen zu groß sind
um noch ertränkt zu werden. »Sie könnte es jetzt nicht mehr«
sagt sie
wenn die drei unter sich sind
und wischt Judith die Tränen aus dem entsetzten Gesicht. »Sie hätte gar nicht den Mumm dazu. Die Kleinen würden sich doch wehren
sie würden kämpfen.« Jetzt schlendert Hamnet zu den verlassenen Kiefernzapfen
deren Bänder sich durch die zerstampfte Erde schlängeln. Die Kätzchen sind nirgends zu sehen. Mit der Fußspitze stupst er einen Zapfen an
der in einem ungleichmäßigen Bogen fortkullert. Er sieht zu den beiden Häusern hoch
den vielen Fenstern des großen und dem dunklen Eingang seines eigenen. Normalerweise wären er und Judith hellauf begeistert
plötzlich allein zu sein. In genau diesem Moment würde er mit Engelszungen auf sie einreden
dass sie mit ihm aufs Dach des Küchenhauses klettert
wo ein Pflaumenbaum seine Zweige über die Nachbarsmauer reckt. Sie biegen sich unter dem Gewicht der vielen Pflaumen
deren rotgoldene Haut vor Reife schier platzt; schon vor Tagen hat Hamnet sie durch eines der oberen Fenster bei seinen Großeltern erspäht. Wenn dies ein normaler Tag wäre
würde er Judith trotz ihrer Einwände aufs Dach hinaufschieben
damit sie ihre Taschen mit gestohlenen Früchten vollstopfen kann. Arglos
wie sie ist
tut sie nicht gern etwas Unehrliches oder Verbotenes
und doch kann Hamnet sie gewöhnlich mit ein paar Worten umstimmen. Als sie aber heute mit den Katzenjungen spielten
die ihrem verfrühten Tod entronnen waren
hatte Judith gesagt
dass sie Kopfschmerzen habe und ihr der Hals wehtue
dass ihr kalt sei
dann warm. Sie war hineingegangen
um sich hinzulegen. Hamnet kehrt ins Haupthaus zurück. Gerade als er vom Gang auf die Straße hinaustreten will
hört er etwas
ein Klicken oder Knarren
ein winziges Geräusch nur
aber eindeutig das eines anderen Menschen. »Hallo?«
ruft Hamnet. Er wartet. Nichts. Stille flutet aus dem Speisezimmer und der Stube dahinter. »Wer ist da?« Einen Augenblick
nur einen kurzen Augenblick lang
schwelgt er in der Vorstellung
dass sein Vater aus London heimgekehrt sein könnte
um sie zu überraschen. Das war schon vorgekommen. Sein Vater ist da
er steht gleich hinter dieser Tür und hält sich vielleicht nur zum Spaß versteckt
um sie ein wenig hinters Licht zu führen. Wenn Hamnet ins Zimmer tritt
wird sein Vater hervorspringen; seine Tasche und sein Geldbeutel werden mit Geschenken vollgestopft sein; er wird nach Pferden
nach Heu
nach vielen Tagen auf der Straße riechen; er wird seinen Sohn in die Arme schließen
und der wird die Wange an die groben
kratzigen Verschlüsse am Wams seines Vaters drücken. Natürlich ist es nicht sein Vater. Hamnet weiß es einfach. Der Vater würde auf seine Rufe antworten
er würde sich nie so verstecken
wenn niemand zu Hause ist. Dennoch spürt Hamnet beim Betreten der Stube ein sickerndes
sackendes Gefühl der Enttäuschung in der Brust
als er dort seinen Großvater neben dem niedrigen Tisch sieht. Im Zimmer ist es düster
vor fast alle Fenster sind die Vorhänge zugezogen. Sein Großvater kauert mit dem Rücken zu ihm und ist mit irgendetwas zugange: Papieren
einem Stoffsack
Rechenmünzen. Auf dem Tisch steht ein Krug
daneben ein Becher. Die Hand seines Großvaters umkreist unschlüssig diese Gegenstände; sein Kopf ist gebeugt
sein Atem geht stoßweise und schnaufend. Hamnet räuspert sich höflich. Wutentbrannt schwenkt sein Großvater herum und rudert mit den Armen
als müsse er einen Angreifer abwehren. »Wer da?«
schreit er. »Wer ist das?« »Ich bin's.« »Wer?« »Ich.« Der Junge tritt in den schräg durchs Fenster fallenden Lichtstreifen. »Hamnet.« Sein Großvater lässt sich wieder auf den Stuhl plumpsen. »Du hast mir einen Heidenschrecken eingejagt«
ruft er. »Was schleichst du hier so herum?« »Bitte entschuldige«
sagt Hamnet. »Ich habe gerufen und gerufen
aber keiner hat geantwortet. Judith ist ...« »Sie sind nicht da«
schneidet ihm sein Großvater mit einer knappen Handbewegung das Wort ab. »Was willst du nur immer mit diesen ganzen Weibern?« Er packt den Krug und zielt damit auf seinen Becher. Die Flüssigkeit - Ale
denkt Hamnet - schwappt heraus
ein Teil in den Becher
ein Teil daneben auf den Tisch. Fluchend tupft sein Großvater mit dem Ärmel die Papiere ab
und Hamnet kommt zum ersten Mal der Gedanke
dass er vielleicht betrunken sein könnte. »Weißt du
wo sie sind?«
fragt er. »Was?«
sagt der Großvater
immer noch mit seinen Papieren befasst. Seine Verärgerung über den angerichteten Schaden scheint wie ein Rapier aus ihm herauszufahren und auf der Suche nach einem Gegner durchs Zimmer zu wandern
und kurz kommt dem Jungen das Haselholz seiner Mutter in den Sinn
wie es zum Wasser hinzieht
nur dass er keine Wasserader ist und die Wut seines Großvaters nicht die zitternde Wünschelrute. Diese Wut ist schneidend
scharf und unberechenbar. Hamnet hat keine Ahnung
was ihm blüht oder was er jetzt tun soll. »Steh da nicht so untätig rum«
faucht sein Großvater. »Jetzt hilf mir schon!« Hamnet macht einen schlurfenden Schritt nach vorn
dann noch einen. Er ist auf der Hut
die Worte seines Vaters immer im Hinterkopf: »Halt dich von deinem Großvater fern
wenn er wieder eine seiner Launen hat. Sieh zu
dass du einen weiten Bogen um ihn machst. Hörst du?« Das hatte ihm der Vater bei seinem letzten Besuch gesagt. Sie hatten dabei geholfen
einen Wagen von der Gerberei auszuladen
als John
sein Großvater
ein Bündel Felle in den Schmutz fallen ließ und vor Wut ein Schälmesser gegen die Hofmauer schleuderte. Der Vater hatte Hamnet sofort beiseite- und hinter sich gezogen
aber John war ohne ein weiteres Wort an ihnen vorbei ins Haus gestürmt. Da hatte der Vater Hamnets Gesicht zwischen beide Hände genommen
die Finger in seinem Nacken eingerollt und ihn fest angesehen. »Deinen Schwestern wird er nichts tun
aber um dich mache ich mir Sorgen«
murmelte er mit gerunzelter Stirn. »Du weißt
welche Launen ich meine
oder?« Hamnet hatte genickt
sich zugleich aber gewünscht
dass der Moment andauern
der Vater seinen Kopf noch länger so halten möge: Es gab ihm ein Gefühl von Leichtigkeit und Sicherheit
davon
bis ins Innerste erkannt und geschätzt zu werden. Gleichzeitig spürte er eine zähe Unruhe in sich aufwogen wie eine Mahlzeit
die sein Magen nicht vertrug. Er dachte an das schneidende Hickhack der Worte zwischen seinem Vater und Großvater
und wie der Vater sich unaufhörlich am Kragen herumzerrte
wenn er mit seinen Eltern am Tisch saß. »Schwör es mir«
hatte sein Vater mit heiserer Stimme gesagt
als sie da im Hof standen. »Schwöre. Ich muss wissen
dass du in Sicherheit bist
wenn ich nicht da bin
um dafür zu sorgen.« Hamnet nimmt an
dass er sein Wort hält. Er bleibt weit zurück
auf der anderen Seite des Kamins. Hier kann ihn sein Großvater nicht kriegen
selbst wenn er wollte. Der Großvater leert seinen Becher mit einer Hand
schüttelt mit der anderen die letzten Tropfen von einem Blatt Papier. »Nimm das«
befiehlt er und hält es ihm hin. Hamnet beugt sich vor
als ob ihm die Füße am Boden festgewachsen wären
und nimmt es mit den Fingerspitzen entgegen. Die Augen seines Großvaters sind zu wachsamen Schlitzen verengt
seine Zunge guckt aus dem Mundwinkel hervor. Er sitzt zusammengekauert auf seinem Stuhl - eine alte
traurige Kröte auf einem Stein. »Und das hier.« Sein Großvater hält ihm noch eine Seite hin. Mit gebührendem Abstand beugt sich Hamnet ein zweites Mal vor. Wie stolz sein Vater jetzt wäre
wie zufrieden. Flink wie ein Fuchs macht sein Großvater einen Satz nach vorn. Alles geht so schnell
dass Hamnet gar nicht weiß
wie ihm geschieht: Das Blatt segelt auf den Boden zwischen ihnen
sein Großvater packt ihn am Handgelenk
dann am Ellbogen und zerrt ihn in die Lücke
den Abstand
den er nach den Worten des Vaters hatte einhalten sollen. Im nächsten Moment hebt der Großvater auch die andere Hand
die immer noch den Becher hält. Hamnet sieht nur noch Schlieren vor sich - rot
orange
die Farben des Feuers
die auf ihn einstürzen -
ehe er den Schmerz spürt. Es ist ein scharfer
stechender
knüppelharter Schmerz. Der Becherrand hat ihn direkt unter der Augenbraue getroffen. »Das wird dir eine Lehre sein«
sagt sein Großvater ruhig
»dich so an Leute heranzuschleichen.« Tränen schießen Hamnet in die Augen. »Und flennst noch wie ein kleines Mädchen? Genauso eine Memme wie der Vater«
setzt der Großvater verächtlich hinzu und lässt los. Hamnet springt zurück und stößt mit dem Schienbein gegen das Faulbett. »Immer nur am Heulen und Jammern und Klagen. Kein Rückgrat. Kein Verstand. Das war von Anfang an sein Problem. Hat immer gleich gekniffen.« Hamnet rennt auf die Straße hinaus. Er wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht und tupft das Blut ab
macht dann die eigene Haustür auf und steigt hastig die Treppe hinauf
wo neben dem großen
mit Vorhängen versehenen Bett ihrer Eltern eine Gestalt auf dem Strohsack zusammengesunken ist. Sie trägt noch immer das braune Leinenhemd
dazu eine weiße Haube
deren Bänder sich lose an ihrem Hals herunterschlängeln
und liegt auf statt unter der Decke. Nur die Schuhe hat sie von sich geschleudert
die jetzt wie ein Paar leere Hülsen umgestülpt neben ihr liegen. »Judith«
sagt der Junge und berührt ihre Hand. »Geht es dir besser?« Die Lider des Mädchens heben sich. Sie starrt ihren Bruder einen Augenblick lang wie aus weiter Ferne an
ehe ihr die Augen wieder zufallen. »Ich schlafe«
murmelt sie. Sie hat das gleiche herzförmige Gesicht wie er
den gleichen spitzen Haaransatz
das gleiche unbändige kornfarbene Haar. Die Augen
die so flüchtig auf ihm lagen
sind von der gleichen Farbe - einem warmen
goldgesprenkelten Bernsteinton -
dem gleichen Schnitt wie seine eigenen. Der Grund dafür: Sie teilen sich einen Geburtstag
so
wie sie sich einmal den Leib ihrer Mutter geteilt haben. Der Junge und das Mädchen sind Zwillinge
im Abstand von wenigen Minuten geboren. Sie ähneln einander so sehr
als wären sie in derselben Glückshaube auf die Welt gekommen. Er schließt seine Finger um ihre - die gleichen Nägel
die gleiche Form der Knöchel
obwohl seine schon etwas größer
breiter
schmutziger sind - und schiebt den Gedanken beiseite
wie klamm und heiß sie sich anfühlen. »Wie geht es dir?«
fragt er. »Besser?« Sie rührt sich
krümmt ihre Finger in seinen. Ihr Kinn hebt und senkt sich wieder. Unterhalb des Kehlkopfs entdeckt der Junge eine Schwellung. Und eine weitere
wo ihr Hals in die Schulter übergeht. Er starrt sie an. Ein Paar Wachteleier unter Judiths Haut. Blass und oval liegen sie dort eingebettet
als warteten sie nur darauf zu schlüpfen. Eins an ihrem Hals
eins an ihrer Schulter. Sie flüstert etwas
ihre Lippen teilen sich
die Zunge bewegt sich in ihrem Mund. »Was hast du gesagt?«
fragt er und beugt sich hinunter. »Dein Gesicht«
wiederholt sie. »Was ist mit deinem Gesicht?« Er fasst sich an die Augenbraue und fühlt die Schwellung dort
das nasse
frische Blut. »Nichts. Es ist nichts«
erwidert er gedankenverloren. Und fährt eindringlicher fort: »Pass auf
ich hole jetzt den Arzt. Ich bin bald wieder da.« Sie sagt noch etwas. »Mama?«
wiederholt er. »Sie ... sie kommt. Sie ist nicht weit.« In Wirklichkeit ist sie über eine Meile weit weg. Agnes hat von ihrem Bruder ein Stück Land bei Hewlands gepachtet
das sich von dem Haus
in dem sie geboren wurde
bis zum Wald erstreckt. Hier hält sie Bienen in geflochtenen Hanfkörben
die von einem emsigen
hoch konzentrierten Summen erfüllt sind. Es gibt Reihen von Kräutern
Blumen
Pflanzen und Stielen
die sich an Stützzweigen heraufwinden. »Agnes' Hexengarten«
nennt ihre Stiefmutter es nur und verdreht die Augen. In den meisten Wochen kann man Agnes dabei zusehen
wie sie die Reihen dieser Pflanzen abschreitet
Unkraut jätet
die Hand auf die Windungen ihrer Bienenstöcke legt
hier und da einen Trieb beschneidet und bestimmte Blüten
Blätter
Kapseln und Samen in einem Lederbeutel an ihrer Hüfte verschwinden lässt. Heute aber ist sie von ihrem Bruder herbeigerufen worden
der den Schäferssohn losgeschickt hat
weil mit den Bienen etwas nicht stimmt - sie haben den Stock verlassen und sammeln sich in den Bäumen. Agnes umrundet die Körbe und lauscht auf das
was die Bienen ihr mitteilen. Sie mustert den Schwarm im Obstgarten
einen auf sämtliche Äste verteilten schwärzlichen Fleck
der vor Empörung regelrecht bebt. Etwas hat die Bienen in Aufruhr versetzt - das Wetter
ein Temperaturwechsel oder vielleicht ein Störenfried? Eines der Kinder
ein verirrtes Schaf
ihre Stiefmutter? Sie lässt ihre Hand von unten in einen der Körbe hineingleiten und fährt an der Schicht der verbliebenen Bienen entlang. Im kühlen
fließenden Schatten der Bäume steht sie in einem einfachen Gewand
der dicke Zopf ist unter einer weißen Bundhaube auf ihrem Scheitel festgesteckt. Keine Bienenkappe bedeckt ihr Gesicht - sie trägt nie eine. Von Nahem würde man sehen
dass ihre Lippen sich bewegen
weil sie die Insekten
die ihren Kopf umkreisen
sich auf ihren Ärmel oder in ihr Gesicht verirren
mit kleinen Geräuschen und Klicklauten beschwichtigt. Sie zieht eine Honigwabe aus dem Korb und geht in die Hocke
um sie in Augenschein zu nehmen. Die ganze Oberfläche wimmelt von etwas
das ein einziges lebendiges Gebilde zu sein scheint
braun mit goldenen Streifen
die Flügel wie winzige Herzen. Es sind Hunderte Bienen
die sich an ihre übervolle Wabe klammern
ihre Arbeit
ihren Lohn. Sie hebt ein schwelendes Rosmarinbündel und fächelt damit sanft über die Wabe. Eine Rauchfahne zieht durch die stille Augustluft. Die Bienen fliegen geschlossen auf und schwärmen aus
eine Wolke ohne Ränder
ein Netz in der Luft
das wie von Zauberhand immer wieder ausgeworfen wird. Sachte
sachte schabt sie das bleiche Wachs in einen Korb
und der Honig löst sich als vorsichtiger
beinahe widerstrebender Tropfen von der Wabe. Zäh wie Harz
orangegolden
scharf nach Thymian und der blumigen Süße von Lavendel duftend
rinnt er in den Topf
den Agnes bereithält
ein anschwellender
verschlungener Faden
der sich von der Wabe nach unten zieht. Plötzlich ist da das Gefühl einer Veränderung
eines Lufthauchs. Als wäre ein Vogel lautlos über sie hinweggeflogen. Noch immer in der Hocke
blickt Agnes auf. Die Bewegung erfasst ihre Hand
und Honig tropft ihr aufs Handgelenk
läuft ihr über die Finger und am Topf herunter. Agnes runzelt die Stirn
legt die Honigwabe ab und steht
sich die Fingerspitzen leckend
auf. Sie überblickt die strohgedeckten Dachvorsprünge von Hewlands zu ihrer Rechten
das weiße Geröll der Wolken darüber
die rauschenden Äste des Waldes zu ihrer Linken
den Bienenschwarm in den Apfelbäumen. In der Ferne treibt ihr zweitjüngster Bruder eine Schafherde mit einer Gerte den Reitweg hinunter
umkreist von dem hierhin und dorthin tollenden Hund. Alles ist so
wie es sein sollte. Einen Moment lang starrt Agnes auf den holprigen Zug der Schafe
ihre dahinhuschenden Klauen
ihr schmutziges
schlammverkrustetes Fell. Eine Biene landet auf ihrer Wange; sie streicht sie weg. Später
und für den Rest ihres Lebens
wird sie glauben
dass sie
wenn sie nur auf der Stelle aufgebrochen wäre
ihre Taschen
ihre Pflanzen
ihren Honig zusammengesucht und den Weg nach Hause angetreten
wen
indem er sich an der Wand entlangschiebt
eine Stufe nach der anderen mit polternden Stiefelschritten. Beinahe am Fuß der Treppe hält er kurz inne und schielt noch einmal über die Schulter hinauf
ehe er kurz entschlossen die letzten drei Stufen überspringt
wie er es immer tut. Beim Aufkommen stolpert er und schlägt mit den Knien auf dem Steinfußboden auf. Es ist ein drückender
windstiller Tag im Spätsommer. Lange Bahnen aus Licht fallen durch das Zimmer im Erdgeschoss
und von draußen brennt die Sonne herein
sodass die Fenster wie vergitterte Platten Gelb im Putz leuchten. Er steht auf und reibt sich die Knie. Blickt hierhin
die Treppe hoch. Blickt dorthin
ratlos
welchen Weg er einschlagen soll. Das Zimmer ist leer. Nur das Feuer schwelt auf seinem Rost vor sich hin
orangefarbene Glut unter zart aufsteigenden Rauchspiralen. Die wunden Knie des Jungen pochen im Takt seines Herzschlags. Er verharrt mit einer Hand auf dem Riegel der Treppentür
die verschrammte lederne Spitze seines Stiefels in der Luft
bereit zum Sprung
zur Flucht. Seine hellen
beinahe goldenen Haare stehen ihm in kleinen Büscheln vom Kopf ab. Es ist niemand da. Er seufzt
atmet tief die warme
staubige Luft ein und geht durchs Zimmer zur Haustür und auf die Straße hinaus. Vom Lärm der Wagen
Pferde
Händler und anderen Menschen
die einander zurufen
von einem Mann
der einen Sack aus dem ersten Stock wirft
bekommt er nichts mit. Der Junge schlendert am Haus entlang und in den nächsten Eingang hinein. Bei seinen Großeltern riecht es nach der ewig gleichen Mischung aus Holzrauch
Politur
Leder und Wolle
ähnlich und doch auf unbestimmbare Weise anders als in dem angrenzenden Zweizimmerhäuschen
das sein Großvater in eine schmale Lücke neben das größere Haus gebaut hat. Dort wohnt der Junge mit seiner Mutter und seinen Schwestern. Manchmal wundert er sich darüber
schließlich sind die beiden Wohnungen nur durch eine dünne Flechtwand getrennt
und trotzdem hat die Luft hier eine andere Note
einen anderen Geruch und eine andere Temperatur. In diesem Haus pfeift es förmlich
so quirlig ist der Durchzug
so laut das Klopfen und Hämmern aus der Werkstatt seines Großvaters
das Pochen und Rufen der Kunden am Fenster
das lärmende Treiben auf dem Hinterhof
das Kommen und Gehen seiner Onkel. Doch heute nicht. Der Junge steht im Durchgang und lauscht auf ein Lebenszeichen. Von hier aus kann er erkennen
dass die Werkstatt zu seiner Rechten leer ist. Die Hocker an den Werkbänken sind verwaist
die Werkzeuge liegen unbenutzt da
während die Handschuhe auf der Ablage daneben aussehen wie absichtlich hinterlassene Handabdrücke. Das Verkaufsfenster ist geschlossen und fest verriegelt. Niemand ist im Speisezimmer zu seiner Linken. Auf dem langen Tisch ein Stoß Servietten
eine unangezündete Kerze
ein Haufen Federn. Mehr nicht. Aus seiner Kehle dringt ein Ruf
ein fragendes Geräusch. Einmal
zweimal gibt er diesen Laut von sich und wartet mit schief gelegtem Kopf auf eine Antwort. Nichts. Nur das Knarren von Holzbalken
die sich sanft in der Sonne ausdehnen
das Seufzen eines Lufthauchs unter Türen und von Zimmer zu Zimmer
das Wispern von Leintüchern
das Knacken des Feuers
die unbestimmbaren Geräusche eines Hauses
das im Stillstand ist
leer. Seine Finger krampfen sich um das Eisen der Türklinke. Die Hitze des Tages treibt ihm selbst jetzt noch den Schweiß auf die Stirn und den Rücken hinunter. Der Schmerz in seinen Knien wird stärker
stechend und verfliegt wieder. Der Junge öffnet den Mund. Einen nach dem andern ruft er die Namen aller
die hier wohnen. Seine Großmutter. Die Magd. Seine Onkel. Seine Tante. Den Lehrling. Seinen Großvater. Der Junge probiert sie nacheinander durch
und kurz kommt ihm sogar der Gedanke
seinen Vater zu rufen
nach ihm zu schreien
doch der Vater ist Meilen und Stunden und Tage weit weg in London
wo der Junge noch nie war. Aber wo
fragt er sich
sind seine Mutter
seine große Schwester
seine Großmutter
seine Onkel? Wo ist die Magd? Wo sein Großvater
der tagsüber eigentlich immer zu Hause ist und für gewöhnlich in der Werkstatt dabei anzutreffen
wie er seinen Lehrling schikaniert oder seine Einnahmen notiert? Wo sind denn alle? Wie können nur beide Häuser leer sein? Der Junge wandert den Durchgang entlang. An der Tür zur Werkstatt bleibt er stehen und wirft einen prüfenden Blick über die Schulter
ehe er eintritt. Die Handschuhwerkstatt seines Großvaters darf er nur sehr selten betreten. Es ist sogar verboten
in der Tür haltzumachen. »Steh da nicht bloß untätig herum«
brüllt sein Großvater dann. »Kann ein Mensch nicht mal ein ehrliches Stück Arbeit verrichten
ohne dass die Leute stehen bleiben und ihn angaffen? Hast du nichts Besseres zu tun
als da herumzulungern und Maulaffen feilzuhalten?« Hamnet hat einen raschen Verstand: Dem Schulunterricht kann er mühelos folgen. Er erfasst Sinn und Logik dessen
was ihm gesagt wird
und er kann sich Dinge ohne Weiteres einprägen. Verben und Grammatik und Zeitformen und Rhetorik und Zahlen und Rechenergebnisse kann er sich so leicht ins Gedächtnis rufen
dass dies gelegentlich den Neid der anderen Jungen weckt. Ebenso leicht lässt er sich aber auch ablenken. Ein Karren
der während einer Griechischstunde auf der Straße vorbeifährt
lässt seine Gedanken unweigerlich von der Schiefertafel abschweifen. Er grübelt
wohin der Karren wohl unterwegs und mit was er beladen sein könnte
und dann das eine Mal
als sein Onkel ihn und seine Schwestern auf einem Heuwagen mitgenommen hatte
wie wunderbar das war
wie das frisch geschnittene Heu duftete und pikste und die Räder zum müden Hufschlag vorwärtsruckelten. Mehr als zweimal ist er in den letzten Wochen gezüchtigt worden
weil er nicht aufgepasst hatte (und die Großmutter hat gesagt
wenn das noch einmal
nur ein einziges Mal
vorkomme
würde sie seinen Vater verständigen). Die Lehrer können sich keinen Reim darauf machen. Hamnet lernt schnell und kann aus dem Gedächtnis zitieren
aber mit dem Kopf einfach nicht bei der Sache bleiben. Beim Kreischen eines Vogels in der Luft kann er mitten im Satz abbrechen
als hätte es ihm aus heiterem Himmel die Sprache verschlagen. Sieht er aus dem Augenwinkel jemanden ins Zimmer kommen
kann er alles stehen und liegen lassen - essen
lesen
seine Schularbeiten -
und demjenigen entgegensehen
als sei er herbeigeeilt
um ihm eine wichtige Nachricht zu überbringen. Er neigt dazu
sich der wirklichen
greifbaren Welt um sich herum zu entziehen. Körperlich ist er zwar noch anwesend
gedanklich aber woanders
jemand anderes
an einem Ort
den nur er selbst kennt. »Wach auf
Kind«
schreit seine Großmutter dann und schnalzt mit den Fingern vor seinem Gesicht. »Komm zurück«
zischt seine große Schwester Susanna und schnippt ihm gegens Ohr. »Pass endlich auf«
brüllen seine Lehrer. »Wohin bist du gegangen?«
flüstert Judith ihm zu
wenn er schließlich wieder im Hier und Jetzt aufwacht
sich blinzelnd umsieht und feststellt
dass er zurück ist
zu Hause
am Tisch im Kreis der Familie
und seine Mutter ihn verschmitzt ansieht
als wüsste sie ganz genau
wo er gewesen ist. Genau so ist Hamnet
als er jetzt das verbotene Reich der Handschuhwerkstatt betritt
entfallen
wozu er eigentlich hergekommen ist. Für einen Moment ist alles wie weggewischt - dass es Judith nicht gut geht und jemand nach ihr sehen muss
dass er ihre Mutter oder Großmutter oder irgendwen finden muss
der vielleicht weiß
was zu tun ist. Von einer Stange hängen Felle herab. Hamnet kennt sich gut genug aus
um den rostroten getupften Balg eines Hirsches zu erkennen
das feine
schmiegsame Ziegenleder
die kleineren Felle von Eichhörnchen
die grobe
borstige Wildschweinhaut. Als er näher tritt
geht durch die Felle ein Rascheln und Raunen
gerade so
als könnte noch ein Fünkchen Leben in ihnen stecken
genug
um ihn zu hören. Hamnet streckt einen Finger aus und berührt die Ziegenhaut. Sie fühlt sich so unerfindlich weich an
wie Flussalgen
die an seinen Beinen entlangstreichen
wenn er an heißen Tagen schwimmen geht. Die Haut schwingt sanft hin und her
die Beine wie im Flug gespreizt
einem Vogel ähnlich oder einem Ghul. Hamnet dreht sich um und betrachtet die zwei Arbeitsplätze an der Werkbank: den gepolsterten aus Leder
glatt gescheuert von den Kniebundhosen seines Großvaters
und den harten Holzhocker für Ned
den Lehrling. An der Wand darüber hängen die Werkzeuge. Er weiß genau
welche zum Schneiden
zum Dehnen
welche zum Stecken und Nähen sind. Aber der schmalere der beiden Handschuhstrecker - der für Frauen - ist nicht an seinem Platz. Er liegt auf dem Tisch
an dem Ned sonst mit gesenktem Kopf
gebeugten Schultern und eifrigen
flinken Fingern arbeitet. Hamnet weiß
dass sein Großvater den Jungen schon beim geringsten Anlass anbrüllt - oder Schlimmeres -
deshalb nimmt er den Handschuhstrecker
wiegt das warme Holz kurz in der Hand und hängt ihn dann an seinen Haken zurück. Gerade als er die Schublade herausziehen will
in der die Garnknäuel und die Knopfschachteln aufbewahrt werden - sachte
sachte
weil er weiß
dass die Lade quietscht -
dringt ein Geräusch
ein leises Scharren oder Knarzen
an sein Ohr. In Sekundenschnelle ist Hamnet im Durchgang und draußen auf dem Hof. Seine Aufgabe fällt ihm wieder ein. Was macht er da nur? Trödelt in der Werkstatt
während seine Schwester leidet - er muss Hilfe holen. Eine nach der anderen reißt er die Tür zum Küchenhaus
zum Sudhaus
zur Waschküche auf. Allesamt leer
dunkel und kühl. Er ruft noch einmal
ein wenig heiser jetzt
der Hals kratzt ihm schon vom Schreien. Er lehnt sich an die Mauer des Küchenhauses und befördert eine Nussschale mit einem Tritt quer über den Hof. Er weiß weder ein noch aus. Irgendjemand sollte doch da sein. Irgendjemand ist immer da. Wo stecken bloß alle? Was soll er tun? Wie kann es sein
dass niemand zu Hause ist? Dass seine Mutter und Großmutter nicht wie sonst drinnen Ofentüren aufwuchten oder in irgendwelchen Töpfen über dem Feuer rühren? Er steht im Hof und blickt sich um: die Durchgangstür
die Sudhaustür
die Tür zu ihrem Haus. Wo soll er hin? Wen kann er zu Hilfe rufen? Und wo sind die anderen? Jedes Leben hat seinen Kern
seinen Dreh- und Angelpunkt
von dem alles ausgeht
zu dem alles zurückkehrt. Für die abwesende Mutter ist es dieser Moment: der Junge
das leere Haus
der verwaiste Hof
der ungehörte Schrei. Wie er da hinterm Haus steht und nach den Menschen ruft
die ihn gefüttert
gewickelt
in den Schlaf gewiegt
bei seinen ersten Schritten an die Hand genommen und ihm beigebracht haben
einen Löffel zu benutzen
auf eine Brühe zu pusten
bevor er davon isst
sich beim Überqueren einer Straße in Acht zu nehmen
schlafende Hunde nicht zu wecken
einen Becher vor dem Trinken auszuspülen
nicht ins tiefe Wasser zu gehen. Für den Rest ihres Lebens wird dieser Moment ihr zuinnerst eingeprägt sein. Hamnet scharrt mit den Stiefeln durch den Streusand im Hof
wo noch die Überbleibsel eines Spiels herumliegen
mit dem Judith und er sich vorhin erst die Zeit vertrieben haben: Mit Kiefernzapfen an Schnüren haben sie die Jungen der Küchenkatze gelockt und an der Nase herumgeführt. Kleine Geschöpfe sind das
mit Gesichtern wie Stiefmütterchen und weichen Polstern an den Pfoten. Die Katze hatte sich in einem Fass in der Speisekammer verkrochen
um sie zur Welt zu bringen
und sie dort wochenlang versteckt. Hamnets Großmutter hatte überall nach dem Wurf gesucht
weil sie ihn
wie sonst auch
ertränken wollte
doch die Katze hatte das zu verhindern gewusst und ihre Jungen in Sicherheit gebracht. Jetzt sind sie halb ausgewachsen
die zwei
laufen herum
klettern an Säcken hoch
jagen Federn und Wollresten und Blättern nach. Judith hält es kaum ein paar Stunden ohne sie aus. Meistens steckt eins in ihrer Schürzentasche
eine verräterische Ausbuchtung
ein spitzes Ohrenpaar
das hervorlugt
woraufhin die Großmutter wieder losschreit und mit der Regentonne droht. Dann raunt Hamnets Mutter ihnen zu
dass die Jungen zu groß sind
um noch ertränkt zu werden. »Sie könnte es jetzt nicht mehr«
sagt sie
wenn die drei unter sich sind
und wischt Judith die Tränen aus dem entsetzten Gesicht. »Sie hätte gar nicht den Mumm dazu. Die Kleinen würden sich doch wehren
sie würden kämpfen.« Jetzt schlendert Hamnet zu den verlassenen Kiefernzapfen
deren Bänder sich durch die zerstampfte Erde schlängeln. Die Kätzchen sind nirgends zu sehen. Mit der Fußspitze stupst er einen Zapfen an
der in einem ungleichmäßigen Bogen fortkullert. Er sieht zu den beiden Häusern hoch
den vielen Fenstern des großen und dem dunklen Eingang seines eigenen. Normalerweise wären er und Judith hellauf begeistert
plötzlich allein zu sein. In genau diesem Moment würde er mit Engelszungen auf sie einreden
dass sie mit ihm aufs Dach des Küchenhauses klettert
wo ein Pflaumenbaum seine Zweige über die Nachbarsmauer reckt. Sie biegen sich unter dem Gewicht der vielen Pflaumen
deren rotgoldene Haut vor Reife schier platzt; schon vor Tagen hat Hamnet sie durch eines der oberen Fenster bei seinen Großeltern erspäht. Wenn dies ein normaler Tag wäre
würde er Judith trotz ihrer Einwände aufs Dach hinaufschieben
damit sie ihre Taschen mit gestohlenen Früchten vollstopfen kann. Arglos
wie sie ist
tut sie nicht gern etwas Unehrliches oder Verbotenes
und doch kann Hamnet sie gewöhnlich mit ein paar Worten umstimmen. Als sie aber heute mit den Katzenjungen spielten
die ihrem verfrühten Tod entronnen waren
hatte Judith gesagt
dass sie Kopfschmerzen habe und ihr der Hals wehtue
dass ihr kalt sei
dann warm. Sie war hineingegangen
um sich hinzulegen. Hamnet kehrt ins Haupthaus zurück. Gerade als er vom Gang auf die Straße hinaustreten will
hört er etwas
ein Klicken oder Knarren
ein winziges Geräusch nur
aber eindeutig das eines anderen Menschen. »Hallo?«
ruft Hamnet. Er wartet. Nichts. Stille flutet aus dem Speisezimmer und der Stube dahinter. »Wer ist da?« Einen Augenblick
nur einen kurzen Augenblick lang
schwelgt er in der Vorstellung
dass sein Vater aus London heimgekehrt sein könnte
um sie zu überraschen. Das war schon vorgekommen. Sein Vater ist da
er steht gleich hinter dieser Tür und hält sich vielleicht nur zum Spaß versteckt
um sie ein wenig hinters Licht zu führen. Wenn Hamnet ins Zimmer tritt
wird sein Vater hervorspringen; seine Tasche und sein Geldbeutel werden mit Geschenken vollgestopft sein; er wird nach Pferden
nach Heu
nach vielen Tagen auf der Straße riechen; er wird seinen Sohn in die Arme schließen
und der wird die Wange an die groben
kratzigen Verschlüsse am Wams seines Vaters drücken. Natürlich ist es nicht sein Vater. Hamnet weiß es einfach. Der Vater würde auf seine Rufe antworten
er würde sich nie so verstecken
wenn niemand zu Hause ist. Dennoch spürt Hamnet beim Betreten der Stube ein sickerndes
sackendes Gefühl der Enttäuschung in der Brust
als er dort seinen Großvater neben dem niedrigen Tisch sieht. Im Zimmer ist es düster
vor fast alle Fenster sind die Vorhänge zugezogen. Sein Großvater kauert mit dem Rücken zu ihm und ist mit irgendetwas zugange: Papieren
einem Stoffsack
Rechenmünzen. Auf dem Tisch steht ein Krug
daneben ein Becher. Die Hand seines Großvaters umkreist unschlüssig diese Gegenstände; sein Kopf ist gebeugt
sein Atem geht stoßweise und schnaufend. Hamnet räuspert sich höflich. Wutentbrannt schwenkt sein Großvater herum und rudert mit den Armen
als müsse er einen Angreifer abwehren. »Wer da?«
schreit er. »Wer ist das?« »Ich bin's.« »Wer?« »Ich.« Der Junge tritt in den schräg durchs Fenster fallenden Lichtstreifen. »Hamnet.« Sein Großvater lässt sich wieder auf den Stuhl plumpsen. »Du hast mir einen Heidenschrecken eingejagt«
ruft er. »Was schleichst du hier so herum?« »Bitte entschuldige«
sagt Hamnet. »Ich habe gerufen und gerufen
aber keiner hat geantwortet. Judith ist ...« »Sie sind nicht da«
schneidet ihm sein Großvater mit einer knappen Handbewegung das Wort ab. »Was willst du nur immer mit diesen ganzen Weibern?« Er packt den Krug und zielt damit auf seinen Becher. Die Flüssigkeit - Ale
denkt Hamnet - schwappt heraus
ein Teil in den Becher
ein Teil daneben auf den Tisch. Fluchend tupft sein Großvater mit dem Ärmel die Papiere ab
und Hamnet kommt zum ersten Mal der Gedanke
dass er vielleicht betrunken sein könnte. »Weißt du
wo sie sind?«
fragt er. »Was?«
sagt der Großvater
immer noch mit seinen Papieren befasst. Seine Verärgerung über den angerichteten Schaden scheint wie ein Rapier aus ihm herauszufahren und auf der Suche nach einem Gegner durchs Zimmer zu wandern
und kurz kommt dem Jungen das Haselholz seiner Mutter in den Sinn
wie es zum Wasser hinzieht
nur dass er keine Wasserader ist und die Wut seines Großvaters nicht die zitternde Wünschelrute. Diese Wut ist schneidend
scharf und unberechenbar. Hamnet hat keine Ahnung
was ihm blüht oder was er jetzt tun soll. »Steh da nicht so untätig rum«
faucht sein Großvater. »Jetzt hilf mir schon!« Hamnet macht einen schlurfenden Schritt nach vorn
dann noch einen. Er ist auf der Hut
die Worte seines Vaters immer im Hinterkopf: »Halt dich von deinem Großvater fern
wenn er wieder eine seiner Launen hat. Sieh zu
dass du einen weiten Bogen um ihn machst. Hörst du?« Das hatte ihm der Vater bei seinem letzten Besuch gesagt. Sie hatten dabei geholfen
einen Wagen von der Gerberei auszuladen
als John
sein Großvater
ein Bündel Felle in den Schmutz fallen ließ und vor Wut ein Schälmesser gegen die Hofmauer schleuderte. Der Vater hatte Hamnet sofort beiseite- und hinter sich gezogen
aber John war ohne ein weiteres Wort an ihnen vorbei ins Haus gestürmt. Da hatte der Vater Hamnets Gesicht zwischen beide Hände genommen
die Finger in seinem Nacken eingerollt und ihn fest angesehen. »Deinen Schwestern wird er nichts tun
aber um dich mache ich mir Sorgen«
murmelte er mit gerunzelter Stirn. »Du weißt
welche Launen ich meine
oder?« Hamnet hatte genickt
sich zugleich aber gewünscht
dass der Moment andauern
der Vater seinen Kopf noch länger so halten möge: Es gab ihm ein Gefühl von Leichtigkeit und Sicherheit
davon
bis ins Innerste erkannt und geschätzt zu werden. Gleichzeitig spürte er eine zähe Unruhe in sich aufwogen wie eine Mahlzeit
die sein Magen nicht vertrug. Er dachte an das schneidende Hickhack der Worte zwischen seinem Vater und Großvater
und wie der Vater sich unaufhörlich am Kragen herumzerrte
wenn er mit seinen Eltern am Tisch saß. »Schwör es mir«
hatte sein Vater mit heiserer Stimme gesagt
als sie da im Hof standen. »Schwöre. Ich muss wissen
dass du in Sicherheit bist
wenn ich nicht da bin
um dafür zu sorgen.« Hamnet nimmt an
dass er sein Wort hält. Er bleibt weit zurück
auf der anderen Seite des Kamins. Hier kann ihn sein Großvater nicht kriegen
selbst wenn er wollte. Der Großvater leert seinen Becher mit einer Hand
schüttelt mit der anderen die letzten Tropfen von einem Blatt Papier. »Nimm das«
befiehlt er und hält es ihm hin. Hamnet beugt sich vor
als ob ihm die Füße am Boden festgewachsen wären
und nimmt es mit den Fingerspitzen entgegen. Die Augen seines Großvaters sind zu wachsamen Schlitzen verengt
seine Zunge guckt aus dem Mundwinkel hervor. Er sitzt zusammengekauert auf seinem Stuhl - eine alte
traurige Kröte auf einem Stein. »Und das hier.« Sein Großvater hält ihm noch eine Seite hin. Mit gebührendem Abstand beugt sich Hamnet ein zweites Mal vor. Wie stolz sein Vater jetzt wäre
wie zufrieden. Flink wie ein Fuchs macht sein Großvater einen Satz nach vorn. Alles geht so schnell
dass Hamnet gar nicht weiß
wie ihm geschieht: Das Blatt segelt auf den Boden zwischen ihnen
sein Großvater packt ihn am Handgelenk
dann am Ellbogen und zerrt ihn in die Lücke
den Abstand
den er nach den Worten des Vaters hatte einhalten sollen. Im nächsten Moment hebt der Großvater auch die andere Hand
die immer noch den Becher hält. Hamnet sieht nur noch Schlieren vor sich - rot
orange
die Farben des Feuers
die auf ihn einstürzen -
ehe er den Schmerz spürt. Es ist ein scharfer
stechender
knüppelharter Schmerz. Der Becherrand hat ihn direkt unter der Augenbraue getroffen. »Das wird dir eine Lehre sein«
sagt sein Großvater ruhig
»dich so an Leute heranzuschleichen.« Tränen schießen Hamnet in die Augen. »Und flennst noch wie ein kleines Mädchen? Genauso eine Memme wie der Vater«
setzt der Großvater verächtlich hinzu und lässt los. Hamnet springt zurück und stößt mit dem Schienbein gegen das Faulbett. »Immer nur am Heulen und Jammern und Klagen. Kein Rückgrat. Kein Verstand. Das war von Anfang an sein Problem. Hat immer gleich gekniffen.« Hamnet rennt auf die Straße hinaus. Er wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht und tupft das Blut ab
macht dann die eigene Haustür auf und steigt hastig die Treppe hinauf
wo neben dem großen
mit Vorhängen versehenen Bett ihrer Eltern eine Gestalt auf dem Strohsack zusammengesunken ist. Sie trägt noch immer das braune Leinenhemd
dazu eine weiße Haube
deren Bänder sich lose an ihrem Hals herunterschlängeln
und liegt auf statt unter der Decke. Nur die Schuhe hat sie von sich geschleudert
die jetzt wie ein Paar leere Hülsen umgestülpt neben ihr liegen. »Judith«
sagt der Junge und berührt ihre Hand. »Geht es dir besser?« Die Lider des Mädchens heben sich. Sie starrt ihren Bruder einen Augenblick lang wie aus weiter Ferne an
ehe ihr die Augen wieder zufallen. »Ich schlafe«
murmelt sie. Sie hat das gleiche herzförmige Gesicht wie er
den gleichen spitzen Haaransatz
das gleiche unbändige kornfarbene Haar. Die Augen
die so flüchtig auf ihm lagen
sind von der gleichen Farbe - einem warmen
goldgesprenkelten Bernsteinton -
dem gleichen Schnitt wie seine eigenen. Der Grund dafür: Sie teilen sich einen Geburtstag
so
wie sie sich einmal den Leib ihrer Mutter geteilt haben. Der Junge und das Mädchen sind Zwillinge
im Abstand von wenigen Minuten geboren. Sie ähneln einander so sehr
als wären sie in derselben Glückshaube auf die Welt gekommen. Er schließt seine Finger um ihre - die gleichen Nägel
die gleiche Form der Knöchel
obwohl seine schon etwas größer
breiter
schmutziger sind - und schiebt den Gedanken beiseite
wie klamm und heiß sie sich anfühlen. »Wie geht es dir?«
fragt er. »Besser?« Sie rührt sich
krümmt ihre Finger in seinen. Ihr Kinn hebt und senkt sich wieder. Unterhalb des Kehlkopfs entdeckt der Junge eine Schwellung. Und eine weitere
wo ihr Hals in die Schulter übergeht. Er starrt sie an. Ein Paar Wachteleier unter Judiths Haut. Blass und oval liegen sie dort eingebettet
als warteten sie nur darauf zu schlüpfen. Eins an ihrem Hals
eins an ihrer Schulter. Sie flüstert etwas
ihre Lippen teilen sich
die Zunge bewegt sich in ihrem Mund. »Was hast du gesagt?«
fragt er und beugt sich hinunter. »Dein Gesicht«
wiederholt sie. »Was ist mit deinem Gesicht?« Er fasst sich an die Augenbraue und fühlt die Schwellung dort
das nasse
frische Blut. »Nichts. Es ist nichts«
erwidert er gedankenverloren. Und fährt eindringlicher fort: »Pass auf
ich hole jetzt den Arzt. Ich bin bald wieder da.« Sie sagt noch etwas. »Mama?«
wiederholt er. »Sie ... sie kommt. Sie ist nicht weit.« In Wirklichkeit ist sie über eine Meile weit weg. Agnes hat von ihrem Bruder ein Stück Land bei Hewlands gepachtet
das sich von dem Haus
in dem sie geboren wurde
bis zum Wald erstreckt. Hier hält sie Bienen in geflochtenen Hanfkörben
die von einem emsigen
hoch konzentrierten Summen erfüllt sind. Es gibt Reihen von Kräutern
Blumen
Pflanzen und Stielen
die sich an Stützzweigen heraufwinden. »Agnes' Hexengarten«
nennt ihre Stiefmutter es nur und verdreht die Augen. In den meisten Wochen kann man Agnes dabei zusehen
wie sie die Reihen dieser Pflanzen abschreitet
Unkraut jätet
die Hand auf die Windungen ihrer Bienenstöcke legt
hier und da einen Trieb beschneidet und bestimmte Blüten
Blätter
Kapseln und Samen in einem Lederbeutel an ihrer Hüfte verschwinden lässt. Heute aber ist sie von ihrem Bruder herbeigerufen worden
der den Schäferssohn losgeschickt hat
weil mit den Bienen etwas nicht stimmt - sie haben den Stock verlassen und sammeln sich in den Bäumen. Agnes umrundet die Körbe und lauscht auf das
was die Bienen ihr mitteilen. Sie mustert den Schwarm im Obstgarten
einen auf sämtliche Äste verteilten schwärzlichen Fleck
der vor Empörung regelrecht bebt. Etwas hat die Bienen in Aufruhr versetzt - das Wetter
ein Temperaturwechsel oder vielleicht ein Störenfried? Eines der Kinder
ein verirrtes Schaf
ihre Stiefmutter? Sie lässt ihre Hand von unten in einen der Körbe hineingleiten und fährt an der Schicht der verbliebenen Bienen entlang. Im kühlen
fließenden Schatten der Bäume steht sie in einem einfachen Gewand
der dicke Zopf ist unter einer weißen Bundhaube auf ihrem Scheitel festgesteckt. Keine Bienenkappe bedeckt ihr Gesicht - sie trägt nie eine. Von Nahem würde man sehen
dass ihre Lippen sich bewegen
weil sie die Insekten
die ihren Kopf umkreisen
sich auf ihren Ärmel oder in ihr Gesicht verirren
mit kleinen Geräuschen und Klicklauten beschwichtigt. Sie zieht eine Honigwabe aus dem Korb und geht in die Hocke
um sie in Augenschein zu nehmen. Die ganze Oberfläche wimmelt von etwas
das ein einziges lebendiges Gebilde zu sein scheint
braun mit goldenen Streifen
die Flügel wie winzige Herzen. Es sind Hunderte Bienen
die sich an ihre übervolle Wabe klammern
ihre Arbeit
ihren Lohn. Sie hebt ein schwelendes Rosmarinbündel und fächelt damit sanft über die Wabe. Eine Rauchfahne zieht durch die stille Augustluft. Die Bienen fliegen geschlossen auf und schwärmen aus
eine Wolke ohne Ränder
ein Netz in der Luft
das wie von Zauberhand immer wieder ausgeworfen wird. Sachte
sachte schabt sie das bleiche Wachs in einen Korb
und der Honig löst sich als vorsichtiger
beinahe widerstrebender Tropfen von der Wabe. Zäh wie Harz
orangegolden
scharf nach Thymian und der blumigen Süße von Lavendel duftend
rinnt er in den Topf
den Agnes bereithält
ein anschwellender
verschlungener Faden
der sich von der Wabe nach unten zieht. Plötzlich ist da das Gefühl einer Veränderung
eines Lufthauchs. Als wäre ein Vogel lautlos über sie hinweggeflogen. Noch immer in der Hocke
blickt Agnes auf. Die Bewegung erfasst ihre Hand
und Honig tropft ihr aufs Handgelenk
läuft ihr über die Finger und am Topf herunter. Agnes runzelt die Stirn
legt die Honigwabe ab und steht
sich die Fingerspitzen leckend
auf. Sie überblickt die strohgedeckten Dachvorsprünge von Hewlands zu ihrer Rechten
das weiße Geröll der Wolken darüber
die rauschenden Äste des Waldes zu ihrer Linken
den Bienenschwarm in den Apfelbäumen. In der Ferne treibt ihr zweitjüngster Bruder eine Schafherde mit einer Gerte den Reitweg hinunter
umkreist von dem hierhin und dorthin tollenden Hund. Alles ist so
wie es sein sollte. Einen Moment lang starrt Agnes auf den holprigen Zug der Schafe
ihre dahinhuschenden Klauen
ihr schmutziges
schlammverkrustetes Fell. Eine Biene landet auf ihrer Wange; sie streicht sie weg. Später
und für den Rest ihres Lebens
wird sie glauben
dass sie
wenn sie nur auf der Stelle aufgebrochen wäre
ihre Taschen
ihre Pflanzen
ihren Honig zusammengesucht und den Weg nach Hause angetreten
wen
indem er sich an der Wand entlangschiebt
eine Stufe nach der anderen mit polternden Stiefelschritten. Beinahe am Fuß der Treppe hält er kurz inne und schielt noch einmal über die Schulter hinauf
ehe er kurz entschlossen die letzten drei Stufen überspringt
wie er es immer tut. Beim Aufkommen stolpert er und schlägt mit den Knien auf dem Steinfußboden auf. Es ist ein drückender
windstiller Tag im Spätsommer. Lange Bahnen aus Licht fallen durch das Zimmer im Erdgeschoss
und von draußen brennt die Sonne herein
sodass die Fenster wie vergitterte Platten Gelb im Putz leuchten. Er steht auf und reibt sich die Knie. Blickt hierhin
die Treppe hoch. Blickt dorthin
ratlos
welchen Weg er einschlagen soll. Das Zimmer ist leer. Nur das Feuer schwelt auf seinem Rost vor sich hin
orangefarbene Glut unter zart aufsteigenden Rauchspiralen. Die wunden Knie des Jungen pochen im Takt seines Herzschlags. Er verharrt mit einer Hand auf dem Riegel der Treppentür
die verschrammte lederne Spitze seines Stiefels in der Luft
bereit zum Sprung
zur Flucht. Seine hellen
beinahe goldenen Haare stehen ihm in kleinen Büscheln vom Kopf ab. Es ist niemand da. Er seufzt
atmet tief die warme
staubige Luft ein und geht durchs Zimmer zur Haustür und auf die Straße hinaus. Vom Lärm der Wagen
Pferde
Händler und anderen Menschen
die einander zurufen
von einem Mann
der einen Sack aus dem ersten Stock wirft
bekommt er nichts mit. Der Junge schlendert am Haus entlang und in den nächsten Eingang hinein. Bei seinen Großeltern riecht es nach der ewig gleichen Mischung aus Holzrauch
Politur
Leder und Wolle
ähnlich und doch auf unbestimmbare Weise anders als in dem angrenzenden Zweizimmerhäuschen
das sein Großvater in eine schmale Lücke neben das größere Haus gebaut hat. Dort wohnt der Junge mit seiner Mutter und seinen Schwestern. Manchmal wundert er sich darüber
schließlich sind die beiden Wohnungen nur durch eine dünne Flechtwand getrennt
und trotzdem hat die Luft hier eine andere Note
einen anderen Geruch und eine andere Temperatur. In diesem Haus pfeift es förmlich
so quirlig ist der Durchzug
so laut das Klopfen und Hämmern aus der Werkstatt seines Großvaters
das Pochen und Rufen der Kunden am Fenster
das lärmende Treiben auf dem Hinterhof
das Kommen und Gehen seiner Onkel. Doch heute nicht. Der Junge steht im Durchgang und lauscht auf ein Lebenszeichen. Von hier aus kann er erkennen
dass die Werkstatt zu seiner Rechten leer ist. Die Hocker an den Werkbänken sind verwaist
die Werkzeuge liegen unbenutzt da
während die Handschuhe auf der Ablage daneben aussehen wie absichtlich hinterlassene Handabdrücke. Das Verkaufsfenster ist geschlossen und fest verriegelt. Niemand ist im Speisezimmer zu seiner Linken. Auf dem langen Tisch ein Stoß Servietten
eine unangezündete Kerze
ein Haufen Federn. Mehr nicht. Aus seiner Kehle dringt ein Ruf
ein fragendes Geräusch. Einmal
zweimal gibt er diesen Laut von sich und wartet mit schief gelegtem Kopf auf eine Antwort. Nichts. Nur das Knarren von Holzbalken
die sich sanft in der Sonne ausdehnen
das Seufzen eines Lufthauchs unter Türen und von Zimmer zu Zimmer
das Wispern von Leintüchern
das Knacken des Feuers
die unbestimmbaren Geräusche eines Hauses
das im Stillstand ist
leer. Seine Finger krampfen sich um das Eisen der Türklinke. Die Hitze des Tages treibt ihm selbst jetzt noch den Schweiß auf die Stirn und den Rücken hinunter. Der Schmerz in seinen Knien wird stärker
stechend und verfliegt wieder. Der Junge öffnet den Mund. Einen nach dem andern ruft er die Namen aller
die hier wohnen. Seine Großmutter. Die Magd. Seine Onkel. Seine Tante. Den Lehrling. Seinen Großvater. Der Junge probiert sie nacheinander durch
und kurz kommt ihm sogar der Gedanke
seinen Vater zu rufen
nach ihm zu schreien
doch der Vater ist Meilen und Stunden und Tage weit weg in London
wo der Junge noch nie war. Aber wo
fragt er sich
sind seine Mutter
seine große Schwester
seine Großmutter
seine Onkel? Wo ist die Magd? Wo sein Großvater
der tagsüber eigentlich immer zu Hause ist und für gewöhnlich in der Werkstatt dabei anzutreffen
wie er seinen Lehrling schikaniert oder seine Einnahmen notiert? Wo sind denn alle? Wie können nur beide Häuser leer sein? Der Junge wandert den Durchgang entlang. An der Tür zur Werkstatt bleibt er stehen und wirft einen prüfenden Blick über die Schulter
ehe er eintritt. Die Handschuhwerkstatt seines Großvaters darf er nur sehr selten betreten. Es ist sogar verboten
in der Tür haltzumachen. »Steh da nicht bloß untätig herum«
brüllt sein Großvater dann. »Kann ein Mensch nicht mal ein ehrliches Stück Arbeit verrichten
ohne dass die Leute stehen bleiben und ihn angaffen? Hast du nichts Besseres zu tun
als da herumzulungern und Maulaffen feilzuhalten?« Hamnet hat einen raschen Verstand: Dem Schulunterricht kann er mühelos folgen. Er erfasst Sinn und Logik dessen
was ihm gesagt wird
und er kann sich Dinge ohne Weiteres einprägen. Verben und Grammatik und Zeitformen und Rhetorik und Zahlen und Rechenergebnisse kann er sich so leicht ins Gedächtnis rufen
dass dies gelegentlich den Neid der anderen Jungen weckt. Ebenso leicht lässt er sich aber auch ablenken. Ein Karren
der während einer Griechischstunde auf der Straße vorbeifährt
lässt seine Gedanken unweigerlich von der Schiefertafel abschweifen. Er grübelt
wohin der Karren wohl unterwegs und mit was er beladen sein könnte
und dann das eine Mal
als sein Onkel ihn und seine Schwestern auf einem Heuwagen mitgenommen hatte
wie wunderbar das war
wie das frisch geschnittene Heu duftete und pikste und die Räder zum müden Hufschlag vorwärtsruckelten. Mehr als zweimal ist er in den letzten Wochen gezüchtigt worden
weil er nicht aufgepasst hatte (und die Großmutter hat gesagt
wenn das noch einmal
nur ein einziges Mal
vorkomme
würde sie seinen Vater verständigen). Die Lehrer können sich keinen Reim darauf machen. Hamnet lernt schnell und kann aus dem Gedächtnis zitieren
aber mit dem Kopf einfach nicht bei der Sache bleiben. Beim Kreischen eines Vogels in der Luft kann er mitten im Satz abbrechen
als hätte es ihm aus heiterem Himmel die Sprache verschlagen. Sieht er aus dem Augenwinkel jemanden ins Zimmer kommen
kann er alles stehen und liegen lassen - essen
lesen
seine Schularbeiten -
und demjenigen entgegensehen
als sei er herbeigeeilt
um ihm eine wichtige Nachricht zu überbringen. Er neigt dazu
sich der wirklichen
greifbaren Welt um sich herum zu entziehen. Körperlich ist er zwar noch anwesend
gedanklich aber woanders
jemand anderes
an einem Ort
den nur er selbst kennt. »Wach auf
Kind«
schreit seine Großmutter dann und schnalzt mit den Fingern vor seinem Gesicht. »Komm zurück«
zischt seine große Schwester Susanna und schnippt ihm gegens Ohr. »Pass endlich auf«
brüllen seine Lehrer. »Wohin bist du gegangen?«
flüstert Judith ihm zu
wenn er schließlich wieder im Hier und Jetzt aufwacht
sich blinzelnd umsieht und feststellt
dass er zurück ist
zu Hause
am Tisch im Kreis der Familie
und seine Mutter ihn verschmitzt ansieht
als wüsste sie ganz genau
wo er gewesen ist. Genau so ist Hamnet
als er jetzt das verbotene Reich der Handschuhwerkstatt betritt
entfallen
wozu er eigentlich hergekommen ist. Für einen Moment ist alles wie weggewischt - dass es Judith nicht gut geht und jemand nach ihr sehen muss
dass er ihre Mutter oder Großmutter oder irgendwen finden muss
der vielleicht weiß
was zu tun ist. Von einer Stange hängen Felle herab. Hamnet kennt sich gut genug aus
um den rostroten getupften Balg eines Hirsches zu erkennen
das feine
schmiegsame Ziegenleder
die kleineren Felle von Eichhörnchen
die grobe
borstige Wildschweinhaut. Als er näher tritt
geht durch die Felle ein Rascheln und Raunen
gerade so
als könnte noch ein Fünkchen Leben in ihnen stecken
genug
um ihn zu hören. Hamnet streckt einen Finger aus und berührt die Ziegenhaut. Sie fühlt sich so unerfindlich weich an
wie Flussalgen
die an seinen Beinen entlangstreichen
wenn er an heißen Tagen schwimmen geht. Die Haut schwingt sanft hin und her
die Beine wie im Flug gespreizt
einem Vogel ähnlich oder einem Ghul. Hamnet dreht sich um und betrachtet die zwei Arbeitsplätze an der Werkbank: den gepolsterten aus Leder
glatt gescheuert von den Kniebundhosen seines Großvaters
und den harten Holzhocker für Ned
den Lehrling. An der Wand darüber hängen die Werkzeuge. Er weiß genau
welche zum Schneiden
zum Dehnen
welche zum Stecken und Nähen sind. Aber der schmalere der beiden Handschuhstrecker - der für Frauen - ist nicht an seinem Platz. Er liegt auf dem Tisch
an dem Ned sonst mit gesenktem Kopf
gebeugten Schultern und eifrigen
flinken Fingern arbeitet. Hamnet weiß
dass sein Großvater den Jungen schon beim geringsten Anlass anbrüllt - oder Schlimmeres -
deshalb nimmt er den Handschuhstrecker
wiegt das warme Holz kurz in der Hand und hängt ihn dann an seinen Haken zurück. Gerade als er die Schublade herausziehen will
in der die Garnknäuel und die Knopfschachteln aufbewahrt werden - sachte
sachte
weil er weiß
dass die Lade quietscht -
dringt ein Geräusch
ein leises Scharren oder Knarzen
an sein Ohr. In Sekundenschnelle ist Hamnet im Durchgang und draußen auf dem Hof. Seine Aufgabe fällt ihm wieder ein. Was macht er da nur? Trödelt in der Werkstatt
während seine Schwester leidet - er muss Hilfe holen. Eine nach der anderen reißt er die Tür zum Küchenhaus
zum Sudhaus
zur Waschküche auf. Allesamt leer
dunkel und kühl. Er ruft noch einmal
ein wenig heiser jetzt
der Hals kratzt ihm schon vom Schreien. Er lehnt sich an die Mauer des Küchenhauses und befördert eine Nussschale mit einem Tritt quer über den Hof. Er weiß weder ein noch aus. Irgendjemand sollte doch da sein. Irgendjemand ist immer da. Wo stecken bloß alle? Was soll er tun? Wie kann es sein
dass niemand zu Hause ist? Dass seine Mutter und Großmutter nicht wie sonst drinnen Ofentüren aufwuchten oder in irgendwelchen Töpfen über dem Feuer rühren? Er steht im Hof und blickt sich um: die Durchgangstür
die Sudhaustür
die Tür zu ihrem Haus. Wo soll er hin? Wen kann er zu Hilfe rufen? Und wo sind die anderen? Jedes Leben hat seinen Kern
seinen Dreh- und Angelpunkt
von dem alles ausgeht
zu dem alles zurückkehrt. Für die abwesende Mutter ist es dieser Moment: der Junge
das leere Haus
der verwaiste Hof
der ungehörte Schrei. Wie er da hinterm Haus steht und nach den Menschen ruft
die ihn gefüttert
gewickelt
in den Schlaf gewiegt
bei seinen ersten Schritten an die Hand genommen und ihm beigebracht haben
einen Löffel zu benutzen
auf eine Brühe zu pusten
bevor er davon isst
sich beim Überqueren einer Straße in Acht zu nehmen
schlafende Hunde nicht zu wecken
einen Becher vor dem Trinken auszuspülen
nicht ins tiefe Wasser zu gehen. Für den Rest ihres Lebens wird dieser Moment ihr zuinnerst eingeprägt sein. Hamnet scharrt mit den Stiefeln durch den Streusand im Hof
wo noch die Überbleibsel eines Spiels herumliegen
mit dem Judith und er sich vorhin erst die Zeit vertrieben haben: Mit Kiefernzapfen an Schnüren haben sie die Jungen der Küchenkatze gelockt und an der Nase herumgeführt. Kleine Geschöpfe sind das
mit Gesichtern wie Stiefmütterchen und weichen Polstern an den Pfoten. Die Katze hatte sich in einem Fass in der Speisekammer verkrochen
um sie zur Welt zu bringen
und sie dort wochenlang versteckt. Hamnets Großmutter hatte überall nach dem Wurf gesucht
weil sie ihn
wie sonst auch
ertränken wollte
doch die Katze hatte das zu verhindern gewusst und ihre Jungen in Sicherheit gebracht. Jetzt sind sie halb ausgewachsen
die zwei
laufen herum
klettern an Säcken hoch
jagen Federn und Wollresten und Blättern nach. Judith hält es kaum ein paar Stunden ohne sie aus. Meistens steckt eins in ihrer Schürzentasche
eine verräterische Ausbuchtung
ein spitzes Ohrenpaar
das hervorlugt
woraufhin die Großmutter wieder losschreit und mit der Regentonne droht. Dann raunt Hamnets Mutter ihnen zu
dass die Jungen zu groß sind
um noch ertränkt zu werden. »Sie könnte es jetzt nicht mehr«
sagt sie
wenn die drei unter sich sind
und wischt Judith die Tränen aus dem entsetzten Gesicht. »Sie hätte gar nicht den Mumm dazu. Die Kleinen würden sich doch wehren
sie würden kämpfen.« Jetzt schlendert Hamnet zu den verlassenen Kiefernzapfen
deren Bänder sich durch die zerstampfte Erde schlängeln. Die Kätzchen sind nirgends zu sehen. Mit der Fußspitze stupst er einen Zapfen an
der in einem ungleichmäßigen Bogen fortkullert. Er sieht zu den beiden Häusern hoch
den vielen Fenstern des großen und dem dunklen Eingang seines eigenen. Normalerweise wären er und Judith hellauf begeistert
plötzlich allein zu sein. In genau diesem Moment würde er mit Engelszungen auf sie einreden
dass sie mit ihm aufs Dach des Küchenhauses klettert
wo ein Pflaumenbaum seine Zweige über die Nachbarsmauer reckt. Sie biegen sich unter dem Gewicht der vielen Pflaumen
deren rotgoldene Haut vor Reife schier platzt; schon vor Tagen hat Hamnet sie durch eines der oberen Fenster bei seinen Großeltern erspäht. Wenn dies ein normaler Tag wäre
würde er Judith trotz ihrer Einwände aufs Dach hinaufschieben
damit sie ihre Taschen mit gestohlenen Früchten vollstopfen kann. Arglos
wie sie ist
tut sie nicht gern etwas Unehrliches oder Verbotenes
und doch kann Hamnet sie gewöhnlich mit ein paar Worten umstimmen. Als sie aber heute mit den Katzenjungen spielten
die ihrem verfrühten Tod entronnen waren
hatte Judith gesagt
dass sie Kopfschmerzen habe und ihr der Hals wehtue
dass ihr kalt sei
dann warm. Sie war hineingegangen
um sich hinzulegen. Hamnet kehrt ins Haupthaus zurück. Gerade als er vom Gang auf die Straße hinaustreten will
hört er etwas
ein Klicken oder Knarren
ein winziges Geräusch nur
aber eindeutig das eines anderen Menschen. »Hallo?«
ruft Hamnet. Er wartet. Nichts. Stille flutet aus dem Speisezimmer und der Stube dahinter. »Wer ist da?« Einen Augenblick
nur einen kurzen Augenblick lang
schwelgt er in der Vorstellung
dass sein Vater aus London heimgekehrt sein könnte
um sie zu überraschen. Das war schon vorgekommen. Sein Vater ist da
er steht gleich hinter dieser Tür und hält sich vielleicht nur zum Spaß versteckt
um sie ein wenig hinters Licht zu führen. Wenn Hamnet ins Zimmer tritt
wird sein Vater hervorspringen; seine Tasche und sein Geldbeutel werden mit Geschenken vollgestopft sein; er wird nach Pferden
nach Heu
nach vielen Tagen auf der Straße riechen; er wird seinen Sohn in die Arme schließen
und der wird die Wange an die groben
kratzigen Verschlüsse am Wams seines Vaters drücken. Natürlich ist es nicht sein Vater. Hamnet weiß es einfach. Der Vater würde auf seine Rufe antworten
er würde sich nie so verstecken
wenn niemand zu Hause ist. Dennoch spürt Hamnet beim Betreten der Stube ein sickerndes
sackendes Gefühl der Enttäuschung in der Brust
als er dort seinen Großvater neben dem niedrigen Tisch sieht. Im Zimmer ist es düster
vor fast alle Fenster sind die Vorhänge zugezogen. Sein Großvater kauert mit dem Rücken zu ihm und ist mit irgendetwas zugange: Papieren
einem Stoffsack
Rechenmünzen. Auf dem Tisch steht ein Krug
daneben ein Becher. Die Hand seines Großvaters umkreist unschlüssig diese Gegenstände; sein Kopf ist gebeugt
sein Atem geht stoßweise und schnaufend. Hamnet räuspert sich höflich. Wutentbrannt schwenkt sein Großvater herum und rudert mit den Armen
als müsse er einen Angreifer abwehren. »Wer da?«
schreit er. »Wer ist das?« »Ich bin's.« »Wer?« »Ich.« Der Junge tritt in den schräg durchs Fenster fallenden Lichtstreifen. »Hamnet.« Sein Großvater lässt sich wieder auf den Stuhl plumpsen. »Du hast mir einen Heidenschrecken eingejagt«
ruft er. »Was schleichst du hier so herum?« »Bitte entschuldige«
sagt Hamnet. »Ich habe gerufen und gerufen
aber keiner hat geantwortet. Judith ist ...« »Sie sind nicht da«
schneidet ihm sein Großvater mit einer knappen Handbewegung das Wort ab. »Was willst du nur immer mit diesen ganzen Weibern?« Er packt den Krug und zielt damit auf seinen Becher. Die Flüssigkeit - Ale
denkt Hamnet - schwappt heraus
ein Teil in den Becher
ein Teil daneben auf den Tisch. Fluchend tupft sein Großvater mit dem Ärmel die Papiere ab
und Hamnet kommt zum ersten Mal der Gedanke
dass er vielleicht betrunken sein könnte. »Weißt du
wo sie sind?«
fragt er. »Was?«
sagt der Großvater
immer noch mit seinen Papieren befasst. Seine Verärgerung über den angerichteten Schaden scheint wie ein Rapier aus ihm herauszufahren und auf der Suche nach einem Gegner durchs Zimmer zu wandern
und kurz kommt dem Jungen das Haselholz seiner Mutter in den Sinn
wie es zum Wasser hinzieht
nur dass er keine Wasserader ist und die Wut seines Großvaters nicht die zitternde Wünschelrute. Diese Wut ist schneidend
scharf und unberechenbar. Hamnet hat keine Ahnung
was ihm blüht oder was er jetzt tun soll. »Steh da nicht so untätig rum«
faucht sein Großvater. »Jetzt hilf mir schon!« Hamnet macht einen schlurfenden Schritt nach vorn
dann noch einen. Er ist auf der Hut
die Worte seines Vaters immer im Hinterkopf: »Halt dich von deinem Großvater fern
wenn er wieder eine seiner Launen hat. Sieh zu
dass du einen weiten Bogen um ihn machst. Hörst du?« Das hatte ihm der Vater bei seinem letzten Besuch gesagt. Sie hatten dabei geholfen
einen Wagen von der Gerberei auszuladen
als John
sein Großvater
ein Bündel Felle in den Schmutz fallen ließ und vor Wut ein Schälmesser gegen die Hofmauer schleuderte. Der Vater hatte Hamnet sofort beiseite- und hinter sich gezogen
aber John war ohne ein weiteres Wort an ihnen vorbei ins Haus gestürmt. Da hatte der Vater Hamnets Gesicht zwischen beide Hände genommen
die Finger in seinem Nacken eingerollt und ihn fest angesehen. »Deinen Schwestern wird er nichts tun
aber um dich mache ich mir Sorgen«
murmelte er mit gerunzelter Stirn. »Du weißt
welche Launen ich meine
oder?« Hamnet hatte genickt
sich zugleich aber gewünscht
dass der Moment andauern
der Vater seinen Kopf noch länger so halten möge: Es gab ihm ein Gefühl von Leichtigkeit und Sicherheit
davon
bis ins Innerste erkannt und geschätzt zu werden. Gleichzeitig spürte er eine zähe Unruhe in sich aufwogen wie eine Mahlzeit
die sein Magen nicht vertrug. Er dachte an das schneidende Hickhack der Worte zwischen seinem Vater und Großvater
und wie der Vater sich unaufhörlich am Kragen herumzerrte
wenn er mit seinen Eltern am Tisch saß. »Schwör es mir«
hatte sein Vater mit heiserer Stimme gesagt
als sie da im Hof standen. »Schwöre. Ich muss wissen
dass du in Sicherheit bist
wenn ich nicht da bin
um dafür zu sorgen.« Hamnet nimmt an
dass er sein Wort hält. Er bleibt weit zurück
auf der anderen Seite des Kamins. Hier kann ihn sein Großvater nicht kriegen
selbst wenn er wollte. Der Großvater leert seinen Becher mit einer Hand
schüttelt mit der anderen die letzten Tropfen von einem Blatt Papier. »Nimm das«
befiehlt er und hält es ihm hin. Hamnet beugt sich vor
als ob ihm die Füße am Boden festgewachsen wären
und nimmt es mit den Fingerspitzen entgegen. Die Augen seines Großvaters sind zu wachsamen Schlitzen verengt
seine Zunge guckt aus dem Mundwinkel hervor. Er sitzt zusammengekauert auf seinem Stuhl - eine alte
traurige Kröte auf einem Stein. »Und das hier.« Sein Großvater hält ihm noch eine Seite hin. Mit gebührendem Abstand beugt sich Hamnet ein zweites Mal vor. Wie stolz sein Vater jetzt wäre
wie zufrieden. Flink wie ein Fuchs macht sein Großvater einen Satz nach vorn. Alles geht so schnell
dass Hamnet gar nicht weiß
wie ihm geschieht: Das Blatt segelt auf den Boden zwischen ihnen
sein Großvater packt ihn am Handgelenk
dann am Ellbogen und zerrt ihn in die Lücke
den Abstand
den er nach den Worten des Vaters hatte einhalten sollen. Im nächsten Moment hebt der Großvater auch die andere Hand
die immer noch den Becher hält. Hamnet sieht nur noch Schlieren vor sich - rot
orange
die Farben des Feuers
die auf ihn einstürzen -
ehe er den Schmerz spürt. Es ist ein scharfer
stechender
knüppelharter Schmerz. Der Becherrand hat ihn direkt unter der Augenbraue getroffen. »Das wird dir eine Lehre sein«
sagt sein Großvater ruhig
»dich so an Leute heranzuschleichen.« Tränen schießen Hamnet in die Augen. »Und flennst noch wie ein kleines Mädchen? Genauso eine Memme wie der Vater«
setzt der Großvater verächtlich hinzu und lässt los. Hamnet springt zurück und stößt mit dem Schienbein gegen das Faulbett. »Immer nur am Heulen und Jammern und Klagen. Kein Rückgrat. Kein Verstand. Das war von Anfang an sein Problem. Hat immer gleich gekniffen.« Hamnet rennt auf die Straße hinaus. Er wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht und tupft das Blut ab
macht dann die eigene Haustür auf und steigt hastig die Treppe hinauf
wo neben dem großen
mit Vorhängen versehenen Bett ihrer Eltern eine Gestalt auf dem Strohsack zusammengesunken ist. Sie trägt noch immer das braune Leinenhemd
dazu eine weiße Haube
deren Bänder sich lose an ihrem Hals herunterschlängeln
und liegt auf statt unter der Decke. Nur die Schuhe hat sie von sich geschleudert
die jetzt wie ein Paar leere Hülsen umgestülpt neben ihr liegen. »Judith«
sagt der Junge und berührt ihre Hand. »Geht es dir besser?« Die Lider des Mädchens heben sich. Sie starrt ihren Bruder einen Augenblick lang wie aus weiter Ferne an
ehe ihr die Augen wieder zufallen. »Ich schlafe«
murmelt sie. Sie hat das gleiche herzförmige Gesicht wie er
den gleichen spitzen Haaransatz
das gleiche unbändige kornfarbene Haar. Die Augen
die so flüchtig auf ihm lagen
sind von der gleichen Farbe - einem warmen
goldgesprenkelten Bernsteinton -
dem gleichen Schnitt wie seine eigenen. Der Grund dafür: Sie teilen sich einen Geburtstag
so
wie sie sich einmal den Leib ihrer Mutter geteilt haben. Der Junge und das Mädchen sind Zwillinge
im Abstand von wenigen Minuten geboren. Sie ähneln einander so sehr
als wären sie in derselben Glückshaube auf die Welt gekommen. Er schließt seine Finger um ihre - die gleichen Nägel
die gleiche Form der Knöchel
obwohl seine schon etwas größer
breiter
schmutziger sind - und schiebt den Gedanken beiseite
wie klamm und heiß sie sich anfühlen. »Wie geht es dir?«
fragt er. »Besser?« Sie rührt sich
krümmt ihre Finger in seinen. Ihr Kinn hebt und senkt sich wieder. Unterhalb des Kehlkopfs entdeckt der Junge eine Schwellung. Und eine weitere
wo ihr Hals in die Schulter übergeht. Er starrt sie an. Ein Paar Wachteleier unter Judiths Haut. Blass und oval liegen sie dort eingebettet
als warteten sie nur darauf zu schlüpfen. Eins an ihrem Hals
eins an ihrer Schulter. Sie flüstert etwas
ihre Lippen teilen sich
die Zunge bewegt sich in ihrem Mund. »Was hast du gesagt?«
fragt er und beugt sich hinunter. »Dein Gesicht«
wiederholt sie. »Was ist mit deinem Gesicht?« Er fasst sich an die Augenbraue und fühlt die Schwellung dort
das nasse
frische Blut. »Nichts. Es ist nichts«
erwidert er gedankenverloren. Und fährt eindringlicher fort: »Pass auf
ich hole jetzt den Arzt. Ich bin bald wieder da.« Sie sagt noch etwas. »Mama?«
wiederholt er. »Sie ... sie kommt. Sie ist nicht weit.« In Wirklichkeit ist sie über eine Meile weit weg. Agnes hat von ihrem Bruder ein Stück Land bei Hewlands gepachtet
das sich von dem Haus
in dem sie geboren wurde
bis zum Wald erstreckt. Hier hält sie Bienen in geflochtenen Hanfkörben
die von einem emsigen
hoch konzentrierten Summen erfüllt sind. Es gibt Reihen von Kräutern
Blumen
Pflanzen und Stielen
die sich an Stützzweigen heraufwinden. »Agnes' Hexengarten«
nennt ihre Stiefmutter es nur und verdreht die Augen. In den meisten Wochen kann man Agnes dabei zusehen
wie sie die Reihen dieser Pflanzen abschreitet
Unkraut jätet
die Hand auf die Windungen ihrer Bienenstöcke legt
hier und da einen Trieb beschneidet und bestimmte Blüten
Blätter
Kapseln und Samen in einem Lederbeutel an ihrer Hüfte verschwinden lässt. Heute aber ist sie von ihrem Bruder herbeigerufen worden
der den Schäferssohn losgeschickt hat
weil mit den Bienen etwas nicht stimmt - sie haben den Stock verlassen und sammeln sich in den Bäumen. Agnes umrundet die Körbe und lauscht auf das
was die Bienen ihr mitteilen. Sie mustert den Schwarm im Obstgarten
einen auf sämtliche Äste verteilten schwärzlichen Fleck
der vor Empörung regelrecht bebt. Etwas hat die Bienen in Aufruhr versetzt - das Wetter
ein Temperaturwechsel oder vielleicht ein Störenfried? Eines der Kinder
ein verirrtes Schaf
ihre Stiefmutter? Sie lässt ihre Hand von unten in einen der Körbe hineingleiten und fährt an der Schicht der verbliebenen Bienen entlang. Im kühlen
fließenden Schatten der Bäume steht sie in einem einfachen Gewand
der dicke Zopf ist unter einer weißen Bundhaube auf ihrem Scheitel festgesteckt. Keine Bienenkappe bedeckt ihr Gesicht - sie trägt nie eine. Von Nahem würde man sehen
dass ihre Lippen sich bewegen
weil sie die Insekten
die ihren Kopf umkreisen
sich auf ihren Ärmel oder in ihr Gesicht verirren
mit kleinen Geräuschen und Klicklauten beschwichtigt. Sie zieht eine Honigwabe aus dem Korb und geht in die Hocke
um sie in Augenschein zu nehmen. Die ganze Oberfläche wimmelt von etwas
das ein einziges lebendiges Gebilde zu sein scheint
braun mit goldenen Streifen
die Flügel wie winzige Herzen. Es sind Hunderte Bienen
die sich an ihre übervolle Wabe klammern
ihre Arbeit
ihren Lohn. Sie hebt ein schwelendes Rosmarinbündel und fächelt damit sanft über die Wabe. Eine Rauchfahne zieht durch die stille Augustluft. Die Bienen fliegen geschlossen auf und schwärmen aus
eine Wolke ohne Ränder
ein Netz in der Luft
das wie von Zauberhand immer wieder ausgeworfen wird. Sachte
sachte schabt sie das bleiche Wachs in einen Korb
und der Honig löst sich als vorsichtiger
beinahe widerstrebender Tropfen von der Wabe. Zäh wie Harz
orangegolden
scharf nach Thymian und der blumigen Süße von Lavendel duftend
rinnt er in den Topf
den Agnes bereithält
ein anschwellender
verschlungener Faden
der sich von der Wabe nach unten zieht. Plötzlich ist da das Gefühl einer Veränderung
eines Lufthauchs. Als wäre ein Vogel lautlos über sie hinweggeflogen. Noch immer in der Hocke
blickt Agnes auf. Die Bewegung erfasst ihre Hand
und Honig tropft ihr aufs Handgelenk
läuft ihr über die Finger und am Topf herunter. Agnes runzelt die Stirn
legt die Honigwabe ab und steht
sich die Fingerspitzen leckend
auf. Sie überblickt die strohgedeckten Dachvorsprünge von Hewlands zu ihrer Rechten
das weiße Geröll der Wolken darüber
die rauschenden Äste des Waldes zu ihrer Linken
den Bienenschwarm in den Apfelbäumen. In der Ferne treibt ihr zweitjüngster Bruder eine Schafherde mit einer Gerte den Reitweg hinunter
umkreist von dem hierhin und dorthin tollenden Hund. Alles ist so
wie es sein sollte. Einen Moment lang starrt Agnes auf den holprigen Zug der Schafe
ihre dahinhuschenden Klauen
ihr schmutziges
schlammverkrustetes Fell. Eine Biene landet auf ihrer Wange; sie streicht sie weg. Später
und für den Rest ihres Lebens
wird sie glauben
dass sie
wenn sie nur auf der Stelle aufgebrochen wäre
ihre Taschen
ihre Pflanzen
ihren Honig zusammengesucht und den Weg nach Hause angetreten
wen
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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