Lange Zeit war es üblich, den Ersten Weltkrieg primär als Wendemarke der Kulturgeschichte aufzufassen, ging in ihm doch jener Fortschrittsglaube zugrunde, der für das bürgerliche Selbstverständnis konstitutiv gewesen war. Auch wenn inzwischen die meisten Historiker darin übereinstimmen, dass dieser Krieg als "Urkatastrophe dieses Jahrhunderts" aufgefasst werden muss, wissen wir doch vergleichsweise wenig darüber, wie die Jahre zwischen 1914 und 1918 von den Menschen erlebt und gedeutet wurden. Den Fokus des Buches bildet die deutsch-jüdische Kultur im Ersten Weltkrieg: Der "jüdische Geist" führte keine "Ghettoexistenz", sondern stand in regem Kontakt mit den einflussreichen Zeitströmungen. Nicht selten erweisen sich dem ersten Anschein nach spezifisch jüdische Interpretamente als hochgradig abhängig von der kulturellen Großwetterlage. Gerade aus diesem Grund empfiehlt es sich, das kulturelle und soziale Umfeld jüdischer Intellektueller näher zu betrachten.
"Ein wichtiges und gut lesbares Buch" (Andrea Hopp in: HZ 278 (2004))
"This is a work of wideranging research and considerable intellectual depth." (Helmut Walser Smith in: German History 21 (2004))
"Trotz einer immensen Anzahl an Quellen eine überaus anregende, gut lesbare Arbeit." (Claudia Albert in: Germanistik 44 (2003))
"die Habilitationsschrift von Ulrich Sieg, die man getrost einen großen Wurf nennen kann. Philosophen, die sich künftig mit dem Denken während des Ersten Weltkrieges beschäftigen, werden daran zu messen sein, inwiefern sie auf den Sieg Bezug nehmen." (Thomas Meier in: Süddeutsche Zeitung vom 5. 2. 2002)
"This is a work of wideranging research and considerable intellectual depth." (Helmut Walser Smith in: German History 21 (2004))
"Trotz einer immensen Anzahl an Quellen eine überaus anregende, gut lesbare Arbeit." (Claudia Albert in: Germanistik 44 (2003))
"die Habilitationsschrift von Ulrich Sieg, die man getrost einen großen Wurf nennen kann. Philosophen, die sich künftig mit dem Denken während des Ersten Weltkrieges beschäftigen, werden daran zu messen sein, inwiefern sie auf den Sieg Bezug nehmen." (Thomas Meier in: Süddeutsche Zeitung vom 5. 2. 2002)
Süddeutsche ZeitungWessen Moderne?
Ulrich Sieg über jüdische Debatten zur Zeit des Ersten Weltkriegs
Für einen Historiker ist es nicht leicht, bei den Philosophen Gehör zu finden. Man kann noch so viele Belege aufhäufen, wenn nicht der Ernst der tiefen, möglichst letzten Fragen dazu kommt, rührt sich bei den Hütern des Weisheitstempels nichts. Denken erfordert wohl die ruhige Hand, den langen Atem und offenbar auch geschichtliche Unbelehrtheit.
Ein Muster für Ignoranz sei kurz vorgestellt: Ulrich Sieg hat 1994 seine Studie über den „Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus” vorgelegt, in der er die Genese der Schule Hermann Cohens umfassend nachgezeichnet hat. Blättert man neuere philosophische Literatur zu Hermann Cohen, Paul Natorp, Ernst Cassirer oder Kurt Eisner durch, dann verlässt einen nicht das Staunen darüber, wie Siegs Forschungsstand unterboten wird. Mancher modische Exeget des Marburger Neukantianismus könnte sich an der Genauigkeit, mit der Sieg die ohnehin schwer zugänglichen Werke Cohens referiert, dicke Scheiben abschneiden. So herrscht noch heute vielfach die blauäugige Annahme vor, man könne die Marburger Philosophiegeschichtsphilosophie ohne jeden Rückgriff auf die zeitgleichen Debatten der deutschen Juden über Traditionsbildung verstehen.
Jetzt liegt die Habilitationsschrift von Ulrich Sieg vor, die man getrost einen großen Wurf nennen kann. Philosophen, die sich künftig mit dem Denken während des Ersten Weltkrieges beschäftigen, werden daran zu messen sein, inwiefern sie auf „den” Sieg Bezug nehmen. Vor zwei Jahren rühmte Johannes Fried Siegs Arbeit auf dem Historikertag mit den Worten, dieser habe „die oft unüberwindliche Distanz” überwunden, „die Geschichtsschreibung und Philosophie voneinander zu trennen pflegt”. Schön wär‘s, wenn Fried damit recht behielte.
Ethos der Propheten
Politische Ideengeschichte sei es, sagt Sieg, die er betreibe. Und tatsächlich sind es die Verweisungszusammenhänge, die Sieg leiten: Es zeigt sich anhand der Darstellung des jüdischen Patriotismus, im Hinblick auf die scharfe Auseinandersetzung über „das Ethos der hebräischen Propheten”, die Cohen, Benzion Kellermann und Ernst Troeltsch miteinander führten, und auch im Bezug auf das Thema der „Ostjuden”. Sieg ordnet die Argumentationsstränge der Autoren und zeigt, wie wenig die Topoi von liberalem oder orthodoxem Judentum, von Kulturprotestantismus und Wellhausen-Schule fruchten, wenn sie nicht inhaltlich aufgefüllt werden.
Der Erste Weltkrieg forderte den deutschen Juden vieles ab. Der Kaiser kannte 1914 nur noch „Deutsche”, doch schon zwei Jahre später erfolgte die „Judenzählung” in der deutschen Armee, die darauf abzielte, mögliche Verräter auf Vorrat zu schaffen. Unter den Intellektuellen jener Tage entbrannte ein Streit, der unter den Stichwörtern „Kultur”, „Zivilisation”, „Krise”, aber auch mit Verweisen auf Nietzsche und – nicht anders als heute, wenn es um Kriegsrechtfertigung geht – mit Verweisen auf Kant, in kaum zu überbietender Schärfe geführt wurde.
Die Grenzen der erfolgreichen jüdischen Akkulturation wurden dabei schnell deutlich: „Fremde” zu sein, ist noch das harmloseste was den gelehrten Gralshütern deutschen Geistes zu ihnen einfällt. Egal wie hoch der Blutzoll dieser Minderheit war, egal welche Angebote von ihnen kamen: die Vertreter einer seit Christi Auftreten überholten Religion konnten keine Deutsche werden. Aber auch Ausnahmen in dem Meer von Chauvinisten, wie der Theologe Martin Rade, finden bei Sieg Erwähnung. Es ist interessant zu sehen, wie Ulrich Siegs Ergebnisse mit der wichtigen Studie von Christian Wiese übereinstimmen, die kürzlich das gescheiterte Gespräch zwischen den Vertretern der Wissenschaft des Judentums und protestantischen Theologen dargestellt hat.
Doch auch die jüdischen Intellektuellen werden gezwungen, sich neue Identitätskonzepte zurecht zu legen: „Gerade die herausragenden jüdischen Intellektuellen reflektierten nun verstärkt auf ihre Außenseiterrolle in einer auf Homogenität zählenden Nationalkultur. Auch dies gab ihren kulturellen Neuentwürfen jene innere Brüchigkeit und inhaltliche Komplexität, die sie zum Inbegriff der Moderne werden ließ.” Shulamit Volkov hat von dem „jüdischen Projekt der Moderne” gesprochen. Dieses entfaltet sich zunehmend angesichts der Notwendigkeit einer Suche nach Alternativen, da das unter „Goethe” noch geeinte Deutschland nach neuen „Kampfplätzen” (Ernst Cassirer) Ausschau hielt.
Sieg beschreibt, wie die Emanzipationsbestrebungen sich nach der Kapitulation 1918 veränderten. Es kam zu kulturellen Neuentwürfen, die dann schließlich zu dem wurden, was Michael Brenner in Anlehnung an Martin Buber die „jüdische Renaissance” nannte. Darin begegnet man einer Neubesinnung auf jüdische Kultur und jüdische Religion. Extreme philosophische Theorien, die sich in die Gewänder des Messianismus oder des Existenzialismus im weitesten Sinne kleideten, hatten plötzlich Konjunktur und wurden den vielfach enttäuschten jüdischer Intellektueller zu Vorbildern.
Zu Recht macht Sieg bei dieser linearen Erzählung auf eine Gefahr aufmerksam: „Überdies führt die Konzentration auf das Phänomen der ‚Jüdischen Renaissance‘ leicht dazu, dass gerade die betont akkulturierten Juden an die Peripherie der Betrachtung gedrängt werden, obwohl sie – allein schon rein zahlenmäßig – keine Quantité négligeable darstellen.”
Das ist sicherlich richtig. Richtig ist gleichzeitig, wie sehr die noble Haltung akkulturierter Juden selbst zur Selbstverleugnung führte. Deshalb bezieht Sieg auch die Jungzionisten in sein Bild jüdischer Intellektueller ein, die sowohl über einen kulturellen Neuentwurf, als auch über gute Gründe für ihre Idee verfügten.
Während Hermann Cohen mit seiner letztlich harmonisierenden Rede von der längst zerbrochenen Einheit „Deutschtum und Judentum” sich auch innerhalb der deutschen Juden isolierte, konnten die Kreise um Martin Buber über mangelnden Zulauf nicht klagen.
Durch Siegs Arbeit sind die Debatten, Positionen, Wege und Irrwege jüdischer Intellektueller erstmals genau gewichtet, durch ihre unaufgeregte Nachzeichnung erhalten sie etwas von ihrer einstmaligen Zeitlosigkeit zurück. Denn schließlich handelt es sich hier um mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Identitätskonzepte, die vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges politisch aufgeladen wurden. Nach der Lektüre des Buches erhalten die mitunter anachronistisch anmutenden Argumentationsmuster ihre Frische zurück. So werden sie zu einer reichen Saat, aus der zahlreiche Diskussionen erwachsenen können. Siegs Buch ist ein wichtiger Beitrag für Verständnis des „Zeitalters der Ideologien”.
THOMAS MEIER
ULRICH SIEG: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Akademie Verlag, Berlin 2001. 400 Seiten, 44,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ulrich Sieg über jüdische Debatten zur Zeit des Ersten Weltkriegs
Für einen Historiker ist es nicht leicht, bei den Philosophen Gehör zu finden. Man kann noch so viele Belege aufhäufen, wenn nicht der Ernst der tiefen, möglichst letzten Fragen dazu kommt, rührt sich bei den Hütern des Weisheitstempels nichts. Denken erfordert wohl die ruhige Hand, den langen Atem und offenbar auch geschichtliche Unbelehrtheit.
Ein Muster für Ignoranz sei kurz vorgestellt: Ulrich Sieg hat 1994 seine Studie über den „Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus” vorgelegt, in der er die Genese der Schule Hermann Cohens umfassend nachgezeichnet hat. Blättert man neuere philosophische Literatur zu Hermann Cohen, Paul Natorp, Ernst Cassirer oder Kurt Eisner durch, dann verlässt einen nicht das Staunen darüber, wie Siegs Forschungsstand unterboten wird. Mancher modische Exeget des Marburger Neukantianismus könnte sich an der Genauigkeit, mit der Sieg die ohnehin schwer zugänglichen Werke Cohens referiert, dicke Scheiben abschneiden. So herrscht noch heute vielfach die blauäugige Annahme vor, man könne die Marburger Philosophiegeschichtsphilosophie ohne jeden Rückgriff auf die zeitgleichen Debatten der deutschen Juden über Traditionsbildung verstehen.
Jetzt liegt die Habilitationsschrift von Ulrich Sieg vor, die man getrost einen großen Wurf nennen kann. Philosophen, die sich künftig mit dem Denken während des Ersten Weltkrieges beschäftigen, werden daran zu messen sein, inwiefern sie auf „den” Sieg Bezug nehmen. Vor zwei Jahren rühmte Johannes Fried Siegs Arbeit auf dem Historikertag mit den Worten, dieser habe „die oft unüberwindliche Distanz” überwunden, „die Geschichtsschreibung und Philosophie voneinander zu trennen pflegt”. Schön wär‘s, wenn Fried damit recht behielte.
Ethos der Propheten
Politische Ideengeschichte sei es, sagt Sieg, die er betreibe. Und tatsächlich sind es die Verweisungszusammenhänge, die Sieg leiten: Es zeigt sich anhand der Darstellung des jüdischen Patriotismus, im Hinblick auf die scharfe Auseinandersetzung über „das Ethos der hebräischen Propheten”, die Cohen, Benzion Kellermann und Ernst Troeltsch miteinander führten, und auch im Bezug auf das Thema der „Ostjuden”. Sieg ordnet die Argumentationsstränge der Autoren und zeigt, wie wenig die Topoi von liberalem oder orthodoxem Judentum, von Kulturprotestantismus und Wellhausen-Schule fruchten, wenn sie nicht inhaltlich aufgefüllt werden.
Der Erste Weltkrieg forderte den deutschen Juden vieles ab. Der Kaiser kannte 1914 nur noch „Deutsche”, doch schon zwei Jahre später erfolgte die „Judenzählung” in der deutschen Armee, die darauf abzielte, mögliche Verräter auf Vorrat zu schaffen. Unter den Intellektuellen jener Tage entbrannte ein Streit, der unter den Stichwörtern „Kultur”, „Zivilisation”, „Krise”, aber auch mit Verweisen auf Nietzsche und – nicht anders als heute, wenn es um Kriegsrechtfertigung geht – mit Verweisen auf Kant, in kaum zu überbietender Schärfe geführt wurde.
Die Grenzen der erfolgreichen jüdischen Akkulturation wurden dabei schnell deutlich: „Fremde” zu sein, ist noch das harmloseste was den gelehrten Gralshütern deutschen Geistes zu ihnen einfällt. Egal wie hoch der Blutzoll dieser Minderheit war, egal welche Angebote von ihnen kamen: die Vertreter einer seit Christi Auftreten überholten Religion konnten keine Deutsche werden. Aber auch Ausnahmen in dem Meer von Chauvinisten, wie der Theologe Martin Rade, finden bei Sieg Erwähnung. Es ist interessant zu sehen, wie Ulrich Siegs Ergebnisse mit der wichtigen Studie von Christian Wiese übereinstimmen, die kürzlich das gescheiterte Gespräch zwischen den Vertretern der Wissenschaft des Judentums und protestantischen Theologen dargestellt hat.
Doch auch die jüdischen Intellektuellen werden gezwungen, sich neue Identitätskonzepte zurecht zu legen: „Gerade die herausragenden jüdischen Intellektuellen reflektierten nun verstärkt auf ihre Außenseiterrolle in einer auf Homogenität zählenden Nationalkultur. Auch dies gab ihren kulturellen Neuentwürfen jene innere Brüchigkeit und inhaltliche Komplexität, die sie zum Inbegriff der Moderne werden ließ.” Shulamit Volkov hat von dem „jüdischen Projekt der Moderne” gesprochen. Dieses entfaltet sich zunehmend angesichts der Notwendigkeit einer Suche nach Alternativen, da das unter „Goethe” noch geeinte Deutschland nach neuen „Kampfplätzen” (Ernst Cassirer) Ausschau hielt.
Sieg beschreibt, wie die Emanzipationsbestrebungen sich nach der Kapitulation 1918 veränderten. Es kam zu kulturellen Neuentwürfen, die dann schließlich zu dem wurden, was Michael Brenner in Anlehnung an Martin Buber die „jüdische Renaissance” nannte. Darin begegnet man einer Neubesinnung auf jüdische Kultur und jüdische Religion. Extreme philosophische Theorien, die sich in die Gewänder des Messianismus oder des Existenzialismus im weitesten Sinne kleideten, hatten plötzlich Konjunktur und wurden den vielfach enttäuschten jüdischer Intellektueller zu Vorbildern.
Zu Recht macht Sieg bei dieser linearen Erzählung auf eine Gefahr aufmerksam: „Überdies führt die Konzentration auf das Phänomen der ‚Jüdischen Renaissance‘ leicht dazu, dass gerade die betont akkulturierten Juden an die Peripherie der Betrachtung gedrängt werden, obwohl sie – allein schon rein zahlenmäßig – keine Quantité négligeable darstellen.”
Das ist sicherlich richtig. Richtig ist gleichzeitig, wie sehr die noble Haltung akkulturierter Juden selbst zur Selbstverleugnung führte. Deshalb bezieht Sieg auch die Jungzionisten in sein Bild jüdischer Intellektueller ein, die sowohl über einen kulturellen Neuentwurf, als auch über gute Gründe für ihre Idee verfügten.
Während Hermann Cohen mit seiner letztlich harmonisierenden Rede von der längst zerbrochenen Einheit „Deutschtum und Judentum” sich auch innerhalb der deutschen Juden isolierte, konnten die Kreise um Martin Buber über mangelnden Zulauf nicht klagen.
Durch Siegs Arbeit sind die Debatten, Positionen, Wege und Irrwege jüdischer Intellektueller erstmals genau gewichtet, durch ihre unaufgeregte Nachzeichnung erhalten sie etwas von ihrer einstmaligen Zeitlosigkeit zurück. Denn schließlich handelt es sich hier um mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Identitätskonzepte, die vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges politisch aufgeladen wurden. Nach der Lektüre des Buches erhalten die mitunter anachronistisch anmutenden Argumentationsmuster ihre Frische zurück. So werden sie zu einer reichen Saat, aus der zahlreiche Diskussionen erwachsenen können. Siegs Buch ist ein wichtiger Beitrag für Verständnis des „Zeitalters der Ideologien”.
THOMAS MEIER
ULRICH SIEG: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Akademie Verlag, Berlin 2001. 400 Seiten, 44,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine ZeitungKeine Drückeberger
Beeindruckende Studie über deutsche Juden im Ersten Weltkrieg
Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Akademie Verlag, Berlin 2001. 400 Seiten, 39,80 Euro.
"Deutschtum und Judentum" - so lautet der Titel einer programmatischen Abhandlung, die der angesehene Marburger Philosophieprofessor Hermann Cohen im Jahr 1915 veröffentlichte. Der Neukantianer und Vordenker des deutschen liberalen Judentums beschwor darin die tiefe Interessengleichheit von Deutschtum und Judentum und warb für eine deutsch-jüdische Kultursynthese: Das Beste an der deutschen Kultur entspreche dem Besten in der jüdischen Tradition. Cohens Essay fand lebhafte Resonanz. In den liberaljüdischen Organen war die Zustimmung stark und einhellig, massive Kritik kam hingegen von kulturzionistischer Seite. Hier lehnte man die harmonisierende Vorstellung einer kulturellen Synthese von Deutschtum und Judentum entschieden ab und stellte das Weltbild des liberalen Judentums prinzipiell in Frage.
Über diese Auseinandersetzung von schlüsselhafter Bedeutung sowie über die anderen weltanschaulichen Debatten, die während der Weltkriegsjahre von und zwischen den deutschen Juden geführt wurden, berichtet Ulrich Sieg in seinem Buch, das - einem erweiterten Kulturbegriff verpflichtet - im Schnittpunkt von Ideen-, Mentalitäts- und Politikgeschichte angesiedelt ist. Gestützt auf reichhaltiges Quellenmaterial, geht Sieg der Frage nach, wie die jüdischen Intellektuellen (die er allerdings als Gruppe nicht klar definiert) auf den Zusammenbruch der bürgerlichen Wertewelt und die Erschütterung des Kulturvertrauens reagierten, in welcher Form sie die Kriegserfahrungen verarbeiteten und wie sich im Verlauf des Krieges ihr Weltbild veränderte.
Im Zentrum des Interesses steht dabei die postassimilatorische Jugendgeneration, die mit der liberalen Weltsicht der Eltern gebrochen hatte und zur Lösung ihrer Identitätsprobleme das Projekt einer "Jüdischen Renaissance" entwickelte - allen voran Martin Buber, der 1901 diesen Ausdruck prägte. Die jungen jüdischen Intellektuellen verstanden sich als kulturelle Avantgarde und erlebten den Krieg (in dem sie rückhaltlos für die Verteidigung ihrer deutschen Heimat eintraten) als einen "Aufbruch zu neuen Ufern".
Die Konzentration auf die junge jüdische Intellektuellengeneration und deren kulturelle Neuentwürfe, auf Martin Buber, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem und die Mitglieder der Prager Vereinigung "Bar Kochba", ist verständlich, denn in rückblickender Betrachtung waren sie es, die historisch recht behielten, nicht die Verfechter einer deutsch-jüdischen Kultursynthese. Gleichwohl lag in den Weltkriegsjahren selbst die kulturelle Meinungsführerschaft durchaus bei den liberalen, betont deutsch akkulturierten Juden, die in der Darstellung etwas zu kurz kommen; etliche werden gar nicht, andere nur beiläufig erwähnt. Allerdings betont Sieg immer wieder, wie breit und differenziert das Meinungsspektrum innerhalb der deutschen Judenheit damals war. Man darf auch nicht übersehen, daß die Frontstellungen zwischen alten und jungen, liberalen, orthodoxen und zionistischen Juden in den Weltkriegsjahren weniger schroff verliefen, als es oft den Anschein hatte. So war es kein Geringerer als Hermann Cohen, der den Begriff "Assimilation" deutlich zurückwies. In seiner Auseinandersetzung mit Gustav Schmoller (auf die Sieg nicht eingeht) bezeichnete er Assimilation als das "falsche Wort": "Erfunden und gebraucht, um die Tendenz zu verbergen, eine Religion und ihre Bekenner als solche vertilgen und ausrotten zu wollen . . . Hinweg mit diesem plumpen und gleisnerischen Wort der Assimilation."
Zu den ausführlich analysierten Bereichen jüdischer Wahrnehmung und Verarbeitung zählen die Radikalisierung des Antisemitismus und die "Entdeckung" des Ostjudentums. Während im Gefolge der Begegnungen jüdischer Soldaten mit polnischen und russischen Glaubensgenossen an der Ostfront die Lebenswelt und die religiöse Ursprünglichkeit der Ostjuden zu einem idealisierten Bild stilisiert wurden, riß die seit 1916 sich verstärkende antisemitische Agitation eine Kluft auf. Dies trat deutlich zutage anläßlich der sogenannten "Judenzählung". Angeblich um den Vorwürfen jüdischer "Drückebergerei" begegnen zu können, ordnete das Kriegsministerium im Herbst 1916 eine Feststellung der Konfessionszugehörigkeit aller Soldaten an. Auf jüdischer Seite gab es einen Aufschrei, so daß das Ergebnis nicht veröffentlicht wurde, obwohl die Zählung den Nachweis erbrachte, daß die jüdische Bevölkerung in etwa den auf sie entfallenden Anteil von Kriegsteilnehmern stellte und auch hohe Menschenopfer brachte: Von den 550 000 reichsdeutschen Juden dienten im Krieg rund 100 000 Mann (davon 80 000 an der Front), mindestens 12 000 sind gefallen.
Sieg konstatiert den Zäsurcharakter des Jahres 1916, will aber die Bedeutung der "Judenzählung" nicht so hoch gewichten, wie dies bislang der Fall war; zahlreiche jüdische Intellektuelle hätten bereits vor der Judenzählung ein desillusioniertes Bild des Kaiserreichs gewonnen. Dies mag für viele jüdische (wie nichtjüdische) Intellektuelle zutreffen. Aber zumindest für die große Masse jüdischer Kriegsteilnehmer und ihre Familienangehörigen bedeutete die Judenzählung ein Schlüsselerlebnis.
Auf imponierend breiter Quellenbasis entwirft der Autor ein faszinierendes, klar konturiertes, aber auch die Ambivalenzen nicht ausblendendes Bild von Wahrnehmung und (produktiver) Verarbeitung des Weltkriegs innerhalb der deutsch-jüdischen Kultur und insbesondere im Kreis der jungen jüdischen Intellektuellen.
EBERHARD KOLB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Beeindruckende Studie über deutsche Juden im Ersten Weltkrieg
Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Akademie Verlag, Berlin 2001. 400 Seiten, 39,80 Euro.
"Deutschtum und Judentum" - so lautet der Titel einer programmatischen Abhandlung, die der angesehene Marburger Philosophieprofessor Hermann Cohen im Jahr 1915 veröffentlichte. Der Neukantianer und Vordenker des deutschen liberalen Judentums beschwor darin die tiefe Interessengleichheit von Deutschtum und Judentum und warb für eine deutsch-jüdische Kultursynthese: Das Beste an der deutschen Kultur entspreche dem Besten in der jüdischen Tradition. Cohens Essay fand lebhafte Resonanz. In den liberaljüdischen Organen war die Zustimmung stark und einhellig, massive Kritik kam hingegen von kulturzionistischer Seite. Hier lehnte man die harmonisierende Vorstellung einer kulturellen Synthese von Deutschtum und Judentum entschieden ab und stellte das Weltbild des liberalen Judentums prinzipiell in Frage.
Über diese Auseinandersetzung von schlüsselhafter Bedeutung sowie über die anderen weltanschaulichen Debatten, die während der Weltkriegsjahre von und zwischen den deutschen Juden geführt wurden, berichtet Ulrich Sieg in seinem Buch, das - einem erweiterten Kulturbegriff verpflichtet - im Schnittpunkt von Ideen-, Mentalitäts- und Politikgeschichte angesiedelt ist. Gestützt auf reichhaltiges Quellenmaterial, geht Sieg der Frage nach, wie die jüdischen Intellektuellen (die er allerdings als Gruppe nicht klar definiert) auf den Zusammenbruch der bürgerlichen Wertewelt und die Erschütterung des Kulturvertrauens reagierten, in welcher Form sie die Kriegserfahrungen verarbeiteten und wie sich im Verlauf des Krieges ihr Weltbild veränderte.
Im Zentrum des Interesses steht dabei die postassimilatorische Jugendgeneration, die mit der liberalen Weltsicht der Eltern gebrochen hatte und zur Lösung ihrer Identitätsprobleme das Projekt einer "Jüdischen Renaissance" entwickelte - allen voran Martin Buber, der 1901 diesen Ausdruck prägte. Die jungen jüdischen Intellektuellen verstanden sich als kulturelle Avantgarde und erlebten den Krieg (in dem sie rückhaltlos für die Verteidigung ihrer deutschen Heimat eintraten) als einen "Aufbruch zu neuen Ufern".
Die Konzentration auf die junge jüdische Intellektuellengeneration und deren kulturelle Neuentwürfe, auf Martin Buber, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem und die Mitglieder der Prager Vereinigung "Bar Kochba", ist verständlich, denn in rückblickender Betrachtung waren sie es, die historisch recht behielten, nicht die Verfechter einer deutsch-jüdischen Kultursynthese. Gleichwohl lag in den Weltkriegsjahren selbst die kulturelle Meinungsführerschaft durchaus bei den liberalen, betont deutsch akkulturierten Juden, die in der Darstellung etwas zu kurz kommen; etliche werden gar nicht, andere nur beiläufig erwähnt. Allerdings betont Sieg immer wieder, wie breit und differenziert das Meinungsspektrum innerhalb der deutschen Judenheit damals war. Man darf auch nicht übersehen, daß die Frontstellungen zwischen alten und jungen, liberalen, orthodoxen und zionistischen Juden in den Weltkriegsjahren weniger schroff verliefen, als es oft den Anschein hatte. So war es kein Geringerer als Hermann Cohen, der den Begriff "Assimilation" deutlich zurückwies. In seiner Auseinandersetzung mit Gustav Schmoller (auf die Sieg nicht eingeht) bezeichnete er Assimilation als das "falsche Wort": "Erfunden und gebraucht, um die Tendenz zu verbergen, eine Religion und ihre Bekenner als solche vertilgen und ausrotten zu wollen . . . Hinweg mit diesem plumpen und gleisnerischen Wort der Assimilation."
Zu den ausführlich analysierten Bereichen jüdischer Wahrnehmung und Verarbeitung zählen die Radikalisierung des Antisemitismus und die "Entdeckung" des Ostjudentums. Während im Gefolge der Begegnungen jüdischer Soldaten mit polnischen und russischen Glaubensgenossen an der Ostfront die Lebenswelt und die religiöse Ursprünglichkeit der Ostjuden zu einem idealisierten Bild stilisiert wurden, riß die seit 1916 sich verstärkende antisemitische Agitation eine Kluft auf. Dies trat deutlich zutage anläßlich der sogenannten "Judenzählung". Angeblich um den Vorwürfen jüdischer "Drückebergerei" begegnen zu können, ordnete das Kriegsministerium im Herbst 1916 eine Feststellung der Konfessionszugehörigkeit aller Soldaten an. Auf jüdischer Seite gab es einen Aufschrei, so daß das Ergebnis nicht veröffentlicht wurde, obwohl die Zählung den Nachweis erbrachte, daß die jüdische Bevölkerung in etwa den auf sie entfallenden Anteil von Kriegsteilnehmern stellte und auch hohe Menschenopfer brachte: Von den 550 000 reichsdeutschen Juden dienten im Krieg rund 100 000 Mann (davon 80 000 an der Front), mindestens 12 000 sind gefallen.
Sieg konstatiert den Zäsurcharakter des Jahres 1916, will aber die Bedeutung der "Judenzählung" nicht so hoch gewichten, wie dies bislang der Fall war; zahlreiche jüdische Intellektuelle hätten bereits vor der Judenzählung ein desillusioniertes Bild des Kaiserreichs gewonnen. Dies mag für viele jüdische (wie nichtjüdische) Intellektuelle zutreffen. Aber zumindest für die große Masse jüdischer Kriegsteilnehmer und ihre Familienangehörigen bedeutete die Judenzählung ein Schlüsselerlebnis.
Auf imponierend breiter Quellenbasis entwirft der Autor ein faszinierendes, klar konturiertes, aber auch die Ambivalenzen nicht ausblendendes Bild von Wahrnehmung und (produktiver) Verarbeitung des Weltkriegs innerhalb der deutsch-jüdischen Kultur und insbesondere im Kreis der jungen jüdischen Intellektuellen.
EBERHARD KOLB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Für Gershom Scholem hat es die deutsch-jüdische Symbiose nie gegeben, erzählt Stefan Breuer einleitend und gibt dem jüdischen Philosophen nur bedingt Recht; solange man die Symbiose als störungsfreies Miteinander verstünde, müsse man Scholem zustimmen, begreife man sie aber als ein "Zusammenleben zu gegenseitigem Nutzen" sehe die Sache anders aus. Da kommt ihm die Untersuchung von Ulrich Sieg gerade zupass, der seine Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Kulturdebatte schwerpunktmäßig im Ersten Weltkrieg ansetzt. Etwas weniger Hurrapatriotismus bei den jüdischen Intellektuellen lasse sich schon konstatieren, berichtet Breuer, dennoch war die Loyalität dem deutschen Staat gegenüber zunächst sehr groß. Einen Einschnitt markiere das Jahr 1916, wie Sieg herausgearbeitet habe, als der Staat eine Konfessionsstatistik durchführte und seine konfessionell neutrale Position aufgab. Auf die "Deutschtumsmetaphysik" antworteten die jüdischen Intellektuellen, fasst Breuer die Arbeit von Ulrich Sieg zusammen, mit einer "Judentumsmetaphysik", die sich etwa im Zionismus mit seiner Überhöhung des Ostjudentums oder in Martin Bubers Ethnisierung des Nationalismus ausdrückte. Breuer mag Sieg nicht in allen Urteilen folgen, bescheinigt ihm aber eine bedeutende Arbeitsleistung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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