Jugend ist ebensosehr Darstellung der eigenen wie die einer fremden Jugend. Jugend ist ebensosehr Beschreibung wie Erzählung: Fakten und Fiktion mischen sich. Da sind die Kleinstadt und ihre Gesellschaft; die erste Wirklichkeit im Lichtspielhaus, und die Wirklichkeit des Kriegs, die der Mutter, des Gefallenen, die der Träume und die des Musters der Tapete. Und die Not, natürlich, die vielfältige Not. Wie immer bei Dichtungen ist auch diese Prosa zunächst vom Stil, dann erst vom Geschehen her zu begreifen."
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.07.2016Besser scheitern
Die Neuausgabe von Wolfgang Koeppens „Jugend“ zeigt, warum er den großen Roman ausschlug. Aus Furcht, er könnte gelingen
Still liegen die großen Bücher da und haben keine Eile. Gelassen warten sie auf neue Generationen, die nach ihnen greifen. Das Älterwerden kann ihnen nichts anhaben, denn sie stecken voll Unentdecktem, das sie erst den Blicken der Nachgeborenen offenbaren. So werden sie mit neuen Lesern wieder jung. Ein solches Buch ist Wolfgang Koeppens „Jugend“.
Als es vor vierzig Jahren, Anfang September 1976, in der Bibliothek Suhrkamp erstmals erschien, mit der Bandnummer 500, gelber Buchschleife und schwarzer Schrift auf weißem Umschlag, wurde viel Aufhebens davon gemacht, was es nicht war: der große Roman, der von Koeppen erwartet wurde. Mit der Trilogie „Tauben im Gras“ (1951), „Das Treibhaus“ (1953) und „Tod in Rom“ (1954), alle bei Scherz & Goverts erschienen, war er zu einer Größe der Nachkriegsliteratur geworden.
Seit 1959 war Koeppen bei Suhrkamp, und wie viel Siegfried Unseld, der ihn für den Verlag gewonnen hatte, von ihm erwartete, kann man im Briefwechsel zwischen Verleger und Autor nachlesen, der 2006 zum 100. Geburtstag Koeppens erschien. Der war 1976 längst von der Aura des großen Schweigers und von Schaffenskrisen heimgesuchten Zauderers umgeben, der dem großen Wurf, dem Nachfolger der Trilogie, schuldig blieb. „Jugend“ war ein schmales Buch von 146 Seiten, manchen erschien es als Notlösung, Begriffe aufgreifend, die der Autor selber nahegelegt hatte, von einem „Bruchstück“, einem „Fragment“, die einen bedauernd, die anderen unter Verweis auf die Poetik der Frühromantik voller Respekt.
Nun ist „Jugend“ als Band 7 der großen Werkausgabe erschienen, schmal wie eh und je. Der Band schildert en détail die Entstehungsgeschichte, die Überredungskünste Siegfried Unselds, der auf die Fertigstellung des Manuskripts – in welcher Form auch immer – drängt, die – auch finanziellen – Hebammendienste des Kritikers Marcel Reich-Ranicki, der dann, als das Buch erschienen ist, alles dafür tut, dass es ein Publikumserfolg wird. Tatsächlich schafft es „Jugend“ auf die Spiegel-Bestsellerliste, steht lange auf der SWR-Bestenliste, und im Juli 1977 kann Unseld an Koeppen schreiben: „Von der ‚Jugend‘ haben wir jetzt 34 260 Exemplare verkauft.“ Es erschien 1978 auch eine DDR-Ausgabe mit dem Untertitel „Erzählung“, den Koeppen vermieden hatte, und einem klugen Cover, das Kreuze an Kirchenmauern, eine Hausnummer, Bilder von Wilhelm II. und einer nackt daliegenden Frau, auf einer Fachwerkfassade collagierte.
Der Herausgeber dieser Neuausgabe, Eckhard Schumacher, Germanist an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald, hat im Rahmen eines DFG-Forschungsprojektes die Buchausgabe mit einem digitalen Appendix versehen. Auf der am 23. Juni freigeschalteten Website www.suhrkamp.de/jugend findet man alle Druckfassungen seit der Erstausgabe, zudem alle in der Zeitschrift Merkur und an anderen Orten erschienenen Vorstufen und Varianten und nicht zuletzt alle zum Konvolut „Jugend“ gehörenden Archivmappen in Faksimiles und Transkriptionen. Und es gibt auch eine Rubrik „Textgenese“, in der allen 53 Sequenzen des Buches Entwürfe, Notizen und poetologische Reflexionen zugeordnet sind.
Nicht jeder Leser wird das alles so genau wissen wollen. Aber da die Website eine Volltextsuche bequem ermöglicht, kann er, wenn er will, etwa den Echoraum des ersten Satzes erkunden, den kein Leser von „Jugend“ so leicht vergisst: „Meine Mutter fürchtete die Schlangen.“ Er wird dann hineingezogen in ein Vielzahl von Anläufen, erfährt manches über die reale Mutter Wolfgang Koeppens, viel mehr aber über die dichten Wortkaskaden, die diesem knappen ersten Satz folgen, wird zurückkehren zum Haupttext, in dem der Verfall einer Familie greifbar wird, das bürgerlich Gesittete abhandenkommt und sich eine Großmutter über einen Säugling beugt, der nicht weiß, dass ihre Augen auf ein uneheliches Kind blicken.
Ja, diese Ausgabe bietet die Chance für den Zugriff neuer Generationen von Nachgeborenen. Sie hält im Anhang die Endlosspiralen fest, in denen sich vor vierzig Jahren die Diskussionen darüber verfingen, ob dies ein autobiografisches Buch sei. Das Ich, das sich wie einen Fremden behandelt, der Autor, der die erste Person Singular zur Sonde macht, die er auf eine ferngerückte Vergangenheit richtet, all das ist zu den Akten genommen. Die tückischen Ottern rascheln nicht nur im verdorrten Gras des imaginären Rosentals nahe der Stadt, deren „berühmte Silhouette des romantischen Malers“ von Blitz und Donner bedroht ist. Sie rascheln auch in der Bibel Luthers, der wie die Kirchtürme, etwa der von St. Nikolai, seinen schweren Schatten über die Stadt und in den Text hinein wirft, die Schlangen mit der Geschichte vom verlorenen Paradies verknüpft. Und wer sich vom atemlosen, parataktischen Stakkato des Beginns in den Bilderstrom dieses Buches hineinziehen lässt, dem wird bald die Frage vollkommen gleichgültig, warum dies nicht der große Roman ist, den vor vierzig Jahren alle von Wolfgang Koeppen erwarteten.
Er wird stattdessen mit Freude einen Prosatext lesen, dessen Autor die Romanform nicht ausgeschlagen hat, weil sie ihm nicht gelingen wollte. Sondern der sich gegen diese Form stemmte, weil er befürchtete, sie könne ihm gelingen. Das war ja mit dem Stoff, um den es ihm nun ging, schon einmal geschehen, in den Romanen „Unglückliche Liebe“ (1934) und vor allem in „Eine Mauer schwankt“ (1935), wo Koeppen schon einmal aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, der Revolution und der Geburt der Weimarer Republik erzählt hatte.
Mit „Jugend“ kehrte Koeppen in diesen Stoffkreis zurück, er wollte aber etwas anderes als ein romanhaftes Gegenstück zur Trilogie über die junge Bundesrepublik. Im Entwurf für den Klappentext kündigte er eine Prosa an, „die mehr vom Stil her als vom Geschehenen ansprechend wird und zu begreifen wäre“. Mit einem Kommentar Goethes zur schwierigen Arbeit am (unvollendet gebliebenen) vierten Band von „Dichtung und Wahrheit“ versieht er das Widmungsexemplar für den passionierten Goethe-Leser Siegfried Unseld.
Der Text selber aber kehrt der Form der Autobiografie – sei sie auch so durchtrieben wie die Goethes – ebenso entschlossen den Rücken zu wie dem Roman. Wenn er mit Blick auf Kanzleipapier und Werbebilder den Käfig schildert, in dem das Leben der Mutter verläuft, wenn er über die von Krise und Hunger gezeichneten Körper der Berliner Revue-Girls in der Provinz Bilder von „Blut und Saft und Lack der nassen Scheide“ aus einem „Atlas der Gynäkologie“ legt, wenn bei einem Lynchmord, den Kriegsheimkehrer im nahen Wald begehen, die metallbeschlagenen Stiefelspitzen in eine gespaltene Stirn fahren, bis das Hirn zu sehen ist, dann ist der junge Gottfried Benn näher als Goethe.
„Er lag im Wald verscharrt, bis sie ihn ausgruben und auf den Seziertisch der Anatomie legten, auf die eklige Gummidecke . . .“, wer dieser Passage folgt, ahnt, warum Wolfgang Koeppen den „großen Roman“ verweigerte: Er wollte die nackte Prosa aus der Zeit der großen Erschütterung, dem Dreieck aus Erstem Weltkrieg, Revolution und von Beginn an angefeindeter Weimarer Republik in die Siebzigerjahre holen. Das Ich in „Jugend“ liest Benn, Johannes R. Becher, die Romane Dostojewskis und die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, hat „Das entfesselte Theater“ des Meyerhold-Schülers Tairow im Kopf, wenn es ins Theater geht, fühlt sich Raskolnikow nahe und dem Anarchismus Kropotkins.
Und als Platzanweiser holt das heranwachsende Ich den Leser in die „Deutschen Lichtspiele“, wo die „Fridericus Rex“-Filme den Preußenkönig gegen Versailles ausspielen. Diese Prosa, in der Koeppen sein „Ich“ entwarf, um dem Deutschland, aus dem er kam, Paroli zu bieten, ist nun neu zu entdecken.
LOTHAR MÜLLER
Wolfgang Koeppen: Jugend. Werke, Band 7. Herausgegeben von Eckhard Schumacher. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 192 Seiten, 34,95 Euro.
Diese Ausgabe bietet die
Chance, dass neue Generationen
Koeppen entdecken
Die Schlangen rascheln im
trockenen Gras – und ebenso im
Papier der Luther-Bibel
Wenn Stiefelspitzen
Schädel aufspalten, ist Koeppen
nah am jungen Gottfried Benn
1978 erschien „Jugend“ in der DDR (links), daneben die Ausgabe von 1996 und die aktuelle Werkausgabe.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Neuausgabe von Wolfgang Koeppens „Jugend“ zeigt, warum er den großen Roman ausschlug. Aus Furcht, er könnte gelingen
Still liegen die großen Bücher da und haben keine Eile. Gelassen warten sie auf neue Generationen, die nach ihnen greifen. Das Älterwerden kann ihnen nichts anhaben, denn sie stecken voll Unentdecktem, das sie erst den Blicken der Nachgeborenen offenbaren. So werden sie mit neuen Lesern wieder jung. Ein solches Buch ist Wolfgang Koeppens „Jugend“.
Als es vor vierzig Jahren, Anfang September 1976, in der Bibliothek Suhrkamp erstmals erschien, mit der Bandnummer 500, gelber Buchschleife und schwarzer Schrift auf weißem Umschlag, wurde viel Aufhebens davon gemacht, was es nicht war: der große Roman, der von Koeppen erwartet wurde. Mit der Trilogie „Tauben im Gras“ (1951), „Das Treibhaus“ (1953) und „Tod in Rom“ (1954), alle bei Scherz & Goverts erschienen, war er zu einer Größe der Nachkriegsliteratur geworden.
Seit 1959 war Koeppen bei Suhrkamp, und wie viel Siegfried Unseld, der ihn für den Verlag gewonnen hatte, von ihm erwartete, kann man im Briefwechsel zwischen Verleger und Autor nachlesen, der 2006 zum 100. Geburtstag Koeppens erschien. Der war 1976 längst von der Aura des großen Schweigers und von Schaffenskrisen heimgesuchten Zauderers umgeben, der dem großen Wurf, dem Nachfolger der Trilogie, schuldig blieb. „Jugend“ war ein schmales Buch von 146 Seiten, manchen erschien es als Notlösung, Begriffe aufgreifend, die der Autor selber nahegelegt hatte, von einem „Bruchstück“, einem „Fragment“, die einen bedauernd, die anderen unter Verweis auf die Poetik der Frühromantik voller Respekt.
Nun ist „Jugend“ als Band 7 der großen Werkausgabe erschienen, schmal wie eh und je. Der Band schildert en détail die Entstehungsgeschichte, die Überredungskünste Siegfried Unselds, der auf die Fertigstellung des Manuskripts – in welcher Form auch immer – drängt, die – auch finanziellen – Hebammendienste des Kritikers Marcel Reich-Ranicki, der dann, als das Buch erschienen ist, alles dafür tut, dass es ein Publikumserfolg wird. Tatsächlich schafft es „Jugend“ auf die Spiegel-Bestsellerliste, steht lange auf der SWR-Bestenliste, und im Juli 1977 kann Unseld an Koeppen schreiben: „Von der ‚Jugend‘ haben wir jetzt 34 260 Exemplare verkauft.“ Es erschien 1978 auch eine DDR-Ausgabe mit dem Untertitel „Erzählung“, den Koeppen vermieden hatte, und einem klugen Cover, das Kreuze an Kirchenmauern, eine Hausnummer, Bilder von Wilhelm II. und einer nackt daliegenden Frau, auf einer Fachwerkfassade collagierte.
Der Herausgeber dieser Neuausgabe, Eckhard Schumacher, Germanist an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald, hat im Rahmen eines DFG-Forschungsprojektes die Buchausgabe mit einem digitalen Appendix versehen. Auf der am 23. Juni freigeschalteten Website www.suhrkamp.de/jugend findet man alle Druckfassungen seit der Erstausgabe, zudem alle in der Zeitschrift Merkur und an anderen Orten erschienenen Vorstufen und Varianten und nicht zuletzt alle zum Konvolut „Jugend“ gehörenden Archivmappen in Faksimiles und Transkriptionen. Und es gibt auch eine Rubrik „Textgenese“, in der allen 53 Sequenzen des Buches Entwürfe, Notizen und poetologische Reflexionen zugeordnet sind.
Nicht jeder Leser wird das alles so genau wissen wollen. Aber da die Website eine Volltextsuche bequem ermöglicht, kann er, wenn er will, etwa den Echoraum des ersten Satzes erkunden, den kein Leser von „Jugend“ so leicht vergisst: „Meine Mutter fürchtete die Schlangen.“ Er wird dann hineingezogen in ein Vielzahl von Anläufen, erfährt manches über die reale Mutter Wolfgang Koeppens, viel mehr aber über die dichten Wortkaskaden, die diesem knappen ersten Satz folgen, wird zurückkehren zum Haupttext, in dem der Verfall einer Familie greifbar wird, das bürgerlich Gesittete abhandenkommt und sich eine Großmutter über einen Säugling beugt, der nicht weiß, dass ihre Augen auf ein uneheliches Kind blicken.
Ja, diese Ausgabe bietet die Chance für den Zugriff neuer Generationen von Nachgeborenen. Sie hält im Anhang die Endlosspiralen fest, in denen sich vor vierzig Jahren die Diskussionen darüber verfingen, ob dies ein autobiografisches Buch sei. Das Ich, das sich wie einen Fremden behandelt, der Autor, der die erste Person Singular zur Sonde macht, die er auf eine ferngerückte Vergangenheit richtet, all das ist zu den Akten genommen. Die tückischen Ottern rascheln nicht nur im verdorrten Gras des imaginären Rosentals nahe der Stadt, deren „berühmte Silhouette des romantischen Malers“ von Blitz und Donner bedroht ist. Sie rascheln auch in der Bibel Luthers, der wie die Kirchtürme, etwa der von St. Nikolai, seinen schweren Schatten über die Stadt und in den Text hinein wirft, die Schlangen mit der Geschichte vom verlorenen Paradies verknüpft. Und wer sich vom atemlosen, parataktischen Stakkato des Beginns in den Bilderstrom dieses Buches hineinziehen lässt, dem wird bald die Frage vollkommen gleichgültig, warum dies nicht der große Roman ist, den vor vierzig Jahren alle von Wolfgang Koeppen erwarteten.
Er wird stattdessen mit Freude einen Prosatext lesen, dessen Autor die Romanform nicht ausgeschlagen hat, weil sie ihm nicht gelingen wollte. Sondern der sich gegen diese Form stemmte, weil er befürchtete, sie könne ihm gelingen. Das war ja mit dem Stoff, um den es ihm nun ging, schon einmal geschehen, in den Romanen „Unglückliche Liebe“ (1934) und vor allem in „Eine Mauer schwankt“ (1935), wo Koeppen schon einmal aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, der Revolution und der Geburt der Weimarer Republik erzählt hatte.
Mit „Jugend“ kehrte Koeppen in diesen Stoffkreis zurück, er wollte aber etwas anderes als ein romanhaftes Gegenstück zur Trilogie über die junge Bundesrepublik. Im Entwurf für den Klappentext kündigte er eine Prosa an, „die mehr vom Stil her als vom Geschehenen ansprechend wird und zu begreifen wäre“. Mit einem Kommentar Goethes zur schwierigen Arbeit am (unvollendet gebliebenen) vierten Band von „Dichtung und Wahrheit“ versieht er das Widmungsexemplar für den passionierten Goethe-Leser Siegfried Unseld.
Der Text selber aber kehrt der Form der Autobiografie – sei sie auch so durchtrieben wie die Goethes – ebenso entschlossen den Rücken zu wie dem Roman. Wenn er mit Blick auf Kanzleipapier und Werbebilder den Käfig schildert, in dem das Leben der Mutter verläuft, wenn er über die von Krise und Hunger gezeichneten Körper der Berliner Revue-Girls in der Provinz Bilder von „Blut und Saft und Lack der nassen Scheide“ aus einem „Atlas der Gynäkologie“ legt, wenn bei einem Lynchmord, den Kriegsheimkehrer im nahen Wald begehen, die metallbeschlagenen Stiefelspitzen in eine gespaltene Stirn fahren, bis das Hirn zu sehen ist, dann ist der junge Gottfried Benn näher als Goethe.
„Er lag im Wald verscharrt, bis sie ihn ausgruben und auf den Seziertisch der Anatomie legten, auf die eklige Gummidecke . . .“, wer dieser Passage folgt, ahnt, warum Wolfgang Koeppen den „großen Roman“ verweigerte: Er wollte die nackte Prosa aus der Zeit der großen Erschütterung, dem Dreieck aus Erstem Weltkrieg, Revolution und von Beginn an angefeindeter Weimarer Republik in die Siebzigerjahre holen. Das Ich in „Jugend“ liest Benn, Johannes R. Becher, die Romane Dostojewskis und die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, hat „Das entfesselte Theater“ des Meyerhold-Schülers Tairow im Kopf, wenn es ins Theater geht, fühlt sich Raskolnikow nahe und dem Anarchismus Kropotkins.
Und als Platzanweiser holt das heranwachsende Ich den Leser in die „Deutschen Lichtspiele“, wo die „Fridericus Rex“-Filme den Preußenkönig gegen Versailles ausspielen. Diese Prosa, in der Koeppen sein „Ich“ entwarf, um dem Deutschland, aus dem er kam, Paroli zu bieten, ist nun neu zu entdecken.
LOTHAR MÜLLER
Wolfgang Koeppen: Jugend. Werke, Band 7. Herausgegeben von Eckhard Schumacher. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 192 Seiten, 34,95 Euro.
Diese Ausgabe bietet die
Chance, dass neue Generationen
Koeppen entdecken
Die Schlangen rascheln im
trockenen Gras – und ebenso im
Papier der Luther-Bibel
Wenn Stiefelspitzen
Schädel aufspalten, ist Koeppen
nah am jungen Gottfried Benn
1978 erschien „Jugend“ in der DDR (links), daneben die Ausgabe von 1996 und die aktuelle Werkausgabe.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de