Die tragikomische Chronik einerdeutschen Jugend Mitte der Siebzigerjahre.
Martin Schlosser bricht als Dreizehnjähriger in der emsländischen Kleinstadt Meppen zu neuen Abenteuern auf, im leuchtenden Sommer 1975, und sie führen ihn tief hinab in die Gräuel der Pubertät und in den Kampf mit einer Welt, die einfach nicht begreifen will, dass er es gut mit ihr meint: Er möchte für Deutschland Tore schießen und in einer großen Liebe die Erfüllung all seiner Träume finden. Ist das zu viel verlangt?
Martin Schlosser bricht als Dreizehnjähriger in der emsländischen Kleinstadt Meppen zu neuen Abenteuern auf, im leuchtenden Sommer 1975, und sie führen ihn tief hinab in die Gräuel der Pubertät und in den Kampf mit einer Welt, die einfach nicht begreifen will, dass er es gut mit ihr meint: Er möchte für Deutschland Tore schießen und in einer großen Liebe die Erfüllung all seiner Träume finden. Ist das zu viel verlangt?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.2010Auch die Lottozahlen sind nicht erfunden
Gerhard Henschels autobiographisches Großprojekt ist in den Siebzigern angelangt
Wir schreiben das Jahr 1975. Martin Schlosser, dem Henschel bereits einen ganzen "Kindheitsroman" gewidmet hat, ist inzwischen dreizehn Jahre alt. Gerade hat die Familie das Eigenheim in Vallendar aufgegeben und ist nach Meppen gezogen. Die alten Freunde bleiben zurück - Anlass für einen Briefverkehr, in dem sich die Jungen wechselseitig der Trostlosigkeit der Verhältnisse versichern. Auch in der erlebten Rede Martin Schlossers, die den "Jugendroman" über weite Strecken zu einem Bewusstseinsprotokoll macht, gibt die hyperbolische Sprache Pubertierender den Ton vor. Vom Tatbestand des "Schwitzens" kann ja jeder reden. "Ich lernte am eigenen Leib das Phänomen der Unterarmnässe kennen", lesen wir dagegen bei Martin Schlosser.
Ein großer Moment, als Papa erstmals den neuen Benzinrasenmäher über den Rasen schiebt: ein "brüllendes Monstrum". Oder Mama im Samstagnachtfieber: "Seglerball im Dorfgemeinschaftshaus Horumersiel". Ansonsten besteht das Familienleben der Schlossers vor allem aus Alltag und gegenseitiger Anöderei. Zwischen Bruder und kleiner Schwester, Mutter und Vater herrscht Reizklima. Papa hat dieses gewisse Zungenschnalzen, dessen Bedeutung unmissverständlich ist: "Es ist doch wirklich unfassbar, mit welchen Idioten ich's hier zu tun habe." Und doch gilt die alte Familienwahrheit: Auch Streit ist eine Form der Zusammengehörigkeit.
Martins Tage vergehen mit Schule, Fernsehen und Fußball in der Jugendmannschaft des SV Meppen; sehr lästig sind ihm die Klavierstunde und die Gartenarbeit - die "vermaledeite Schövelei". Das sexuelle Erwachen artikuliert sich bisher nur im Wortfetischismus. Martin sucht die Bücher der Eltern nach "Stellen" ab, etwa die (überraschend ergiebige) Autobiographie von Curd Jürgens oder das Fremdwörterlexikon: "Ich fand auch die Wörter Analfistel, Gonokokken, Penetration und Pessar. - Und so was kriegte man nun zur Konfirmation geschenkt." Sprachlich sensibel auch Martins Annäherung an die politischen Turbulenzen des Jahres 1976: "Aus einem Berliner Gefängnis waren vier Terroristinnen ausgebrochen . . . Wo die sich jetzt wohl versteckt hielten mit ihren Gangsternamen im Personalausweis? Die hörten sich schon so verdächtig an: Rollnick, Plambeck, Berberich, Viett. Nicht ganz so schlimm wie Baader und Meinhof, aber doch übler als Kater Karlo." Nicht nur hier beschleicht einen der Verdacht, dass der Horizont des Pubertierenden womöglich auch dazu dient, sich methodisch durch die Siebziger zu kalauern.
Redensarten und Werbesprüche jener Zeit ziehen vorbei. Geht es also wieder einmal um die nostalgischen Aha-Effekte der Markenartikel-Memoire? Der Reiz besteht bei Henschel nicht in der Identitätsstiftung einer Generation Tri-Top, sondern in den Kontrastwirkungen der Montage - da ergeben sich oft kleine anekdotische Zuspitzungen des Materials. Bereits als Jugendlicher hat der 1962 geborene Autor laut eigener Auskunft Familiendokumentation betrieben und eine Zeitschrift herausgegeben: "Der Monat - Nachrichtenmagazin der Familie Henschel". Wer macht Urlaub auf Juist, wer musste eine schmerzvolle Zahnbehandlung über sich ergehen lassen? Die archivalische Passion hat sich entwickelt, schon bevor Henschel mit Walter Kempowski den Autor seiner Ideale fand.
Denn sein autobiographisches Großprojekt wetteifert mit Kempowskis "Deutscher Chronik" bis hin zu Ähnlichkeiten in der Stilisierung der Elternfiguren: der besserwisserische Vater und die Mutter mit ihren Redewendungen. "Was das nun wohl gesollt hat" ist natürlich eine Reverenz auf das leitmotivische "Was das nun wieder soll" in "Tadellöser & Wolff". Allerdings schildert Henschel eine "normale" Jugend in den Siebzigern, Kempowski dagegen eine eher abweichende Adoleszenz (man denke an die riskante Liebe zum Jazz) in der Ausnahmezeit des Weltkriegs. Daraus ergeben sich einzigartige historische Schnappschüsse, wenn etwa Vater Kempowski nach den ersten Blitzsiegen darüber nachdenkt, dass man sich wohl doch mal ein Hitler-Bild anschaffen sollte: "Vielleicht das im Mantel, wo er so von hinten guckt. Da sieht er ganz vernünftig aus." Oder wenn in der Zeitung unter Vermischtes der Ort Auschwitz auftaucht: Da habe ein Ehedrama auf offener Straße stattgefunden. Oder wenn Mutter Kempowski nach den ersten schweren Bombenangriffen auf Rostock zurück in die Wohnung kommt: "Nein, wie sieht es hier aus!" - als handele es sich um ein unaufgeräumtes Kinderzimmer. Das sind brisante Konfrontationen von bürgerlichem Alltag und großer Geschichte, die die archivalische Obsession legitimieren. Bei einem Jugendroman der siebziger Jahre sind sie in dieser Intensität nicht möglich. Hat es deshalb überhaupt Sinn, die Kempowski-Poetik auf diese Zeit zu übertragen und an Akribie, Exaktheit, Redundanz womöglich noch zu radikalisieren? Als Martins Mutter einmal vier Richtige im Lotto hat, darf man gewiss sein, dass nicht einmal die Zusatzzahl frech erfunden ist.
Zu den amüsanten Rätselspielen des Buches gehört es, die Romane und Filme, die Martin seinem Bewusstsein einverleibt, zu identifizieren. Denn auch die Zusammenfassungen der Handlung werden ohne Titelangabe im pubertären O-Ton geliefert, recht amüsant etwa bei "Rosemaries Baby". Nervtötend sind dagegen die vielen Seiten, die Martins Leidenschaft für Borussia Mönchengladbach abbilden.
Der "Jugendroman" thematisiert nicht nur die Langeweile einer Provinzjugend, er ist als fortlaufende Lektüre auch langweilig. Trotzdem hat man ihn als Generationsgenosse gern im Regal stehen, um gelegentlich ein paar Seiten darin zu schmökern. Zum Beispiel diese zutreffende Miniatur über politische Talk-Shows von 1977: "Die meisten von Hans-Dietrich Genschers Gesprächsbeiträgen fingen mit den Worten an: ,Darf ich zunächst noch mal feststellen, dass . . .' Und dann kam irgendwas wahnsinnig Langweiliges, das im Zigaretten- und Pfeifenqualm unterging." Und immerhin, am Ende kündigt sich etwas an: Michaela Vogt. "Mein Entschluss stand fest. Unverrückbar. Morgen würde ich mich Michaela offenbaren, und dann würde ein neues Leben anfangen." Erste Liebe also. Wie viele hundert Seiten das wohl wieder werden?
WOLFGANG SCHNEIDER
Gerhard Henschel: "Jugendroman". Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2009. 540 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gerhard Henschels autobiographisches Großprojekt ist in den Siebzigern angelangt
Wir schreiben das Jahr 1975. Martin Schlosser, dem Henschel bereits einen ganzen "Kindheitsroman" gewidmet hat, ist inzwischen dreizehn Jahre alt. Gerade hat die Familie das Eigenheim in Vallendar aufgegeben und ist nach Meppen gezogen. Die alten Freunde bleiben zurück - Anlass für einen Briefverkehr, in dem sich die Jungen wechselseitig der Trostlosigkeit der Verhältnisse versichern. Auch in der erlebten Rede Martin Schlossers, die den "Jugendroman" über weite Strecken zu einem Bewusstseinsprotokoll macht, gibt die hyperbolische Sprache Pubertierender den Ton vor. Vom Tatbestand des "Schwitzens" kann ja jeder reden. "Ich lernte am eigenen Leib das Phänomen der Unterarmnässe kennen", lesen wir dagegen bei Martin Schlosser.
Ein großer Moment, als Papa erstmals den neuen Benzinrasenmäher über den Rasen schiebt: ein "brüllendes Monstrum". Oder Mama im Samstagnachtfieber: "Seglerball im Dorfgemeinschaftshaus Horumersiel". Ansonsten besteht das Familienleben der Schlossers vor allem aus Alltag und gegenseitiger Anöderei. Zwischen Bruder und kleiner Schwester, Mutter und Vater herrscht Reizklima. Papa hat dieses gewisse Zungenschnalzen, dessen Bedeutung unmissverständlich ist: "Es ist doch wirklich unfassbar, mit welchen Idioten ich's hier zu tun habe." Und doch gilt die alte Familienwahrheit: Auch Streit ist eine Form der Zusammengehörigkeit.
Martins Tage vergehen mit Schule, Fernsehen und Fußball in der Jugendmannschaft des SV Meppen; sehr lästig sind ihm die Klavierstunde und die Gartenarbeit - die "vermaledeite Schövelei". Das sexuelle Erwachen artikuliert sich bisher nur im Wortfetischismus. Martin sucht die Bücher der Eltern nach "Stellen" ab, etwa die (überraschend ergiebige) Autobiographie von Curd Jürgens oder das Fremdwörterlexikon: "Ich fand auch die Wörter Analfistel, Gonokokken, Penetration und Pessar. - Und so was kriegte man nun zur Konfirmation geschenkt." Sprachlich sensibel auch Martins Annäherung an die politischen Turbulenzen des Jahres 1976: "Aus einem Berliner Gefängnis waren vier Terroristinnen ausgebrochen . . . Wo die sich jetzt wohl versteckt hielten mit ihren Gangsternamen im Personalausweis? Die hörten sich schon so verdächtig an: Rollnick, Plambeck, Berberich, Viett. Nicht ganz so schlimm wie Baader und Meinhof, aber doch übler als Kater Karlo." Nicht nur hier beschleicht einen der Verdacht, dass der Horizont des Pubertierenden womöglich auch dazu dient, sich methodisch durch die Siebziger zu kalauern.
Redensarten und Werbesprüche jener Zeit ziehen vorbei. Geht es also wieder einmal um die nostalgischen Aha-Effekte der Markenartikel-Memoire? Der Reiz besteht bei Henschel nicht in der Identitätsstiftung einer Generation Tri-Top, sondern in den Kontrastwirkungen der Montage - da ergeben sich oft kleine anekdotische Zuspitzungen des Materials. Bereits als Jugendlicher hat der 1962 geborene Autor laut eigener Auskunft Familiendokumentation betrieben und eine Zeitschrift herausgegeben: "Der Monat - Nachrichtenmagazin der Familie Henschel". Wer macht Urlaub auf Juist, wer musste eine schmerzvolle Zahnbehandlung über sich ergehen lassen? Die archivalische Passion hat sich entwickelt, schon bevor Henschel mit Walter Kempowski den Autor seiner Ideale fand.
Denn sein autobiographisches Großprojekt wetteifert mit Kempowskis "Deutscher Chronik" bis hin zu Ähnlichkeiten in der Stilisierung der Elternfiguren: der besserwisserische Vater und die Mutter mit ihren Redewendungen. "Was das nun wohl gesollt hat" ist natürlich eine Reverenz auf das leitmotivische "Was das nun wieder soll" in "Tadellöser & Wolff". Allerdings schildert Henschel eine "normale" Jugend in den Siebzigern, Kempowski dagegen eine eher abweichende Adoleszenz (man denke an die riskante Liebe zum Jazz) in der Ausnahmezeit des Weltkriegs. Daraus ergeben sich einzigartige historische Schnappschüsse, wenn etwa Vater Kempowski nach den ersten Blitzsiegen darüber nachdenkt, dass man sich wohl doch mal ein Hitler-Bild anschaffen sollte: "Vielleicht das im Mantel, wo er so von hinten guckt. Da sieht er ganz vernünftig aus." Oder wenn in der Zeitung unter Vermischtes der Ort Auschwitz auftaucht: Da habe ein Ehedrama auf offener Straße stattgefunden. Oder wenn Mutter Kempowski nach den ersten schweren Bombenangriffen auf Rostock zurück in die Wohnung kommt: "Nein, wie sieht es hier aus!" - als handele es sich um ein unaufgeräumtes Kinderzimmer. Das sind brisante Konfrontationen von bürgerlichem Alltag und großer Geschichte, die die archivalische Obsession legitimieren. Bei einem Jugendroman der siebziger Jahre sind sie in dieser Intensität nicht möglich. Hat es deshalb überhaupt Sinn, die Kempowski-Poetik auf diese Zeit zu übertragen und an Akribie, Exaktheit, Redundanz womöglich noch zu radikalisieren? Als Martins Mutter einmal vier Richtige im Lotto hat, darf man gewiss sein, dass nicht einmal die Zusatzzahl frech erfunden ist.
Zu den amüsanten Rätselspielen des Buches gehört es, die Romane und Filme, die Martin seinem Bewusstsein einverleibt, zu identifizieren. Denn auch die Zusammenfassungen der Handlung werden ohne Titelangabe im pubertären O-Ton geliefert, recht amüsant etwa bei "Rosemaries Baby". Nervtötend sind dagegen die vielen Seiten, die Martins Leidenschaft für Borussia Mönchengladbach abbilden.
Der "Jugendroman" thematisiert nicht nur die Langeweile einer Provinzjugend, er ist als fortlaufende Lektüre auch langweilig. Trotzdem hat man ihn als Generationsgenosse gern im Regal stehen, um gelegentlich ein paar Seiten darin zu schmökern. Zum Beispiel diese zutreffende Miniatur über politische Talk-Shows von 1977: "Die meisten von Hans-Dietrich Genschers Gesprächsbeiträgen fingen mit den Worten an: ,Darf ich zunächst noch mal feststellen, dass . . .' Und dann kam irgendwas wahnsinnig Langweiliges, das im Zigaretten- und Pfeifenqualm unterging." Und immerhin, am Ende kündigt sich etwas an: Michaela Vogt. "Mein Entschluss stand fest. Unverrückbar. Morgen würde ich mich Michaela offenbaren, und dann würde ein neues Leben anfangen." Erste Liebe also. Wie viele hundert Seiten das wohl wieder werden?
WOLFGANG SCHNEIDER
Gerhard Henschel: "Jugendroman". Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2009. 540 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Mit großer Sympathie hat Rezensent Ekkehard Knörer diesen "Jugendroman" gelesen, mit dem Gerhard Henschel seine weitestgehend autobiografische Chronik der Familie Schlosser fortsetzt. Das wundert den Leser ein wenig, denn Martin Schlossers Jugend in Meppen ist eine einzige Folge von "Nichtereignissen", wie der Rezensent zugibt. Doch Henschels an Kempowski geschulte Technik, sein Sinn für Tonlagen und Sprachklischees, scheint das alles wieder wettzumachen. Das Aufwachsen in den sechziger und siebziger Jahren der BRD beschreibt Henschel so schrecklich und spießig wie es war - ohne dabei zu langweilen, wie der Kritiker bewundernd erklärt. Nostalgie kommt hier offenbar, anders als bei der Generation Golf, gar nicht erst auf. Und weil der Held am Ende ein politisches Bewusstsein entwickelt, liest Knörer das ganze als gelungenen Entwicklungsroman.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein gelungener Entwicklungsroman.« die taz