Verständlicher, sachkundiger und kompakter kann man sich über die Katastrophe von 1914 kaum informieren: Gerd Krumeich fasst in diesem Buch den Wissensstand zur Vorgeschichte und zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs zusammen. Der Autor verfolgt die Krisenlage vor 1914, die Eskalation und das Scheitern diplomatischer Lösungsversuche und informiert über den aktuellen Forschungsstand zur immer wieder gestellten Kriegsschuldfrage. 50 Schlüsseldokumente aus nicht leicht zugänglichen Aktenpublikationen werden im Wortlaut abgedruckt und erläutert. So können auch Nicht-Spezialisten die Hauptstränge der Ereignisse, die Vorstellungen und Denkhorizonte der damals verantwortlichen Staatsmänner und Militärs nachvollziehen. Niemand von ihnen ahnte oder wollte 1914 den Krieg, wie er 1916 vor Verdun und an der Somme grausame Realität wurde. Insofern lehrt dieses Buch auch, welche unwägbaren Gefahren jeder als begrenzbar gedachte Krieg mit sich bringt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2014Ausgeprägte Zukunftsangst
Kaiserreich und Juli-Krise
Als einer der profundesten Kenner der Geschichte des Ersten Weltkrieges ist Gerd Krumeich momentan ein vielgefragter Mann: wissenschaftlicher Berater für Ausstellungen, Beiträger der Begleitpublikationen, Diskussionsteilnehmer. Zum 100-Jahr-Gedenken tritt er nun mit zwei neuen eigenständigen Werken hervor. "Juli 1914" ist seine Replik auf den Bestseller "Die Schlafwandler". Laut Krumeich geht Christopher Clark beim Sarajevo-Attentat vom 28. Juni 1914 "von einer echten Verstrickung der serbischen Regierung aus, ohne dies aber belegen zu können". Dann versuche er, Wiens Ultimatum vom 23. Juli an Belgrad "herunterzuspielen" durch einen politisch-polemischen Vergleich. Schließlich behaupte Clark, dass "höchstwahrscheinlich" die russische Unterstützung Serbien veranlasst habe, einige Punkte des Ultimatums abzulehnen. Solche Kritik ist elegant in Anmerkungen versteckt.
Berlin betrieb - so Krumeich - eine "äußerst risikobehaftete" Politik, die er auf fatalistisches Denken zurückführt. Deutschland und Österreich-Ungarn würden "am Ausbruch des Krieges die Hauptverantwortung tragen", jedoch hätten sich beide Mittelmächte die darauf folgende "Ausuferung" und die immense Zahl der Opfer nicht vorstellen können: "Nicht Weltmachtambition oder Kalkül imperialer Vorherrschaft waren also die Triebkräfte für die Entscheidungen des Juli 1914, sondern eine ausgeprägte Zukunftsangst." Besonders zu empfehlen ist der Epilog: "100 Jahre Diskussion um die Schuld am Krieg". Hier lobt der Autor vor allem die älteren Forschungen von Pierre Renouvin (1927) und Luigi Albertini (1942/43). Ein Anhang mit fünfzig "Schlüsseldokumenten" rundet die Darstellung ab; störend wirken dabei die in Superlativen schwelgenden und leicht oberlehrerhaft wirkenden Kurzeinführungen zu den Quellen.
Ohne Namen zu nennen, wendet sich Krumeich ebenfalls in dem Bändchen "Der Erste Weltkrieg" gegen einen "neuen Trend der ,Umverteilung' der Kriegsschuld". In der bewährten Reihe "Die 101 wichtigsten Fragen" gibt er Antworten zu sieben Themenkomplexen: Vorkriegszeit und Juli-Krise, große Schlachten, Politik im Krieg, Front und Heimat, Kultur, Technik und Wirtschaft sowie Kriegsende und Kriegsfolgen. Sein Schwerpunkt liegt klar auf Deutschland und Frankreich. Immer wieder stellt Krumeich das "anonyme Massensterben" als das Charakteristische am Weltkrieg heraus, dem damalige Propagandisten schnell Heldenfiguren entgegensetzten. Insgesamt seien die deutschen Feind-Stereotypen "relativ gemäßigt" geblieben: "Hasspropaganda mit ganz ähnlichen Bildern, wie sie die Franzosen und Engländer im Ersten Weltkrieg erfunden hatten, kam in Deutschland erst nach 1918 auf, als Reaktion auf den sogenannten Schandfrieden und vor allem als Reaktion auf die Rheinland- und Ruhrbesetzung 1919 bis 1924."
Krumeich weckt die Neugier des Lesers, wenn er fragt: "Warum war der Papst so unglücklich?" oder "Wer waren die Dicke Berta und der Lange Max?" Seine Einschätzungen sind klar formuliert, etwa zu den Friedensschlüssen. Diese konnten nicht dauerhaft sein, "weil sich die Siegermächte zu Richtern aufschwangen und vor allem die Kriegsschuld nach Belieben verteilten. Das waren sie ihrer Öffentlichkeit schuldig." Durch den "Kriegsschuld-Paragraph" 231 habe aus dem Versailler Vertrag "kein wirklicher Neuanfang in der internationalen Verständigung resultieren" können.
RAINER BLASIUS
Gerd Krumeich: Juli 1914. Eine Bilanz. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2014. 362 S., 34,90 [Euro].
Gerd Krumeich: Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen. Verlag C. H. Beck, München 2014. 155 S., 10,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kaiserreich und Juli-Krise
Als einer der profundesten Kenner der Geschichte des Ersten Weltkrieges ist Gerd Krumeich momentan ein vielgefragter Mann: wissenschaftlicher Berater für Ausstellungen, Beiträger der Begleitpublikationen, Diskussionsteilnehmer. Zum 100-Jahr-Gedenken tritt er nun mit zwei neuen eigenständigen Werken hervor. "Juli 1914" ist seine Replik auf den Bestseller "Die Schlafwandler". Laut Krumeich geht Christopher Clark beim Sarajevo-Attentat vom 28. Juni 1914 "von einer echten Verstrickung der serbischen Regierung aus, ohne dies aber belegen zu können". Dann versuche er, Wiens Ultimatum vom 23. Juli an Belgrad "herunterzuspielen" durch einen politisch-polemischen Vergleich. Schließlich behaupte Clark, dass "höchstwahrscheinlich" die russische Unterstützung Serbien veranlasst habe, einige Punkte des Ultimatums abzulehnen. Solche Kritik ist elegant in Anmerkungen versteckt.
Berlin betrieb - so Krumeich - eine "äußerst risikobehaftete" Politik, die er auf fatalistisches Denken zurückführt. Deutschland und Österreich-Ungarn würden "am Ausbruch des Krieges die Hauptverantwortung tragen", jedoch hätten sich beide Mittelmächte die darauf folgende "Ausuferung" und die immense Zahl der Opfer nicht vorstellen können: "Nicht Weltmachtambition oder Kalkül imperialer Vorherrschaft waren also die Triebkräfte für die Entscheidungen des Juli 1914, sondern eine ausgeprägte Zukunftsangst." Besonders zu empfehlen ist der Epilog: "100 Jahre Diskussion um die Schuld am Krieg". Hier lobt der Autor vor allem die älteren Forschungen von Pierre Renouvin (1927) und Luigi Albertini (1942/43). Ein Anhang mit fünfzig "Schlüsseldokumenten" rundet die Darstellung ab; störend wirken dabei die in Superlativen schwelgenden und leicht oberlehrerhaft wirkenden Kurzeinführungen zu den Quellen.
Ohne Namen zu nennen, wendet sich Krumeich ebenfalls in dem Bändchen "Der Erste Weltkrieg" gegen einen "neuen Trend der ,Umverteilung' der Kriegsschuld". In der bewährten Reihe "Die 101 wichtigsten Fragen" gibt er Antworten zu sieben Themenkomplexen: Vorkriegszeit und Juli-Krise, große Schlachten, Politik im Krieg, Front und Heimat, Kultur, Technik und Wirtschaft sowie Kriegsende und Kriegsfolgen. Sein Schwerpunkt liegt klar auf Deutschland und Frankreich. Immer wieder stellt Krumeich das "anonyme Massensterben" als das Charakteristische am Weltkrieg heraus, dem damalige Propagandisten schnell Heldenfiguren entgegensetzten. Insgesamt seien die deutschen Feind-Stereotypen "relativ gemäßigt" geblieben: "Hasspropaganda mit ganz ähnlichen Bildern, wie sie die Franzosen und Engländer im Ersten Weltkrieg erfunden hatten, kam in Deutschland erst nach 1918 auf, als Reaktion auf den sogenannten Schandfrieden und vor allem als Reaktion auf die Rheinland- und Ruhrbesetzung 1919 bis 1924."
Krumeich weckt die Neugier des Lesers, wenn er fragt: "Warum war der Papst so unglücklich?" oder "Wer waren die Dicke Berta und der Lange Max?" Seine Einschätzungen sind klar formuliert, etwa zu den Friedensschlüssen. Diese konnten nicht dauerhaft sein, "weil sich die Siegermächte zu Richtern aufschwangen und vor allem die Kriegsschuld nach Belieben verteilten. Das waren sie ihrer Öffentlichkeit schuldig." Durch den "Kriegsschuld-Paragraph" 231 habe aus dem Versailler Vertrag "kein wirklicher Neuanfang in der internationalen Verständigung resultieren" können.
RAINER BLASIUS
Gerd Krumeich: Juli 1914. Eine Bilanz. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2014. 362 S., 34,90 [Euro].
Gerd Krumeich: Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen. Verlag C. H. Beck, München 2014. 155 S., 10,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als angenehm nüchtern bezeichnet Rainer Stephan Gerd Krumeichs Buch über den Juli 1914. Dass der Autor vergleichsweise schlank die Zeit vor dem Kriegsausbruch und gleich auch noch die mächtige Bandbreite publizistischer Interpretationen samt ihrer ausschweifenden Zitierpraxis bilanziert, gefällt Stephan gut. Die insgesamt 50 Schlüsseldokumente, die der Autor dem Leser zur Verfügung stellt, reichen laut Rezensent aus, um den Weg in den Krieg und die mentale Verfasstheit der Akteure nachzuvollziehen. Dass Krumeichs Hauptaugenmerk den individuellen Zügen und Erwartungen gilt, scheint Stephan gleichfalls zu schätzen zu wissen, zumal der Autor es nicht unterlässt, großzügig auf die Arbeiten der Kollegen zu verweisen, wie der Rezensent feststellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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