»Ich ziehe mich nunmehr in andere Bereiche zurück - hoffentlich gelingts noch einmal - wenn's wird, wird's ebbes Kurioses werden«, teilte Arno Schmidt seinem Lektor Ernst Krawehl mit, als er die Niederschrift des Romans Julia, oder die Gemälde begann. Nach dem Tod des Autors am 3. Juni 1979 blieb ein Fragment zurück - und ein Zettelkasten mit 13 339 Notizzetteln zum Roman.
Wie wäre das Buch weitergegangen, was lässt sich aus den Zetteln schließen? Susanne Fischer hat das gesamte Material erkundet und zeigt, wie der Autor mit seinen Notizen arbeitete. Sie präsentiert Hunderte von Beispielen aus allen Themenbereichen des geplanten Romans. Witzige Sentenzen im typischen Schmidt-Ton finden sich ebenso darunter wie Befremdliches und Rätselhaftes. Vor allem überrascht die Dominanz der Sexualität in den Notizen, obwohl es doch über Sex dort auch heißt: »je mehr ich darüber nachdenke, je weniger sagt es mir zu« (Zettel 8 081).
Ergänzt wird der Band mit dokumentarischen Bildern von Arno Schmidts Arbeitsplatz, die unmittelbar nach seinem Tod aufgenommen wurden.
Wie wäre das Buch weitergegangen, was lässt sich aus den Zetteln schließen? Susanne Fischer hat das gesamte Material erkundet und zeigt, wie der Autor mit seinen Notizen arbeitete. Sie präsentiert Hunderte von Beispielen aus allen Themenbereichen des geplanten Romans. Witzige Sentenzen im typischen Schmidt-Ton finden sich ebenso darunter wie Befremdliches und Rätselhaftes. Vor allem überrascht die Dominanz der Sexualität in den Notizen, obwohl es doch über Sex dort auch heißt: »je mehr ich darüber nachdenke, je weniger sagt es mir zu« (Zettel 8 081).
Ergänzt wird der Band mit dokumentarischen Bildern von Arno Schmidts Arbeitsplatz, die unmittelbar nach seinem Tod aufgenommen wurden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Wie belastbar" das Nachlassmaterial wirklich sei, mit dem Susanne Fischer, Geschäftsführerin der Arno-Schmidt-Stiftung, sich in ihrem Buch Arno Schmidts unvollendetes letztes Werk zu erschließen versucht, findet Rezensent Tilman Spreckelsen zwar fraglich, dann aber auch gar nicht so wichtig. Denn viel aufschlussreicher scheint ihm ohnehin Fischers Vergleich von Schmidts berühmten Zetteln mit schon bestehenden, nicht mit ungeschriebenen Passagen, weil sich hier interessante Diskrepanzen zeigen. Auch als Einblick in Schmidts "monomanisches Gehirn" und dessen Wahrnehmung liest Spreckelsen das Buch gerne. Aus den Notizen abzuleiten, wie Schmidts Roman wohl weitergegangen wäre (etwa mit überwiegend sexuellen Inhalten, wie Fischer überlegt), scheint dem Kritiker dagegen eher fruchtlos, hält das Fischers "verdienstvollem" Buch aber keineswegs vor.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2021Ein Strauß fliegt aus dem Bild
Arno Schmidts letzter Roman blieb Fragment. Wie hätte er geendet? Susanne Fischer befragt den Nachlass, was sich über die Handlung von "Julia" sagen lässt.
Als Arno Schmidt am 31. Mai 1979 einen Schlaganfall erlitt, mitten in der Arbeit an dem Roman "Julia, oder die Gemälde", stand ganz unten auf dem in die Schreibmaschine eingespannten großformatigen Blatt mit der Seitenzahl 100 ein Abschnitt, der seitdem oft zitiert wird, wenn es um diesen Autor geht.
Er enthält eine Aussage des weit gereisten Alexander von Humboldt, der die Menschheit unter den gemeinsamen Nenner der Faulheit stellte. Schmidts Erzähler fügt an: "Naja; erhebt sich die Frage: 'Iss Fleiß 'ne Tugend?' / Müßte man noch eine andre Frage davorschalten): 'Ist Fleiß für Menschen & Tiere eine einfache (Lebens-)Notwendigkeit?'"
Dass ein derart fleißiger Autor, der wenige Tage nach dem Schlaganfall am 3. Juni 1979 in Celle im Renteneintrittsalter von 65 Jahren starb, ausgerechnet mit diesen Worten die literarische Bühne verließ, ist bemerkenswert genug und machte das Zitat so beliebt - auch Susanne Fischer, die im Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung in Bargfeld die Geschäfte führt, beginnt ihr Buch zum letzten Roman des Autors damit. Allerdings sind diese Worte nur der Ausgangspunkt für die Frage nach dem Wesen dieses Fragments und danach, was man über die weitere Handlung, vielleicht sogar den Wortlaut des ungeschriebenen Textes mutmaßen könnte.
Die Handlung ist im Sommer 1979 angesiedelt ("also Ferienstimmung", heißt es in einer vorgeschalteten Erklärung zu Personal, Schauplatz und Spielzeit des Romans), zu dem vorgesehenen Finale im Spätherbst 1990 ist es nicht mehr gekommen. In "einer Art Bückeburg" und am Steinhuder Meer begegnen sich die Fabrikantenfamilie Kühne (mit dem neunzehnjährigen Sohn Nino, charakterisiert als "sitzengebliebener Primaner, lange Haare, kurzer Verstand"), die Sekretärin Sheila Wangel, der Studienrat Ekkehard Rauch und der Schriftsteller Leonhard Jhering (der am ehesten zum Alter Ego des Autors taugt). Im Schloss Bückeburg besichtigen sie ein Bild, das der Kastellan als Gruppenporträt der vier Prinzessinnen von Nassau-Oranien vorstellt. Er beobachtet Jhering, "wie der alte anspruchslose Narr da so erschüttert in das melancholische Frätzchen mit den feierlichen Braunaugen schaut", und erläutert, dass es sich bei der Prinzessin um eine gewisse Julia handelt. Während die Gruppe weitergeht, bleibt Jhering zurück, küsst Julias Schuh und bekommt von ihr aus dem Bild heraus ein Nelkensträußchen zugeworfen. Der Kastellan herrscht ihn an, während Jhering sich den Strauß ans Jackett steckt und den Alten "aus großen abwesenden Augen" anschaut.
Eine weitere Rolle spielen eine Fünfzehnjährige, genannt "1001", eine Gruppe von Schulmädchen und eine satanische Sekte, die Gespräche drehen sich, wie im Werk Schmidts üblich, um entlegene Literatur und, wie zum Glück in dieser ermüdenden Fülle nur im Spätwerk Schmidts üblich, um sexuelle Obsessionen.
Ausgeführt liegt etwa ein Drittel des geplanten Werks vor. Mutmaßen lässt sich der weitere Verlauf etwa anhand einer Handlungsskizze von 1977. Der sieht am zweiten von drei Tagen "FKK-Szenen" und eine Überfahrt auf dem Steinhuder Meer vor, auch "große s=Feste", Seeräuber und einen Schiffbruch. Am nächsten Tag, dem dritten und letzten des Teils der Handlung, der 1979 spielt, sollte die Gesellschaft dann auf der plötzlich nebligen Insel ohne Verbindung zum Festland bleiben müssen, während ein "Ich" den "Gestalten meiner Bücher" begegnet.
Was das bedeuten könnte, war bereits 1985 zu ahnen. Damals, zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Fragments als DIN-A3-Typoskript aus dem Nachlass und sieben Jahre vor der von Friedrich Forssman gestalteten gesetzten Fassung, konnte man in der zwölften Ausgabe von "Der Rabe" einige Zettel lesen, die Schmidt in Vorbereitung auf die Niederschrift des Romans angefertigt hatte. "d Gestalten meiner Bücher gefallen Mir gar nicht", steht dort, und: "Erlebnisse und Gespräche mit ihnen: noch erfinden". Einige von ihnen, die aus früheren Werken Schmidts stammen, werden auf einem anderen Zettel erwähnt, etwa Ann'Ev', Martina und Eugen aus "Abend mit Goldrand" oder Düsterhenn aus "Caliban über Setebos", aus "Zettel's Traum" erscheint "Franziska, ein schönes Weib von 35" und "sieht verächtlich über d Schulter".
Wer mutmaßt, wie es in "Julia, laß das!", so der frühere Arbeitstitel, mit dem Susanne Fischers Studie überschrieben ist, hätte weitergehen können, der wird sich dabei auf wenig mehr als den Nachlass stützen, also auf die erwähnte Handlungsskizze und immerhin "13339 Zettel zu diesem Projekt", wie Fischer schreibt, "darunter rund 230 Ausschnitte aus Zeitungen, Zeitschriften, Versandhaus- und Antiquariatskatalogen sowie einige Dias".
Doch wie belastbar ist das, was die Zettelmassen - immerhin dasjenige Arbeitsinstrument Arno Schmidts, das landläufig am meisten mit ihm verbunden wird - suggerieren? Zu den erhellendsten Passagen von Fischers Buch gehören jene, die fertig ausgearbeitete Teile von Schmidts Romanen mit dem Bestand an Zetteln vergleichen, der sich ihnen jeweils zuordnen lässt. Das Ergebnis fällt sehr unterschiedlich aus, abhängig auch vom Fortgang in Schmidts Entwicklung als Autor. Der Roman "Seelandschaft mit Pocahontas" (1953) etwa enthält demnach lange Passagen, die auf erhaltenen Notizzetteln vorformuliert waren. Im Fall von "Zettel's Traum", dem Roman also, der das auch hinsichtlich des Seitenformats ausufernde Spätwerk einläutet, stellt Fischer fest: "Es finden sich exakte Übernahmen der auf Zetteln notierten Formulierungen ebenso wie Umformungen und Kürzungen. Einige Notizen wurden überhaupt nicht übernommen oder erscheinen an ganz anderen Stellen im Textverlauf."
All dies lässt sich auch im Fall von "Julia" beobachten, allerdings besteht womöglich noch eine größere Distanz zwischen den fertigen Seiten und den dafür verwendeten Zetteln. Vor allem aber scheint Schmidt die Anordnung, also auch die vorgesehene Verwendung seiner in den berühmten Zettelkästen verwahrten Notizen, oft erst im Schreibprozess selbst hergestellt zu haben. "Die Zettel verraten nicht, wie es in und mit dem Buch weitergegangen wäre. Sie erscheinen über weite Strecken kaum geordnet, nur zu größeren Themenkomplexen zusammengefasst. Sind sie Einzel-Episoden zugeordnet, bleibt trotzdem meist vage, was dort passiert, wer sich wie äußert", schreibt Fischer. Und seufzt angesichts der erdrückenden Fülle von Zetteln zu sexualisierten Begegnungen, Beobachtungen und Gesprächen: "Plante er tatsächlich, ein Buch zu schreiben, dessen zweite Hälfte vorwiegend sexuelle Inhalte haben sollte?"
Der Nachlass lässt keine Antwort darüber zu, aber die - gemessen an dem Gesamtbestand - geringe Auswahl an Zetteln, die Fischer in ihrem Buch erstmals ediert, ist auch unabhängig von solchen Fragen eine interessante Lektüre. Die Wahrnehmungen der Umgebung, die Anspielungen auf Literatur und auf Gelesenes überhaupt, schließlich das Ideengeflecht eines monomanischen Gehirns - all das bildet sich als Möglichkeit, vielleicht auch als Voraussetzung eines Erzählens darin ab, aber es markiert zugleich den riesigen Abstand zwischen solchen Keimen und dem fertigen Text. Näher als mit dem Angebot in Fischers verdienstvollem Buch, so scheint es, werden wir der Idee einer fertigen "Julia" nicht mehr kommen. TILMAN SPRECKELSEN
Susanne Fischer: "Julia, laß das!". Arno Schmidts Zettelkasten zu "Julia, oder die Gemälde".
Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 120 S., br., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Arno Schmidts letzter Roman blieb Fragment. Wie hätte er geendet? Susanne Fischer befragt den Nachlass, was sich über die Handlung von "Julia" sagen lässt.
Als Arno Schmidt am 31. Mai 1979 einen Schlaganfall erlitt, mitten in der Arbeit an dem Roman "Julia, oder die Gemälde", stand ganz unten auf dem in die Schreibmaschine eingespannten großformatigen Blatt mit der Seitenzahl 100 ein Abschnitt, der seitdem oft zitiert wird, wenn es um diesen Autor geht.
Er enthält eine Aussage des weit gereisten Alexander von Humboldt, der die Menschheit unter den gemeinsamen Nenner der Faulheit stellte. Schmidts Erzähler fügt an: "Naja; erhebt sich die Frage: 'Iss Fleiß 'ne Tugend?' / Müßte man noch eine andre Frage davorschalten): 'Ist Fleiß für Menschen & Tiere eine einfache (Lebens-)Notwendigkeit?'"
Dass ein derart fleißiger Autor, der wenige Tage nach dem Schlaganfall am 3. Juni 1979 in Celle im Renteneintrittsalter von 65 Jahren starb, ausgerechnet mit diesen Worten die literarische Bühne verließ, ist bemerkenswert genug und machte das Zitat so beliebt - auch Susanne Fischer, die im Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung in Bargfeld die Geschäfte führt, beginnt ihr Buch zum letzten Roman des Autors damit. Allerdings sind diese Worte nur der Ausgangspunkt für die Frage nach dem Wesen dieses Fragments und danach, was man über die weitere Handlung, vielleicht sogar den Wortlaut des ungeschriebenen Textes mutmaßen könnte.
Die Handlung ist im Sommer 1979 angesiedelt ("also Ferienstimmung", heißt es in einer vorgeschalteten Erklärung zu Personal, Schauplatz und Spielzeit des Romans), zu dem vorgesehenen Finale im Spätherbst 1990 ist es nicht mehr gekommen. In "einer Art Bückeburg" und am Steinhuder Meer begegnen sich die Fabrikantenfamilie Kühne (mit dem neunzehnjährigen Sohn Nino, charakterisiert als "sitzengebliebener Primaner, lange Haare, kurzer Verstand"), die Sekretärin Sheila Wangel, der Studienrat Ekkehard Rauch und der Schriftsteller Leonhard Jhering (der am ehesten zum Alter Ego des Autors taugt). Im Schloss Bückeburg besichtigen sie ein Bild, das der Kastellan als Gruppenporträt der vier Prinzessinnen von Nassau-Oranien vorstellt. Er beobachtet Jhering, "wie der alte anspruchslose Narr da so erschüttert in das melancholische Frätzchen mit den feierlichen Braunaugen schaut", und erläutert, dass es sich bei der Prinzessin um eine gewisse Julia handelt. Während die Gruppe weitergeht, bleibt Jhering zurück, küsst Julias Schuh und bekommt von ihr aus dem Bild heraus ein Nelkensträußchen zugeworfen. Der Kastellan herrscht ihn an, während Jhering sich den Strauß ans Jackett steckt und den Alten "aus großen abwesenden Augen" anschaut.
Eine weitere Rolle spielen eine Fünfzehnjährige, genannt "1001", eine Gruppe von Schulmädchen und eine satanische Sekte, die Gespräche drehen sich, wie im Werk Schmidts üblich, um entlegene Literatur und, wie zum Glück in dieser ermüdenden Fülle nur im Spätwerk Schmidts üblich, um sexuelle Obsessionen.
Ausgeführt liegt etwa ein Drittel des geplanten Werks vor. Mutmaßen lässt sich der weitere Verlauf etwa anhand einer Handlungsskizze von 1977. Der sieht am zweiten von drei Tagen "FKK-Szenen" und eine Überfahrt auf dem Steinhuder Meer vor, auch "große s=Feste", Seeräuber und einen Schiffbruch. Am nächsten Tag, dem dritten und letzten des Teils der Handlung, der 1979 spielt, sollte die Gesellschaft dann auf der plötzlich nebligen Insel ohne Verbindung zum Festland bleiben müssen, während ein "Ich" den "Gestalten meiner Bücher" begegnet.
Was das bedeuten könnte, war bereits 1985 zu ahnen. Damals, zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Fragments als DIN-A3-Typoskript aus dem Nachlass und sieben Jahre vor der von Friedrich Forssman gestalteten gesetzten Fassung, konnte man in der zwölften Ausgabe von "Der Rabe" einige Zettel lesen, die Schmidt in Vorbereitung auf die Niederschrift des Romans angefertigt hatte. "d Gestalten meiner Bücher gefallen Mir gar nicht", steht dort, und: "Erlebnisse und Gespräche mit ihnen: noch erfinden". Einige von ihnen, die aus früheren Werken Schmidts stammen, werden auf einem anderen Zettel erwähnt, etwa Ann'Ev', Martina und Eugen aus "Abend mit Goldrand" oder Düsterhenn aus "Caliban über Setebos", aus "Zettel's Traum" erscheint "Franziska, ein schönes Weib von 35" und "sieht verächtlich über d Schulter".
Wer mutmaßt, wie es in "Julia, laß das!", so der frühere Arbeitstitel, mit dem Susanne Fischers Studie überschrieben ist, hätte weitergehen können, der wird sich dabei auf wenig mehr als den Nachlass stützen, also auf die erwähnte Handlungsskizze und immerhin "13339 Zettel zu diesem Projekt", wie Fischer schreibt, "darunter rund 230 Ausschnitte aus Zeitungen, Zeitschriften, Versandhaus- und Antiquariatskatalogen sowie einige Dias".
Doch wie belastbar ist das, was die Zettelmassen - immerhin dasjenige Arbeitsinstrument Arno Schmidts, das landläufig am meisten mit ihm verbunden wird - suggerieren? Zu den erhellendsten Passagen von Fischers Buch gehören jene, die fertig ausgearbeitete Teile von Schmidts Romanen mit dem Bestand an Zetteln vergleichen, der sich ihnen jeweils zuordnen lässt. Das Ergebnis fällt sehr unterschiedlich aus, abhängig auch vom Fortgang in Schmidts Entwicklung als Autor. Der Roman "Seelandschaft mit Pocahontas" (1953) etwa enthält demnach lange Passagen, die auf erhaltenen Notizzetteln vorformuliert waren. Im Fall von "Zettel's Traum", dem Roman also, der das auch hinsichtlich des Seitenformats ausufernde Spätwerk einläutet, stellt Fischer fest: "Es finden sich exakte Übernahmen der auf Zetteln notierten Formulierungen ebenso wie Umformungen und Kürzungen. Einige Notizen wurden überhaupt nicht übernommen oder erscheinen an ganz anderen Stellen im Textverlauf."
All dies lässt sich auch im Fall von "Julia" beobachten, allerdings besteht womöglich noch eine größere Distanz zwischen den fertigen Seiten und den dafür verwendeten Zetteln. Vor allem aber scheint Schmidt die Anordnung, also auch die vorgesehene Verwendung seiner in den berühmten Zettelkästen verwahrten Notizen, oft erst im Schreibprozess selbst hergestellt zu haben. "Die Zettel verraten nicht, wie es in und mit dem Buch weitergegangen wäre. Sie erscheinen über weite Strecken kaum geordnet, nur zu größeren Themenkomplexen zusammengefasst. Sind sie Einzel-Episoden zugeordnet, bleibt trotzdem meist vage, was dort passiert, wer sich wie äußert", schreibt Fischer. Und seufzt angesichts der erdrückenden Fülle von Zetteln zu sexualisierten Begegnungen, Beobachtungen und Gesprächen: "Plante er tatsächlich, ein Buch zu schreiben, dessen zweite Hälfte vorwiegend sexuelle Inhalte haben sollte?"
Der Nachlass lässt keine Antwort darüber zu, aber die - gemessen an dem Gesamtbestand - geringe Auswahl an Zetteln, die Fischer in ihrem Buch erstmals ediert, ist auch unabhängig von solchen Fragen eine interessante Lektüre. Die Wahrnehmungen der Umgebung, die Anspielungen auf Literatur und auf Gelesenes überhaupt, schließlich das Ideengeflecht eines monomanischen Gehirns - all das bildet sich als Möglichkeit, vielleicht auch als Voraussetzung eines Erzählens darin ab, aber es markiert zugleich den riesigen Abstand zwischen solchen Keimen und dem fertigen Text. Näher als mit dem Angebot in Fischers verdienstvollem Buch, so scheint es, werden wir der Idee einer fertigen "Julia" nicht mehr kommen. TILMAN SPRECKELSEN
Susanne Fischer: "Julia, laß das!". Arno Schmidts Zettelkasten zu "Julia, oder die Gemälde".
Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 120 S., br., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Näher als mit dem Angebot in Fischers verdienstvollem Buch, so scheint es, werden wir der Idee einer fertigen 'Julia' nicht mehr kommen.« Tilman Spreckelsen Frankfurter Allgemeine Zeitung 20211211