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Produktdetails
  • Verlag: Penguin UK
  • Seitenzahl: 368
  • Englisch
  • Abmessung: 200mm
  • Gewicht: 274g
  • ISBN-13: 9780141183039
  • Artikelnr.: 25216636
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.1999

Auf fremden Füßen
Arbeit an einer Legende: Ralph Ellisons Roman "Juneteenth"

NEW YORK, im Juni

Ralph Ellison hinterließ, als er 1994 im Alter von achtzig Jahren starb, ein OEuvre von ungeheurem Gewicht. Der schwerste Brocken war "Invisible Man", jener Roman der Suche nach der Komplexität der amerikanischen Identität durch die Figur des namenlosen Schwarzen, der als eine Art reziproker Bildungsroman im Jahr 1952 über Amerika kam und die literarische Welt in Erregung und in Erstaunen versetzte. "Invisible Man" ("Der unsichtbare Mann", neu übersetzt von Georg Goyert im Ammann Verlag) wurde umgehend kanonisiert und gehört bis heute zur Pflichtlektüre amerikanischer Jugendlicher und aller, denen Amerika am Herzen liegt. Zwei Bände glänzender Essays und ein paar verstreut veröffentlichte Kurzgeschichten sowie einige Auszüge aus einem zweiten Roman, an dem Ralph Ellison vierzig Jahre lang gearbeitet hatte und der unvollendet blieb, ergänzten ein Werk, das zu den bedeutendsten der amerikanischen Nachkriegsliteratur zählt.

Der Nachlaß von Ellison war kaum weniger gewichtig und enthielt noch einiges, das postum dem Werk Ellisons zugeschlagen wurde. Denn seine Verwalter, Ellisons Frau Fanny und sein Freund John F. Callahan, haben das Siegel, mit dem der Tod ein OEuvre beschließt, aufgebrochen. Das ist nicht ungewöhnlich, doch die Beispiele postumer Neuerscheinungen, mit denen etwa Ernest Hemingways Urteil, was er veröffentlichen wollte und was nicht, ständig revidiert wird, sind nicht ermunternd. Jedenfalls nicht in literarischer Hinsicht.

Von Ralph Ellison also sind nach seinem Tod frühe Kurzgeschichten aufgetaucht und publiziert worden, die auch auf deutsch bereits vorliegen (F.A.Z. vom 23. März), sowie einige unveröffentlichte Essays, die inzwischen ebenfalls gedruckt sind, weder zu großem Nutzen noch Schaden des Autors, sowie ein Konvolut von Briefen, die eine Fülle autobiographischen Materials enthalten - gleichsam der Ersatz für die Erinnerungen, die Ralph Ellison nie geschrieben hat.

Der aufregendste und auch geheimnisvollste Posten des Nachlasses aber waren die Fragmente seines zweiten großen Buches. Jeder wußte davon, jeder wartete darauf. Im Verlauf der letzten vierzig Jahre hatte dieser zweite Roman nahezu mythische Dimensionen angenommen. Sein einst avisiertes Publikationsdatum lag bei Ellisons Tod schon mehr als dreißig Jahre zurück, und im Arbeitszimmer des Schriftstellers fanden sich mehrere tausend Seiten mit Entwürfen, Szenen, Notizen, Revisionen, ein Berg von Computerausdrucken und Disketten - Zeugnisse eines vierzigjährigen Kampfes mit dem Material, das sich offenbar nicht so zusammenfügte, daß Ralph Ellison es als seinen zweiten Roman hätte veröffentlichen wollen.

Mindestens drei Handlungsstränge hatte er entworfen, bis zu einem Dutzend Erzähler beschäftigt und einen Zeitrahmen gewählt, dessen Zentrum in den fünfziger Jahren lag und der sich in Erinnerungen, Erzählungen und Delirien zum Anfang des Jahrhunderts hin dehnte und ebenso in die andere Richtung, bis in die sechziger Jahre. Doch es gab keine übergeordnete Gliederung, welche die Struktur dieses unvollendeten Buchs vorgezeichnet hätte, keine klaren Hinweise auf die Organisation der Szenen, keine Übergänge zwischen realistischem und allegorischem Erzählen, die er im "Unsichtbaren Mann" so grandios kombiniert hatte, keine Wege von A nach B. Auch hatte Ellison eine eindeutige Entscheidung über bestimmte zentrale Figuren, deren Bedeutung sich zwischen den verschiedenen Entwürfen veränderte, noch nicht getroffen.

Eine schwarze Saga

Wie in "Der unsichtbare Mann" orchestrierte Ellison sein Romanfragment für viele Stimmen, schob Predigten ein und politische Reden, Traumsequenzen, Halluzinationen und Gebete und variierte, modulierte und überdehnte seine gelungensten Szenen bis zur Ekstase, wie sie den Riffs der Jazzmusiker eigen sind, aber auch dem Schreiben von Melville. Soviel war aus den Auszügen, die er zu Lebzeiten veröffentlichte, und aus seinen eigenen Aussagen zu diesem "work in very long progress" zu erkennen. Offenbar hatte Ellison vor, die Saga der Erfahrung des Schwarzseins in diesem Jahrhundert zu schreiben, eine große Symphonie mit Chören und zahlreichen Solisten, ein "verrücktes Buch", wie er in einem Interview erklärte, "von dem ich selbst noch nicht verstehe, wovon es handelt". Auch blieb unklar, ob er das Ganze vielleicht auf zwei oder drei Bände verteilen wollte.

Sicher war nur, daß Ellison niemals vorhatte, eine geradlinige Geschichte zu erzählen. Seine Entwürfe müssen eher einem Feuerwerk geglichen haben, dessen Elemente in alle Richtungen explodierten, und er erklärte in einem weiteren Interview im Jahr 1977, daß dieses Buch "einen Realismus" herstellen werde, der "jenseits jedes Realismus" liege, eine Mischung zwischen Faulkner und Joyce, die auch Mark Twain huldigt und den schwarzen Traditionen mündlicher Überlieferung - gerade so, wie im "Unsichtbaren Mann", nur radikaler noch: die ganze Geschichte von Schwarz und Weiß in einem einzigen Buch.

Jetzt ist in Amerika, lange angekündigt und mit Spannung erwartet, unter dem Autorennamen Ralph Ellison ein Buch erschienen, das "Juneteenth" heißt und als Roman ausgezeichnet ist. Es hat nicht zweitausend oder tausend, sondern dreihundertachtundsechzig Seiten, von denen dreihundertachtundvierzig Romantext sind, den Rest bilden eine Einführung, eine Auswahl von Notizen und eine Provenienzgeschichte "für Gelehrte". John F. Callahan hat es herausgegeben, und wer es gelesen hat, spürt, daß Ralph Ellison es nicht geschrieben hat. Es ist die Ruine des Fragments seines riesigen Romangebäudes, dessen Statik Ellison nicht traute und das er deshalb unter Verschluß hielt. Was jetzt als wohl letzter Eintrag in sein Werkregister erschienen ist, ist ein Buch aus seinen Sätzen, aber nicht Ralph Ellisons zweiter Roman.

Wie und als was also kann man "Juneteenth" lesen? John F. Callahan hat aus den Bergen von Manuskriptseiten die Geschichte zweier Männer herausgelöst, und zwar aus ganz unterschiedlichen Teilen des Fragments, wie er in seiner "Note for Scholars" am Ende des Buchs auflistet: Ein Stück erschien 1960 in einem Literaturmagazin; ein anderes ist das "Buch 2" in der Version von 1972, ein weiteres ein langes Kapitel mit dem Titel "Bliss' Birth". Dann verwendet Callahan einen Absatz aus "Cadillac Flambé", einer Kurzgeschichte, die 1973 im "New American Review" erschienen war, und weitere Passagen aus späteren Versionen. All diese Stücke kreisen um Bliss, eine Figur, die mehrfach erfunden wird: Bliss ist ein weißhäutiger Junge, der im Süden der Vereinigten Staaten von einem Neger - auf diesem Ausdruck bestand Ellison - großgezogen wird, und zwar von dem Prediger Alanzo Hickman.

Gefälschter Sonnenuntergang

Das Buch beginnt damit, daß Hickman mehrfach erfolglos versucht, bei dem Senator Sunraider vorzusprechen. Schließlich geht er auf die Zuschauertribüne im Senat und hört Sunraiders Rede zu, die viel von einer Predigt hat und gespickt ist mit rassistischen Anmerkungen. Ein Tumult entwickelt sich auf der Zuschauertribüne, und der Senator wird niedergeschossen. Auf dem Totenbett verlangt er nach Hickman - Sunraider ist niemand anderer als Bliss, der einst Teil war von Hickmans Gottesdiensten, auf deren Höhepunkt er zum Beweis der Auferstehung allen Fleisches aus einem Sarg herauszuschnellen pflegte, in dem er zuvor, einen Kuschelhasen im Arm, regungslos verharrt hatte. Eines Tages war Bliss davongelaufen und hatte begonnen, Filme zu machen. Er nahm den Namen Adam Sunraider an und wurde schließlich Senator. Der Rest des Buches sind Erinnerungen und Beobachtungen der Bewußtseinströme der beiden Männer, ihr Dialog und ihre Halluzinationen. Es ist ein Versuch, durch genaue Erinnerung bei der Wahrheit der Geschichte anzukommen - ein ziemlich melodramatisches Vorhaben, vor allem unter der Voraussetzung, daß einer der beiden Protagonisten nach dreißig Seiten schwer verwundet ins Krankenhaus eingeliefert wird und für gut dreihundert weitere dort liegenbleibt.

Die Reaktionen auf "Juneteenth" waren gemischt. Einige Rezensenten ließen sich von der fraglos ungeheuren Sprachgewalt und der Vielfalt der Idiome davon überzeugen, daß "Juneteenth" zumindest eines der möglichen Bücher ist, die Ralph Ellison - der diesen Titel übrigens nie erwogen hat - hätte schreiben können. Andere, allen voran Louis Menand im "New York Times Book Review" und James Wood im "New Republic", waren so enttäuscht, daß sie das Buch wie eine Fälschung behandelten: "Dies ist nicht Ralph Ellisons zweiter Roman", so beginnt Louis Menand eine auch im Ton recht scharfe Abrechnung mit John F. Callahan. Und James Wood eröffnet seinen Artikel mit den Worten, das Buch sei ein "falscher Sonnenuntergang". Wahrscheinlich ist "Juneteenth" ein weiterer und sicher nicht der letzte Beweis dafür, daß große Autoren gute Gründe haben, auch um den Preis des Verstummens unvollendete Arbeiten nicht zu veröffentlichen. Interessanter als "Juneteenth" dürfte daher wohl die Studienausgabe sein, die Callahan angekündigt hat und in der all das Material, das der Herausgeber gesichtet, geordnet, geschnitten, verwoben und in fortlaufenden Kapiteln untergebracht hat, ungekürzt veröffentlicht werden soll.

Was auch immer "Juneteenth" sonst noch ist, es ist ein Produkt mit gewissem Marktwert. So werden bereits die Filmrechte gehandelt, und es sieht so aus, als seien Quincy Jones und Morgan Freeman als Produzenten an dem Buch interessiert. Morgan Freeman, so wird gemunkelt, will die Rolle des Reverend Hickman spielen, und David Mamet soll als Drehbuchautor im Gespräch sein. Schwierig wird es bei der Besetzung von Bliss/Sunraider: Ralph Ellison ließ im ungewissen, ob diese Figur ein hellhäutiger Schwarzer oder ein Weißer sei - eine Unterscheidung, die bei seiner Überzeugung, daß Schwarze und Weiße jeweils im anderen enthalten seien, ohne große Bedeutung ist. Im Film ist diese Frage kaum offenzuhalten - und so wird auch hier wie in "Juneteenth" statt einer Fülle von Optionen, zwischen denen sich Ralph Ellison vier Jahrzehnte lang nicht entscheiden konnte, eine einzige Antwort stehen. Sie mag plausibel sein. Doch sie gehört nicht in Ellisons Werk.

VERENA LUEKEN

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