Jürgen-Ponto-Preis für das beste Debüt 2011 Hoch oben auf dem Feuerwachturm eines Militärstützpunktes steht ein Junge und beobachtet, wie die Sonne lichte Tupfer auf die Landschaft wirft; im Hintergrund das leichte Sirren eines alten Kofferradios. Die Ruhe aber ist nur von kurzer Dauer, denn etwas im Jungen gerät aus den Fugen. In seinen Ohren saust es, sein Herz rast. Die Dinge zeigen sich überkonturiert. Unten im Ort, der wie ein Niemandsland zwischen den Grenzen liegt, herrscht triste Normalität. Die Menschen gehen in die Kirche und prozessieren stolz beim Schützenfest. Von den Dingen, die um sie herum passieren, nehmen sie kaum Notiz. Den Jungen aber treiben Schwindelschübe hinein in einen Zitterzustand. Er sieht Kinder, bewaffnet mit Gewehren, Totempfähle, Asylanten, die wartend in ihren Baracken kauern. Er begreift, daß er anders ist, und schöpft daraus neuen Mut. Fortan begegnet er der Welt mit einem verängstigten Staunen, in der Hoffnung, daß sie mehr bereithält, als derschnelle Blick erhaschen kann. Die Enge des Dorfes schnürt ihm zunehmend die Luft ab. In einer Nacht, in der die Bilder rauschen, plant er sein Fortgehen. Das Wagnis, zu schauen, was möglich ist: ein Debüt, das funkelt, flirrt und fiebert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2011Wer aus der Zeit f ällt, wo landet der?
Hier stimmt etwas nicht, so gut ist diese Prosa: In seinem verstörenden Romandebüt „Junge“ erzählt Sebastian Polmans
mit ungewöhnlicher Sprachkraft vom inneren Bildertheater eines Heranwachsenden Von Helmut Böttiger
Vom ersten Satz an beginnt sich der Text dieses Buches im Kopf des Lesers zu drehen, eine verstörend berauschende Wirkung, die nur aus Wörtern entsteht und der Art und Weise, wie sie zusammengesetzt sind. Einmal taucht unversehens eine Deckenwand auf, wo „mit einer kopfgroßen Schraube der Trafo für die Antennen angebracht“ ist: so, in einer romantisch versunkenen Mechanik, scheinen auch die Sätze dieses Romans zu funktionieren. Sie verbinden einen technischen Fortschritt aus der Frühzeit der Bundesrepublik mit der digital geprägten Wahrnehmung von heute, sie führen von hohen Brennesselranken und zusammengeschweißten Riffelblechplatten hin zu plötzlichen Bewusstseinsbrüchen, „wie ein mitten im Lied einsetzendes Play“.
Das bedrohlich Schwebende und Traumverhangene dieser Prosa entsteht durch ein raffiniertes Raum-Zeit-Manöver. Der Ort des Geschehens ist eindeutig zu fassen: ein Dorf an der deutsch-holländischen Grenze mit Militärflughafen und Autobahnbaustelle, die Zeit hingegen scheint sich zu entziehen – und zwar umso deutlicher, je genauer man sie zu benennen versucht. Eine spezifische Zeitlosigkeit ist in diesen Zeilen zu erkennen, auch wenn es sich offenkundig um zwei Tage in der unmittelbaren Gegenwart handelt. Es ist eine Gegenwart, die in mehrere Zeitschichten aufgeteilt wird.
Hauptperson ist ein namenloser Junge, in seinem Kopf findet alles statt. Die plastische, emotionale Sprache entwickelt eine starke Sogwirkung, Ton- und Bildspuren laufen gleichzeitig ab. Die Beschreibung von Orten und Situationen, von Menschen und ihren Gesprächen ist in ihrer hyperrealistischen Detailtreue untrennbar verwoben mit subjektiv-fragmentarischen Wahrnehmungsschüben. Das genaue Alter des Jungen bleibt unklar, er befindet sich auf jeden Fall in der Latenzzeit vor der Pubertät, also der Zeit eines unbestechlichen Blicks und eines besonderen Ausgeliefertseins – man hat noch keine großen Mittel zur Verfügung, mit der eigenen Verletzbarkeit umzugehen.
Schon viele Autoren haben die Klarheit dieses Jugendalters benutzt, um der Zeit und der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, es ist ein alter literarischer Trick. Sebastian Polmans wendet ihn an – vor allem die niederrheinisch-katholische Erziehung bildet dabei ein Leitmotiv –, aber er geht darüber hinaus. Unmerklich bekommt die Adoleszenz-Problematik etwas Symbolisches und Altersloses, es geht um einen Riss zwischen Ich und Welt, um psychische Ausnahmezustände als eine Metapher, um eine Perspektive, wie sie etwa Georg Büchner mit seinem „Lenz“ eingenommen hat.
Polmans lässt wie Büchner seinen Protagonisten nicht in der Ich-Form agieren, sondern spricht distanziert von einem „Er“. Doch bleibt er ganz nah an der Perspektive seiner Figur, sieht die Welt mit ihren noch nicht trainierten, die Details verzerrenden, vergrößernden Augen - aber er rückt sie radikal von der Kindersprache- und -wahrnehmung weg. Das ergibt eine ungeheure Spannung. Der Junge hat, im Gegensatz zu vielen neueren literarischen Versuchen über das Erwachsenwerden, überhaupt nichts Putziges. Er nimmt sich als Opfer wahr und lässt das gesamte Pathos mitschwingen, das darin steckt.
Dass der Junge keinen Namen trägt und wie ein Untersuchungsobjekt unter dem Mikroskop erscheint, hat etwas Verallgemeinerndes, versetzt die Geschichte in eine energiegeladene Zone zwischen Wirklichkeit und Imagination. Die äußere Handlung steht dabei gar nicht so sehr im Vordergrund, obwohl sie durchaus wiedergegeben werden kann. Der Junge befindet sich anfangs an seinem Fluchtpunkt, einem alten Feuerwachturm am Rande des Dorfes, dessen technische Geräte auf die Archäologen des Fortschritts warten. Er fährt mit dem Fahrrad zurück in das Dorf, begegnet dabei Asylanten in ihren Containern am Waldrand, kommt in die Siedlung zu seinen Großeltern, wo der Großvater gerade mehrere Kaninchen geschlachtet hat, gelangt mit einer Rollstuhlfahrerin in den Ortskern und betritt schließlich das Elternhaus, wo der Vater mit dem gerade stattfindenden Schützenfest und die Mutter mit katholischen Riten beschäftigt ist.
Immer wieder schwinden dem Jungen die Sinne: er hört fremde, feindliche Geräusche, hat starkes Herzklopfen, ist psychisch am Rand. Am nächsten Morgen muss er mit in den Gottesdienst, und seine Eltern erfahren, dass jener Großvater gestorben ist, den er am Vorabend noch besucht hatte. Die ganze Zeit schon wollte er aufbrechen, das Dorf und die Eltern hinter sich lassen, das so weit wie nur irgendwie vorstellbar entfernte Japan dient dabei als Fixpunkt. Als er diesen Ausreißversuch dann unternimmt, bricht der Text ab und lässt den Jungen in einem vieldeutigen Zustand zurück.
Man merkt: dies ist keine realistische Erzählung, sie hat etwas Märchenhaftes und Überhöhtes, sie lebt von der Sprache und dem, was an Assoziationsmöglichkeiten transportiert wird. Man kann in diesem Buch einige Anklänge an andere literarische Texte mithören, obwohl es in seinem Lokalkolorit und seiner expressiven Bildwelt unverwechselbar bleibt. Dass der Junge letztlich nur Zugang zu traumhaft fremden Asylanten oder einer geistig behinderten Rollstuhlfahrerin findet, erinnert an Peter Handkes theatralische Welten, an dessen Sinnspiele und Außenseiterfeste. Es findet sich auch hier, allerdings in einen völlig anderen Rahmen gestellt, die Konfrontation eines literarischen Ich mit symbolisch aufgeladener Natur. Einmal wird, mit der Nähmaschine der Großmutter wie mit der Mappe des Großvaters, etwas Stiftersches evoziert. Und in der beschwörenden Anrufung vergangener technischer Innovationen und Geräte, in der Installation gefährdeter Kindheit, scheint auch etwas vom explizit zeitgenössischen Autor Georg Klein durchzuschimmern.
Doch Polmans betreibt keines der üblichen Samplings, er lässt nur etwas mitströmen in einem ganz anderen Fluss. Wie er auf kleinstem Raum, in der Begrenzung auf einen konkreten Ausschnitt, für den es bereits unübersehbar viele literarische Vorlagen gibt, etwas ganz Eigenes schafft, das macht das Faszinierende dieser Prosa aus.
Einen Bezug stellt der 1982 geborene Polmans aber ganz offensiv her: es erscheinen wie beiläufig im Text einige wenige historische Schwarzweiß-Photographien, in der Manier W.G. Sebalds. Dass der andere Großvater, der aus Holland stammte, später in Spanien ein berühmter Torwart gewesen sei, wird durch ein Foto illustriert, das die mythische Dimension vergangener Fußballwelten zitiert. Genauso ein Foto der Großmutter, die die noch ganz junge Mutter auf dem Schoß trägt. Und das Foto eines Platzes, wahrscheinlich in Tokio, mit einer austauschbaren Häuserlandschaft und einer schütteren Palme, wird am Schluss des Textes mit gewaltigen Phantasien aufgeladen und führt direkt aufs Ende zu.
Die Aufnahme jener Sebaldschen Technik weist dieses Buch auch als den Versuch einer historischen Probebohrung aus, einer Vergewisserung und verstärkt den Charakter der Zeitlosigkeit. „Junge“ ist ein erstaunliches Debüt, es geht weit über ein bloßes Gesellenstück hinaus. Und es ist das größte Lob, wenn man das bekräftigt, was die Eltern und Verwandten des Helden fortwährend sagen: Mit diesem Jungen stimmt etwas nicht.
Sebastian Polmans
Junge
Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 194 Seiten. 17,90 Euro
Dies ist keine realistische
Erzählung, sie hat etwas
Märchenhaftes, Überhöhtes
„Der Junge stellte sich vor, der Großvater hätte seine Position nie verlassen;er hätte bis zu seinem Tod zwischen den Pfosten, die wie die Schranken am Grenzübergang aussahen, gestanden, aus Angst, einen Schuss zu
verpassen, selbst wenn gar nicht
gespielt wurde.“
„Die Frage, wer das Foto in dieser schwindelnden Höhe geschossen haben könnte, stellte er sich nicht. Sein Blick forcierte den Bergsteiger hinter der Schrift, die kaum noch lesbar war, und ohne dass es ihm auffiel, klemmte er den Daumen in seine Fäuste und
betete, dass der Kerl nicht abstürze.“
Fotos: Suhrkamp Verlag
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Hier stimmt etwas nicht, so gut ist diese Prosa: In seinem verstörenden Romandebüt „Junge“ erzählt Sebastian Polmans
mit ungewöhnlicher Sprachkraft vom inneren Bildertheater eines Heranwachsenden Von Helmut Böttiger
Vom ersten Satz an beginnt sich der Text dieses Buches im Kopf des Lesers zu drehen, eine verstörend berauschende Wirkung, die nur aus Wörtern entsteht und der Art und Weise, wie sie zusammengesetzt sind. Einmal taucht unversehens eine Deckenwand auf, wo „mit einer kopfgroßen Schraube der Trafo für die Antennen angebracht“ ist: so, in einer romantisch versunkenen Mechanik, scheinen auch die Sätze dieses Romans zu funktionieren. Sie verbinden einen technischen Fortschritt aus der Frühzeit der Bundesrepublik mit der digital geprägten Wahrnehmung von heute, sie führen von hohen Brennesselranken und zusammengeschweißten Riffelblechplatten hin zu plötzlichen Bewusstseinsbrüchen, „wie ein mitten im Lied einsetzendes Play“.
Das bedrohlich Schwebende und Traumverhangene dieser Prosa entsteht durch ein raffiniertes Raum-Zeit-Manöver. Der Ort des Geschehens ist eindeutig zu fassen: ein Dorf an der deutsch-holländischen Grenze mit Militärflughafen und Autobahnbaustelle, die Zeit hingegen scheint sich zu entziehen – und zwar umso deutlicher, je genauer man sie zu benennen versucht. Eine spezifische Zeitlosigkeit ist in diesen Zeilen zu erkennen, auch wenn es sich offenkundig um zwei Tage in der unmittelbaren Gegenwart handelt. Es ist eine Gegenwart, die in mehrere Zeitschichten aufgeteilt wird.
Hauptperson ist ein namenloser Junge, in seinem Kopf findet alles statt. Die plastische, emotionale Sprache entwickelt eine starke Sogwirkung, Ton- und Bildspuren laufen gleichzeitig ab. Die Beschreibung von Orten und Situationen, von Menschen und ihren Gesprächen ist in ihrer hyperrealistischen Detailtreue untrennbar verwoben mit subjektiv-fragmentarischen Wahrnehmungsschüben. Das genaue Alter des Jungen bleibt unklar, er befindet sich auf jeden Fall in der Latenzzeit vor der Pubertät, also der Zeit eines unbestechlichen Blicks und eines besonderen Ausgeliefertseins – man hat noch keine großen Mittel zur Verfügung, mit der eigenen Verletzbarkeit umzugehen.
Schon viele Autoren haben die Klarheit dieses Jugendalters benutzt, um der Zeit und der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, es ist ein alter literarischer Trick. Sebastian Polmans wendet ihn an – vor allem die niederrheinisch-katholische Erziehung bildet dabei ein Leitmotiv –, aber er geht darüber hinaus. Unmerklich bekommt die Adoleszenz-Problematik etwas Symbolisches und Altersloses, es geht um einen Riss zwischen Ich und Welt, um psychische Ausnahmezustände als eine Metapher, um eine Perspektive, wie sie etwa Georg Büchner mit seinem „Lenz“ eingenommen hat.
Polmans lässt wie Büchner seinen Protagonisten nicht in der Ich-Form agieren, sondern spricht distanziert von einem „Er“. Doch bleibt er ganz nah an der Perspektive seiner Figur, sieht die Welt mit ihren noch nicht trainierten, die Details verzerrenden, vergrößernden Augen - aber er rückt sie radikal von der Kindersprache- und -wahrnehmung weg. Das ergibt eine ungeheure Spannung. Der Junge hat, im Gegensatz zu vielen neueren literarischen Versuchen über das Erwachsenwerden, überhaupt nichts Putziges. Er nimmt sich als Opfer wahr und lässt das gesamte Pathos mitschwingen, das darin steckt.
Dass der Junge keinen Namen trägt und wie ein Untersuchungsobjekt unter dem Mikroskop erscheint, hat etwas Verallgemeinerndes, versetzt die Geschichte in eine energiegeladene Zone zwischen Wirklichkeit und Imagination. Die äußere Handlung steht dabei gar nicht so sehr im Vordergrund, obwohl sie durchaus wiedergegeben werden kann. Der Junge befindet sich anfangs an seinem Fluchtpunkt, einem alten Feuerwachturm am Rande des Dorfes, dessen technische Geräte auf die Archäologen des Fortschritts warten. Er fährt mit dem Fahrrad zurück in das Dorf, begegnet dabei Asylanten in ihren Containern am Waldrand, kommt in die Siedlung zu seinen Großeltern, wo der Großvater gerade mehrere Kaninchen geschlachtet hat, gelangt mit einer Rollstuhlfahrerin in den Ortskern und betritt schließlich das Elternhaus, wo der Vater mit dem gerade stattfindenden Schützenfest und die Mutter mit katholischen Riten beschäftigt ist.
Immer wieder schwinden dem Jungen die Sinne: er hört fremde, feindliche Geräusche, hat starkes Herzklopfen, ist psychisch am Rand. Am nächsten Morgen muss er mit in den Gottesdienst, und seine Eltern erfahren, dass jener Großvater gestorben ist, den er am Vorabend noch besucht hatte. Die ganze Zeit schon wollte er aufbrechen, das Dorf und die Eltern hinter sich lassen, das so weit wie nur irgendwie vorstellbar entfernte Japan dient dabei als Fixpunkt. Als er diesen Ausreißversuch dann unternimmt, bricht der Text ab und lässt den Jungen in einem vieldeutigen Zustand zurück.
Man merkt: dies ist keine realistische Erzählung, sie hat etwas Märchenhaftes und Überhöhtes, sie lebt von der Sprache und dem, was an Assoziationsmöglichkeiten transportiert wird. Man kann in diesem Buch einige Anklänge an andere literarische Texte mithören, obwohl es in seinem Lokalkolorit und seiner expressiven Bildwelt unverwechselbar bleibt. Dass der Junge letztlich nur Zugang zu traumhaft fremden Asylanten oder einer geistig behinderten Rollstuhlfahrerin findet, erinnert an Peter Handkes theatralische Welten, an dessen Sinnspiele und Außenseiterfeste. Es findet sich auch hier, allerdings in einen völlig anderen Rahmen gestellt, die Konfrontation eines literarischen Ich mit symbolisch aufgeladener Natur. Einmal wird, mit der Nähmaschine der Großmutter wie mit der Mappe des Großvaters, etwas Stiftersches evoziert. Und in der beschwörenden Anrufung vergangener technischer Innovationen und Geräte, in der Installation gefährdeter Kindheit, scheint auch etwas vom explizit zeitgenössischen Autor Georg Klein durchzuschimmern.
Doch Polmans betreibt keines der üblichen Samplings, er lässt nur etwas mitströmen in einem ganz anderen Fluss. Wie er auf kleinstem Raum, in der Begrenzung auf einen konkreten Ausschnitt, für den es bereits unübersehbar viele literarische Vorlagen gibt, etwas ganz Eigenes schafft, das macht das Faszinierende dieser Prosa aus.
Einen Bezug stellt der 1982 geborene Polmans aber ganz offensiv her: es erscheinen wie beiläufig im Text einige wenige historische Schwarzweiß-Photographien, in der Manier W.G. Sebalds. Dass der andere Großvater, der aus Holland stammte, später in Spanien ein berühmter Torwart gewesen sei, wird durch ein Foto illustriert, das die mythische Dimension vergangener Fußballwelten zitiert. Genauso ein Foto der Großmutter, die die noch ganz junge Mutter auf dem Schoß trägt. Und das Foto eines Platzes, wahrscheinlich in Tokio, mit einer austauschbaren Häuserlandschaft und einer schütteren Palme, wird am Schluss des Textes mit gewaltigen Phantasien aufgeladen und führt direkt aufs Ende zu.
Die Aufnahme jener Sebaldschen Technik weist dieses Buch auch als den Versuch einer historischen Probebohrung aus, einer Vergewisserung und verstärkt den Charakter der Zeitlosigkeit. „Junge“ ist ein erstaunliches Debüt, es geht weit über ein bloßes Gesellenstück hinaus. Und es ist das größte Lob, wenn man das bekräftigt, was die Eltern und Verwandten des Helden fortwährend sagen: Mit diesem Jungen stimmt etwas nicht.
Sebastian Polmans
Junge
Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 194 Seiten. 17,90 Euro
Dies ist keine realistische
Erzählung, sie hat etwas
Märchenhaftes, Überhöhtes
„Der Junge stellte sich vor, der Großvater hätte seine Position nie verlassen;er hätte bis zu seinem Tod zwischen den Pfosten, die wie die Schranken am Grenzübergang aussahen, gestanden, aus Angst, einen Schuss zu
verpassen, selbst wenn gar nicht
gespielt wurde.“
„Die Frage, wer das Foto in dieser schwindelnden Höhe geschossen haben könnte, stellte er sich nicht. Sein Blick forcierte den Bergsteiger hinter der Schrift, die kaum noch lesbar war, und ohne dass es ihm auffiel, klemmte er den Daumen in seine Fäuste und
betete, dass der Kerl nicht abstürze.“
Fotos: Suhrkamp Verlag
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2012Schweben im All, fuchteln mit den Armen
In seinem düsteren Debütroman "Junge" erzählt Sebastian Polmans von einer Kindheit am Niederrhein - und dem Traum, ihr zu entkommen.
Dieser kurze Roman ist anders als das, was sonst so "vorgelegt" wird. Nichts Lautes, Grelles, Schockierendes, auch nichts Witzelndes. Sondern Stille und Ernst - Unruhe aber schon. Berichtet wird von nur wenigen Tagen in einem August, der rund fünfzehn Jahre zurückliegen dürfte, der Junge, um den es geht, war damals so um die zwölf. Kaum schon Pubertäres - auch dies ist hier nicht der Punkt. Nur einmal - "das Mädchen auf dem Roller, mit den schönen Locken" - blitzt es auf. Räumlich sind wir im Umkreis eines Dorfs am Niederrhein in der Nähe der Grenze zu Holland. Dies Räumliche ist aber kontingent: Das Geschilderte könnte ebenso anderswo sein, es geht um Allgemeineres, nicht um Regionalliteratur.
Erzählt wird in der dritten Person - "der Junge" -, und dies ganz aus dessen Perspektive, nur gelegentlich ein zusätzlicher Blick von außen. Und keine erzählerische Distanz, etwa aus dem Rückblick: Alles wird so erzählt, wie es jetzt ist, im Augenblick des Erzählens selbst. Dieses Erzählen ist, gerade weil es eher locker festgehalten wird, geschickt, unangestrengt kunstvoll. Locker ist der Erzähler auch in seiner Sprache, nicht weit entfernt von der des Jungen. Und der Autor selbst, Jahrgang 1982, ist ja nun wirklich jung, und er schreibt, wie es scheint, aus erster Hand.
"Am Anfang dieses Herzrasen", so lautet der Titel des ersten Abschnitts. Wirklich ist in dem Buch, das kaum Handlung oder gar Action hat, sogleich etwas Unheimliches. Und es wird außerordentlich intensiv und genau, poetisch genau, erzählt. Der Erzähler beschreibt eine seltsame innere Krise. Dabei evoziert er aber immer nur, was er wahrnimmt: Er führt, ohne zu analysieren, einfach vor.
Es beginnt mit dem Feuerwachturm: Der Junge hat die Aufgabe, die Gegend zu beobachten. Eine Waldidylle ist diese übrigens nicht: Da ist die Grenzstraße, da sind Polizisten, und britische Düsenjäger steigen in der Nähe übend auf. In dem Jungen aber, in seiner unruhigen Einsamkeit, ist plötzlich "dieses Gebrüll" oder auch "dieses Rauschen": "Das Rauschen in seinem Kopf drängte vorwärts und wurde lauter. Jetzt schrie er selbst. Aber alles war still." Vorzeitig radelt er nach Hause, aber eigentlich will er gar nicht nach Hause, er gerät in ein Gelände am Flugplatz, dann, am Waldrand, in ein Containerlager für Asylbewerber, erlebt dort Seltsames - er realisiert aber auch von sich aus immer wieder Symptome, die ins Klinische gehen, indem er Dinge wahrnimmt, die nicht sind -, schließlich schaut er noch bei den Großeltern herein, die in demselben Dorf wohnen. Der Großvater ist gerade dabei, Kaninchen zu schlachten, was den Jungen völlig verstört. "Nimm deine Hand weg", sagt er zum Großvater, wie der sie ihm auf die Schulter legt. Der Großvater stirbt einige Tage danach unerwartet - und eigentlich "passiert" hier nur dies.
Aber der Junge ist davon wenig berührt. Näher stand ihm ohnehin die Großmutter, die auch immer wieder "Pass auf dich auf!" sagt. Er ist das einzige Kind. Darunter leidet er, Einsamkeit also. Die frömmelnde Mutter, die aktiv an der Messe teilnimmt, in der sie vorliest, ist ihm fremd, obwohl sie ihn gelegentlich streichelt und matt verteidigt ("Der Junge ist, wie er ist"). Die Messe erfährt er als geradezu feindselig. Der Vater geht im Schützenverein und in seiner Fußballwelt auf, oft ist er auch mehr oder weniger alkoholisiert. Und dann ist da im Dorf noch der undeutliche japanische Freund Hiko, den er zuletzt noch aufsucht, bevor er aufbricht.
Vom Aufbruch aber sagt er auch Hiko nichts. Auch der ist ihm kein wirkliches "Du" (so ist ein Abschnitt sprechend überschrieben). Nur dies ist dem Jungen klar: Er muss weg, sofort und weit weg, bis nach Tokio zumindest. Mit "Tokio" ist auch der letzte Abschnitt überschrieben, der gleichsam auf realistische Weise, auf dem Fahrrad nämlich, ins Irreale geht: "Kurz schloss er die Augen, da packte ihn wieder der Schwindel, und für einen Moment sah er sich schwebend im All, irrsinnig fuchtelnd mit Armen und Beinen, Lichtjahre entfernt von der leuchtenden Weltkugel, die ihm wie ein aufgedunsener, blauer Ballon im Weltraum vorkam." Schließlich stürzt er, bleibt, nur wenig von seinem Dorf entfernt, im Dreck und Regen liegen. Und wieder "schrie er fast, so als läge jemand ganz nah bei ihm, dem er ins Gesicht schreien wollte". Dann wird er still und dreht sich um - "das Gesicht in den Himmel gerichtet. Gleich würde er die Augen öffnen."
So, sehr ergebnislos oder sehr offen, verlieren wir den Jungen aus dem Blick. Am Ende wissen wir nicht einmal, wie er heißt. Es sind in dem Buch einige Fotos. Ihn selbst aber, den Jungen, wie er damals war, zeigt keines. Die Fotos zeigen jedoch, dass Sebastian Polmans, Träger des Jürgen-Ponto-Förderpreises 2011, in diesem Roman von sich selbst erzählt. Gegen Kindheitserinnerungen als solche kann man ja nun nichts sagen. Und in diesem Fall ist der, der sich erinnert, vom Erzählten wahrlich noch nicht weit entfernt. Doch dieser Roman ist ein gutes, ein atmosphärisch intensives Debüt.
HANS-MARTIN GAUGER
Sebastian Polmans: "Junge". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 195 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem düsteren Debütroman "Junge" erzählt Sebastian Polmans von einer Kindheit am Niederrhein - und dem Traum, ihr zu entkommen.
Dieser kurze Roman ist anders als das, was sonst so "vorgelegt" wird. Nichts Lautes, Grelles, Schockierendes, auch nichts Witzelndes. Sondern Stille und Ernst - Unruhe aber schon. Berichtet wird von nur wenigen Tagen in einem August, der rund fünfzehn Jahre zurückliegen dürfte, der Junge, um den es geht, war damals so um die zwölf. Kaum schon Pubertäres - auch dies ist hier nicht der Punkt. Nur einmal - "das Mädchen auf dem Roller, mit den schönen Locken" - blitzt es auf. Räumlich sind wir im Umkreis eines Dorfs am Niederrhein in der Nähe der Grenze zu Holland. Dies Räumliche ist aber kontingent: Das Geschilderte könnte ebenso anderswo sein, es geht um Allgemeineres, nicht um Regionalliteratur.
Erzählt wird in der dritten Person - "der Junge" -, und dies ganz aus dessen Perspektive, nur gelegentlich ein zusätzlicher Blick von außen. Und keine erzählerische Distanz, etwa aus dem Rückblick: Alles wird so erzählt, wie es jetzt ist, im Augenblick des Erzählens selbst. Dieses Erzählen ist, gerade weil es eher locker festgehalten wird, geschickt, unangestrengt kunstvoll. Locker ist der Erzähler auch in seiner Sprache, nicht weit entfernt von der des Jungen. Und der Autor selbst, Jahrgang 1982, ist ja nun wirklich jung, und er schreibt, wie es scheint, aus erster Hand.
"Am Anfang dieses Herzrasen", so lautet der Titel des ersten Abschnitts. Wirklich ist in dem Buch, das kaum Handlung oder gar Action hat, sogleich etwas Unheimliches. Und es wird außerordentlich intensiv und genau, poetisch genau, erzählt. Der Erzähler beschreibt eine seltsame innere Krise. Dabei evoziert er aber immer nur, was er wahrnimmt: Er führt, ohne zu analysieren, einfach vor.
Es beginnt mit dem Feuerwachturm: Der Junge hat die Aufgabe, die Gegend zu beobachten. Eine Waldidylle ist diese übrigens nicht: Da ist die Grenzstraße, da sind Polizisten, und britische Düsenjäger steigen in der Nähe übend auf. In dem Jungen aber, in seiner unruhigen Einsamkeit, ist plötzlich "dieses Gebrüll" oder auch "dieses Rauschen": "Das Rauschen in seinem Kopf drängte vorwärts und wurde lauter. Jetzt schrie er selbst. Aber alles war still." Vorzeitig radelt er nach Hause, aber eigentlich will er gar nicht nach Hause, er gerät in ein Gelände am Flugplatz, dann, am Waldrand, in ein Containerlager für Asylbewerber, erlebt dort Seltsames - er realisiert aber auch von sich aus immer wieder Symptome, die ins Klinische gehen, indem er Dinge wahrnimmt, die nicht sind -, schließlich schaut er noch bei den Großeltern herein, die in demselben Dorf wohnen. Der Großvater ist gerade dabei, Kaninchen zu schlachten, was den Jungen völlig verstört. "Nimm deine Hand weg", sagt er zum Großvater, wie der sie ihm auf die Schulter legt. Der Großvater stirbt einige Tage danach unerwartet - und eigentlich "passiert" hier nur dies.
Aber der Junge ist davon wenig berührt. Näher stand ihm ohnehin die Großmutter, die auch immer wieder "Pass auf dich auf!" sagt. Er ist das einzige Kind. Darunter leidet er, Einsamkeit also. Die frömmelnde Mutter, die aktiv an der Messe teilnimmt, in der sie vorliest, ist ihm fremd, obwohl sie ihn gelegentlich streichelt und matt verteidigt ("Der Junge ist, wie er ist"). Die Messe erfährt er als geradezu feindselig. Der Vater geht im Schützenverein und in seiner Fußballwelt auf, oft ist er auch mehr oder weniger alkoholisiert. Und dann ist da im Dorf noch der undeutliche japanische Freund Hiko, den er zuletzt noch aufsucht, bevor er aufbricht.
Vom Aufbruch aber sagt er auch Hiko nichts. Auch der ist ihm kein wirkliches "Du" (so ist ein Abschnitt sprechend überschrieben). Nur dies ist dem Jungen klar: Er muss weg, sofort und weit weg, bis nach Tokio zumindest. Mit "Tokio" ist auch der letzte Abschnitt überschrieben, der gleichsam auf realistische Weise, auf dem Fahrrad nämlich, ins Irreale geht: "Kurz schloss er die Augen, da packte ihn wieder der Schwindel, und für einen Moment sah er sich schwebend im All, irrsinnig fuchtelnd mit Armen und Beinen, Lichtjahre entfernt von der leuchtenden Weltkugel, die ihm wie ein aufgedunsener, blauer Ballon im Weltraum vorkam." Schließlich stürzt er, bleibt, nur wenig von seinem Dorf entfernt, im Dreck und Regen liegen. Und wieder "schrie er fast, so als läge jemand ganz nah bei ihm, dem er ins Gesicht schreien wollte". Dann wird er still und dreht sich um - "das Gesicht in den Himmel gerichtet. Gleich würde er die Augen öffnen."
So, sehr ergebnislos oder sehr offen, verlieren wir den Jungen aus dem Blick. Am Ende wissen wir nicht einmal, wie er heißt. Es sind in dem Buch einige Fotos. Ihn selbst aber, den Jungen, wie er damals war, zeigt keines. Die Fotos zeigen jedoch, dass Sebastian Polmans, Träger des Jürgen-Ponto-Förderpreises 2011, in diesem Roman von sich selbst erzählt. Gegen Kindheitserinnerungen als solche kann man ja nun nichts sagen. Und in diesem Fall ist der, der sich erinnert, vom Erzählten wahrlich noch nicht weit entfernt. Doch dieser Roman ist ein gutes, ein atmosphärisch intensives Debüt.
HANS-MARTIN GAUGER
Sebastian Polmans: "Junge". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 195 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Als lockendes Versprechen auf mehr nimmt Roman Bucheli den, wie er schreibt, "hochpoetischen" Debütroman von Sebastian Polmans. So karg und gleichsam aus respektvoller Distanz der Autor zwei Tage aus dem Leben eines Jungen zwischen Jugend und Erwachsensein auch schildert, so sehr vermag Bucheli die Empathie des Textes zu spüren, weil es eben jene unangetastete Rätselhaftigkeit ist, die für Bucheli die Situation des Jungen, seine Gefühlswelt, am besten beschreibt. Schwebend erscheint ihm der Text auch, indem der Autor ihn in einem Niemandsland ansiedelt, durch das sich der Held teilnahms- und orientierungslos bewegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Denn es geht darin ja vielmehr um die Konzentration auf eine partikuläre Perspektive - eine radikal subjektivistische Sachlichkeit, könnte man sagen -, die in ihrer Konsequenz und Geduldigkeit ein Kunststück ist. Der verschleierte Blick, der dadurch entsteht, macht schließlich die Augen, die sehen, selbst zum literarischen Thema.« Marie Schmidt DIE ZEIT 20111110