Alles beginnt harmlos mit einem Jungenstreich: Die Studenten Paul und Magnus planen einen Anschlag auf den Medienzar Kudelka während dessen Auftritt an der Universität. Erstaunt, wie gut das gelingt, sind sie gleichzeitig enttäuscht, dass ihre Tat quasi ohne Folgen bleibt. Doch dann geschieht Unerwartetes: Ein Museum voller sprechender Objekte, ein Teelöffel Salz und eine Pizza lassen Pauls Leben komplett aus den Fugen geraten. Er findet sich als Gefangener in einer fremden Wohnung und erfährt, dass Kudelka entführt wurde - und dass er als Hauptverdächtiger gesucht wird. Nun beginnt eine raffinierte und spannende Verfolgungsgeschichte nach Südfrankreich - mit überraschendem Ende.Jens Steiner überzeugt mit einer in leichtem Ton geschriebenen Geschichte, in der er ganz nebenbei die Fragen nach Familienbanden, Freiheit im Handeln, nach Selbst- und Fremdbestimmung stellt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2015Generation Hasenfuß
Charakterlumpen im Wunderland: Jens Steiners philosophische Satire
Die Philosophiestudenten Paul und Magnus gehören zur "Generation der Hasenfüße": Sie lesen in der Vorlesung aus stillem Protest gegen den Bildungsplan Perry Rhodan, räsonieren über Willensfreiheit und Verantwortung, Hoffnung und Weltverachtung und können sich doch selten zu einem präzisen Gedanken oder gar einer politischen Tat aufraffen. Während Magnus sich bei Amnesty International, Jungsozialisten und Fledermausschützern engagiert, hat der "fröhliche Charakterlump" Paul beschlossen, alle Sinngebungsversuche der Geistesgeschichte in sich aufzusaugen, um zu einer "großen Unsinnsgebung auszuholen". Eine Lizenz zum Blödeln, von der Jens Steiner reichlich Gebrauch macht: Schopenhauers Pudel und Loriot-Figuren treten auf, man albert, ein koboldhafter Homunkulus gibt kluge Ratschläge wie "Zurückwollen bringt nie nichts, immer vorwärts, fadengerade!" oder "Was ist, sei dein, was nicht, lass sein".
Der Auftritt des Medientycoons Doktor Kudelka an der Uni reißt die beiden Taugenichtse aus ihrer infantilen Lethargie und animiert sie zu einem "Spiel mit offenen Regeln" in der Tradition der Situationisten und Achtundsechziger. Die Aktion ist ein voller Erfolg: Kudelka wird durch technische Manipulationen als hohler Schwätzer entlarvt, die Störer werden vom Hausmeister abgeführt. Als der Unternehmer wenig später entführt wird, überschlagen sich die Ereignisse. Paul, laut Fernsehsteckbrief ein "junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit", gerät in Verdacht, Kudelka entführt zu haben; womöglich war es aber auch sein Nachbar Klöppel und die Entführung eigentlich eine Befreiung oder eine Familienzusammenführung. Wie auch immer: Getarnt mit falschem Bart, teebraunen Haaren und dem Pass eines gewissen Pablo Escobar, muss Paul von Zürich nach Marseille fliehen, verfolgt von dunklen Mächten und kuriosen Beschützern, darunter eine feurige Spanierin, sinistre Strategiespieler, der altkluge Homunkulus, Würmer, eine Pizza mit wechselnder Auflage und allerlei Schemen, die sich aus Pauls Albträumen oder Hoteltapetenmustern schälen. Identitäten werden verrückt, die Unsinnsgebung wird immer grotesker, aber das macht die Verfolgungsjagd nicht eben spannender. Vielleicht stand ja ein kafkaesker Verschwörungsthriller oder eine Art "Alice im Wunderland" auf Steiners Bildungsplan, aber für einen Krimi ist seine Verkleidungskomödie jedenfalls zu absurd, für eine philosophische Studie zu unseriös und für unschuldigen Nonsens zu verworren.
Das Happy End zieht Steiner wie ein weißes Kaninchen aus Kudelkas Zylinder: Der verhasste Medienzar ist eigentlich ein umgänglicher Mann, wenn nicht Pauls väterliches Über-Ich. Jedenfalls redet er seinem verlorenen Sohn und dessen Generation streng ins Gewissen: Moralisch schwach und "verkümmert", seien sie unfähig, ihre schönen Ideen vom guten, solidarischen Leben zu verwirklichen. Paul lässt sich das nicht zweimal sagen: Er schlägt Kudelka in sanfte Fußfesseln, löst sein Medienimperium auf und lebt in inzestuöser Liebe mit seiner Halbschwester auf Korsika. Von der großen Utopie bleibt nur ein Idyll mit Ziegen und Hühnern übrig; selbst der Vatermord ist für die Generation Hasenfuß ein Kinderspiel ohne Sieger und Verlierer. Aber wer wen indoktriniert, manipuliert und entführt, wie Kudelka, Klöppel und Paul miteinander verwandt sind, spielt letztlich auch keine Rolle mehr. Vielleicht, sinniert Paul am Ende, war die Entführung eigentlich Kudelkas Projekt und "unsere ganze verkümmerte Generation nichts als eine Idee seiner eigenen Generation".
Steiner gelingen immer wieder hübsche Bonmots und skurrile Bilder, aber alles in allem ist sein dritter Roman nur eine konfuse Kreuzung aus Kriminal-, Generationen- und Familienroman, angereichert mit philosophischen Brocken und Schweizer Mediensatire (wenn Kudelka Christoph Blocher ist, wäre sein vorwitziger Sohn Klöppel Roger Köppel). Der manchmal penetrant muntere, leichte Ton passt nicht so recht zum schweren Stoff, und die postmodernen Verkleidungs- und Vexierspiele ermüden bald. In seinem mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten Roman "Carambole" erzählte Steiner zuletzt zwölf Geschichten aus dem Alltag eines Dorfs. Das war zauberhaftes Taschenbillard, elegant über Bande gespielt mit pubertären Sehnsüchten und gescheiterten Hoffnungen: "Nichts passierte. Alles passierte." Der Roman "Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit" hingegen ist ein Spiel, in dem viel passiert, aber es erzählt nichts über die Welt und reißt keinen Hasenfuß aus seiner moralischen Lethargie.
MARTIN HALTER
Jens Steiner: "Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit". Roman.
Dörlemann Verlag, Zürich 2015. 238 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Charakterlumpen im Wunderland: Jens Steiners philosophische Satire
Die Philosophiestudenten Paul und Magnus gehören zur "Generation der Hasenfüße": Sie lesen in der Vorlesung aus stillem Protest gegen den Bildungsplan Perry Rhodan, räsonieren über Willensfreiheit und Verantwortung, Hoffnung und Weltverachtung und können sich doch selten zu einem präzisen Gedanken oder gar einer politischen Tat aufraffen. Während Magnus sich bei Amnesty International, Jungsozialisten und Fledermausschützern engagiert, hat der "fröhliche Charakterlump" Paul beschlossen, alle Sinngebungsversuche der Geistesgeschichte in sich aufzusaugen, um zu einer "großen Unsinnsgebung auszuholen". Eine Lizenz zum Blödeln, von der Jens Steiner reichlich Gebrauch macht: Schopenhauers Pudel und Loriot-Figuren treten auf, man albert, ein koboldhafter Homunkulus gibt kluge Ratschläge wie "Zurückwollen bringt nie nichts, immer vorwärts, fadengerade!" oder "Was ist, sei dein, was nicht, lass sein".
Der Auftritt des Medientycoons Doktor Kudelka an der Uni reißt die beiden Taugenichtse aus ihrer infantilen Lethargie und animiert sie zu einem "Spiel mit offenen Regeln" in der Tradition der Situationisten und Achtundsechziger. Die Aktion ist ein voller Erfolg: Kudelka wird durch technische Manipulationen als hohler Schwätzer entlarvt, die Störer werden vom Hausmeister abgeführt. Als der Unternehmer wenig später entführt wird, überschlagen sich die Ereignisse. Paul, laut Fernsehsteckbrief ein "junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit", gerät in Verdacht, Kudelka entführt zu haben; womöglich war es aber auch sein Nachbar Klöppel und die Entführung eigentlich eine Befreiung oder eine Familienzusammenführung. Wie auch immer: Getarnt mit falschem Bart, teebraunen Haaren und dem Pass eines gewissen Pablo Escobar, muss Paul von Zürich nach Marseille fliehen, verfolgt von dunklen Mächten und kuriosen Beschützern, darunter eine feurige Spanierin, sinistre Strategiespieler, der altkluge Homunkulus, Würmer, eine Pizza mit wechselnder Auflage und allerlei Schemen, die sich aus Pauls Albträumen oder Hoteltapetenmustern schälen. Identitäten werden verrückt, die Unsinnsgebung wird immer grotesker, aber das macht die Verfolgungsjagd nicht eben spannender. Vielleicht stand ja ein kafkaesker Verschwörungsthriller oder eine Art "Alice im Wunderland" auf Steiners Bildungsplan, aber für einen Krimi ist seine Verkleidungskomödie jedenfalls zu absurd, für eine philosophische Studie zu unseriös und für unschuldigen Nonsens zu verworren.
Das Happy End zieht Steiner wie ein weißes Kaninchen aus Kudelkas Zylinder: Der verhasste Medienzar ist eigentlich ein umgänglicher Mann, wenn nicht Pauls väterliches Über-Ich. Jedenfalls redet er seinem verlorenen Sohn und dessen Generation streng ins Gewissen: Moralisch schwach und "verkümmert", seien sie unfähig, ihre schönen Ideen vom guten, solidarischen Leben zu verwirklichen. Paul lässt sich das nicht zweimal sagen: Er schlägt Kudelka in sanfte Fußfesseln, löst sein Medienimperium auf und lebt in inzestuöser Liebe mit seiner Halbschwester auf Korsika. Von der großen Utopie bleibt nur ein Idyll mit Ziegen und Hühnern übrig; selbst der Vatermord ist für die Generation Hasenfuß ein Kinderspiel ohne Sieger und Verlierer. Aber wer wen indoktriniert, manipuliert und entführt, wie Kudelka, Klöppel und Paul miteinander verwandt sind, spielt letztlich auch keine Rolle mehr. Vielleicht, sinniert Paul am Ende, war die Entführung eigentlich Kudelkas Projekt und "unsere ganze verkümmerte Generation nichts als eine Idee seiner eigenen Generation".
Steiner gelingen immer wieder hübsche Bonmots und skurrile Bilder, aber alles in allem ist sein dritter Roman nur eine konfuse Kreuzung aus Kriminal-, Generationen- und Familienroman, angereichert mit philosophischen Brocken und Schweizer Mediensatire (wenn Kudelka Christoph Blocher ist, wäre sein vorwitziger Sohn Klöppel Roger Köppel). Der manchmal penetrant muntere, leichte Ton passt nicht so recht zum schweren Stoff, und die postmodernen Verkleidungs- und Vexierspiele ermüden bald. In seinem mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten Roman "Carambole" erzählte Steiner zuletzt zwölf Geschichten aus dem Alltag eines Dorfs. Das war zauberhaftes Taschenbillard, elegant über Bande gespielt mit pubertären Sehnsüchten und gescheiterten Hoffnungen: "Nichts passierte. Alles passierte." Der Roman "Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit" hingegen ist ein Spiel, in dem viel passiert, aber es erzählt nichts über die Welt und reißt keinen Hasenfuß aus seiner moralischen Lethargie.
MARTIN HALTER
Jens Steiner: "Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit". Roman.
Dörlemann Verlag, Zürich 2015. 238 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Eigentlich hört sich das alles nach einem Krimi an oder einem Roadmovie - aber das würde dem Buch nicht gerecht werden. Denn Steiner schafft es wunderbar leicht und mit großer sprachlichen Geschicklichkeit, die verschiedenen Genres zusammenzubringen, ohne dem Liebesgeschichtenhasser den Lesegenuss zu nehmen oder dem philosophisch Unbefleckten Fragezeichen aufs Gesicht zu zaubern - und so viele andere Bereiche mehr. - Ein lesenswertes Buch und darum gerne empfohlen.«
Jutta Weber, Buchprofile/Medienprofile
»Paul ist bemüht, das Leben und die Mechanismen der Gesellschaft zu verstehen, er wägt Freiheit und Unfreiheiten ab - und das alles in einem ziemlich verwickelten Roman, der den Leser manchmal genau so an der Nase herumführt wie den Helden.«
Petra Lohrmann, Gute Literatur - Meine Empfehlung
»Was Jens Steiner hier komponiert, ist ein philosophischer, fast kafkaesk anmutender Roman, in dem sich Protagonist und Leser gleichermaßen fragen, was Schein oder Sein ist.«
Regine Mitternacht, ekz.bibliotheksservice
»Der sprachbewusste Zürcher Autor hat ... ein Flair für realitätsnahe Anspielungen nicht nur im Bereich der Medienwelt und für unverhohlene Gewissheiten, die wohl kaum leicht(fertig) einzugestehen sind«
Roland Erne, Doppelpunkt
»... die Geschichte gerät zu einem literarischen Verwirrspiel, zur kafkaesken Verfolgungsjagd.«
Denise Bucher, Züritipp
Jutta Weber, Buchprofile/Medienprofile
»Paul ist bemüht, das Leben und die Mechanismen der Gesellschaft zu verstehen, er wägt Freiheit und Unfreiheiten ab - und das alles in einem ziemlich verwickelten Roman, der den Leser manchmal genau so an der Nase herumführt wie den Helden.«
Petra Lohrmann, Gute Literatur - Meine Empfehlung
»Was Jens Steiner hier komponiert, ist ein philosophischer, fast kafkaesk anmutender Roman, in dem sich Protagonist und Leser gleichermaßen fragen, was Schein oder Sein ist.«
Regine Mitternacht, ekz.bibliotheksservice
»Der sprachbewusste Zürcher Autor hat ... ein Flair für realitätsnahe Anspielungen nicht nur im Bereich der Medienwelt und für unverhohlene Gewissheiten, die wohl kaum leicht(fertig) einzugestehen sind«
Roland Erne, Doppelpunkt
»... die Geschichte gerät zu einem literarischen Verwirrspiel, zur kafkaesken Verfolgungsjagd.«
Denise Bucher, Züritipp