Ein Sommermorgen, das leichte, noch ungläubige Erwachen am ersten Tag der Ferien. Während die Mutter und die kleine Schwester nach Norddeutschland ans Meer fahren, muß der zwölfjährige Julian Collien mit dem Vater allein zu Hause bleiben - das Geld reicht nicht für einen gemeinsamen Urlaub.
Julian vertreibt sich die Langeweile der endlosen Tage im "Tierclub" und in den Weizenfeldern am Rand der Kohlehalden. In den einsamen Stunden, während der Vater Nachtschicht hat, sieht er sich den Zudringlichkeiten des Hausbesitzers ausgesetzt und erlebt gleichzeitig die erste erotische Faszination für Marusha, das Nachbarsmädchen, dessen Zimmer an den Balkon der Familie grenzt. Aber nicht nur Julian ist von der Frühreifen angezogen, auch sein Vater scheint es zu sein.
Die Welt gerät aus den Fugen, als eines Nachts für ihn unverständliche Dinge geschehen, in deren Folge die Familie aus der Wohnung ausziehen muß. Julian, ein sensibler Junge, der oft genug Opfer seiner eigenen Phantasie wird, gl, daran schuld zu sein.
Ralf Rothmann erzählt in der ihm eigenen, eindringlichen Sprache von den letzten Wochen der Kindheit, ihren leisen Schrecken und dem erhellenden Trost: "Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie."
Julian vertreibt sich die Langeweile der endlosen Tage im "Tierclub" und in den Weizenfeldern am Rand der Kohlehalden. In den einsamen Stunden, während der Vater Nachtschicht hat, sieht er sich den Zudringlichkeiten des Hausbesitzers ausgesetzt und erlebt gleichzeitig die erste erotische Faszination für Marusha, das Nachbarsmädchen, dessen Zimmer an den Balkon der Familie grenzt. Aber nicht nur Julian ist von der Frühreifen angezogen, auch sein Vater scheint es zu sein.
Die Welt gerät aus den Fugen, als eines Nachts für ihn unverständliche Dinge geschehen, in deren Folge die Familie aus der Wohnung ausziehen muß. Julian, ein sensibler Junge, der oft genug Opfer seiner eigenen Phantasie wird, gl, daran schuld zu sein.
Ralf Rothmann erzählt in der ihm eigenen, eindringlichen Sprache von den letzten Wochen der Kindheit, ihren leisen Schrecken und dem erhellenden Trost: "Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2004Junges Licht
Mit zarten Krallen: Ralf Rothmanns neuer Roman als Vorabdruck in der F.A.Z.
Ralf Rothmann ist auf dem besten Wege, zu einem Klassiker der deutschen Gegenwartsliteratur zu werden. Wie kein anderer Autor seiner Generation, der um 1950 Geborenen, versteht er es, eine bestimmte Region und die in ihr vorherrschende Mentalität einzufangen. Rothmanns Terrain ist das Ruhrgebiet der Bergarbeiter und kleinen Leute. Aber noch wichtiger ist ihm ein Thema, das an keinen Ort und keine Zeit gebunden ist: Es ist das Ende der Kindheit, jene flimmernde, sich scheinbar endlos dehnende Phase des Übergangs, die doch im Handumdrehn vorüber ist. Rothmann beschreibt sie immer wieder mit unvergleichlicher Intensität. In den Schilderungen eines vor Leere und Langeweile schier berstenden Sonntagnachmittags erweist sich ein Meister zärtlicher Melancholie.
Ein gutes Dutzend Bücher umfaßt Rothmanns Werk nun, angefangen mit dem Gedichtband "Kratzer" aus dem Jahr 1984, über die frühen Ruhrgebietsromane "Stier" (1991) und "Wäldernacht" (1994) bis zu den späteren, in Berlin spielenden Romanen "Milch und Kohle" (2000) und "Hitze" (2003). In seinem jüngsten Roman "Junges Licht", mit dessen Vorabdruck wir heute beginnen, kehrt Rothmann, der 1953 in Oberhausen als Sohn eines Bergmanns geboren wurde und seit 1976 in Berlin wohnt, ins Ruhrgebiet zurück. Julian, der Ich-Erzähler, zwölf, fast schon dreizehn Jahre alt, lebt mit seinen Eltern und der kleinen Schwester Sophie im ersten Stock eines Bergmannshäuschens. Der Vermieter Gorny, ein Kumpel wie Julians Vater, wohnt im Erdgeschoß, seine Stieftochter Marusha, eine fünfzehnjährige Ruhrpott-Lolita, hat ein Zimmer auf Julians Etage und stattet den Mietern gern überraschende Besuche ab, mit Vorliebe dann, wenn Julian allein zu Hause ist. Aber Marushas Blicken, ihren lackierten Zehennägeln und schnoddrigen Bemerkungen ist Julian noch lange nicht gewachsen.
Es liegt aber nicht nur an der zielstrebigen Kindfrau, wenn das kleine verdruckste Reihenhäuschen vom Keller bis zum Dachboden vor erwachender oder unterdrückter Sexualität vibriert. Der undurchsichtige Vermieter Gorny, Julians Vater, der gewissenhafte Rutschenmeister, der nicht gern über seine Kriegserlebnisse spricht, die gern und ausdauernd prügelnde Mutter des Ich-Erzählers, die mit geschminkten Lippen im Unterrock durch die Wohnküche stöckelt, die Zigarette im Mundwinkel - sie alle haben Sehnsüchte, Sorgen, Träume und Ängste, von denen Julian nichts weiß, aber vieles spürt.
Wie viele Figuren Rothmanns ist auch Julian ein Einzelgänger, der durch Stadtrandlandschaften in Essen, Oberhausen oder Duisburg streift, wo auf Trümmergrundstücken Stadtstreicher in Baracken hausen, herrenlose Promenadenmischungen herumstreunen und die Jungen der Nachbarschaft sich zusammenrotten und als "Kleekamp-Bande" die Gegend unsicher machen. Was nach harmlosen Streichen klingt, kann unversehens und ohne jede Vorwarnung in nackte Gewalt umkippen. Auch darin zeigt sich Rothmanns großes Können: Julians Naivität und Kindlichkeit siedeln so dicht neben der Welt der Erwachsenen mit all ihrer Gewalt und Niedertracht, ihren Härten und Enttäuschungen, daß ein winziger Schritt genügt, um vom vermeintlichen Paradies in die vermeintliche Hölle zu geraten. Daß er selbst schon dort angelangt ist, wo er die anderen, die Erwachsenen, vermutet, muß der Ministrant Julian erfahren, als er stellvertretend für einen anderen dessen Sünden beichten will.
Die Katastrophe, auf die dieses Buch von der ersten Seite an zusteuert, bleibt nicht aus. Nicht unter und nicht über Tage. Denn während Julian erleben muß, wie seine kleine Familie und ihre Welt im Verlauf der Sommerferien in sich zusammenfällt wie ein Kartenhaus, geschieht unter Tage ein Grubenunglück. In sparsam in die Handlung eingestreuten Passsagen wunderbarer Prosa erscheint die Welt der Stollen und Flöze tausend Meter unter der Oberfläche jedoch nicht als Ort dreckiger Maloche, sondern als Stätte des Mysteriums und der Poesie. Und so klingt es, wenn Ralf Rothmann beschreibt, wie ein Bergmann den Abdruck eines prähistorischen Vogels in der Kohle findet, der zu feinstem Staub zerfällt, als er mit Sauerstoff in Berührung kommt: "Doch einen Moment hatte er etwas von der Kontur gefühlt, den zarten Krallen und einen leisen Schreck bekommen - ähnlich dem, der einen durchfährt, wenn man mit den Fingerspitzen über die Rückseite eines Briefes streicht und dabei noch die Hand, ihren Druck, eines längst Verstorbenen fühlt."
HUBERT SPIEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit zarten Krallen: Ralf Rothmanns neuer Roman als Vorabdruck in der F.A.Z.
Ralf Rothmann ist auf dem besten Wege, zu einem Klassiker der deutschen Gegenwartsliteratur zu werden. Wie kein anderer Autor seiner Generation, der um 1950 Geborenen, versteht er es, eine bestimmte Region und die in ihr vorherrschende Mentalität einzufangen. Rothmanns Terrain ist das Ruhrgebiet der Bergarbeiter und kleinen Leute. Aber noch wichtiger ist ihm ein Thema, das an keinen Ort und keine Zeit gebunden ist: Es ist das Ende der Kindheit, jene flimmernde, sich scheinbar endlos dehnende Phase des Übergangs, die doch im Handumdrehn vorüber ist. Rothmann beschreibt sie immer wieder mit unvergleichlicher Intensität. In den Schilderungen eines vor Leere und Langeweile schier berstenden Sonntagnachmittags erweist sich ein Meister zärtlicher Melancholie.
Ein gutes Dutzend Bücher umfaßt Rothmanns Werk nun, angefangen mit dem Gedichtband "Kratzer" aus dem Jahr 1984, über die frühen Ruhrgebietsromane "Stier" (1991) und "Wäldernacht" (1994) bis zu den späteren, in Berlin spielenden Romanen "Milch und Kohle" (2000) und "Hitze" (2003). In seinem jüngsten Roman "Junges Licht", mit dessen Vorabdruck wir heute beginnen, kehrt Rothmann, der 1953 in Oberhausen als Sohn eines Bergmanns geboren wurde und seit 1976 in Berlin wohnt, ins Ruhrgebiet zurück. Julian, der Ich-Erzähler, zwölf, fast schon dreizehn Jahre alt, lebt mit seinen Eltern und der kleinen Schwester Sophie im ersten Stock eines Bergmannshäuschens. Der Vermieter Gorny, ein Kumpel wie Julians Vater, wohnt im Erdgeschoß, seine Stieftochter Marusha, eine fünfzehnjährige Ruhrpott-Lolita, hat ein Zimmer auf Julians Etage und stattet den Mietern gern überraschende Besuche ab, mit Vorliebe dann, wenn Julian allein zu Hause ist. Aber Marushas Blicken, ihren lackierten Zehennägeln und schnoddrigen Bemerkungen ist Julian noch lange nicht gewachsen.
Es liegt aber nicht nur an der zielstrebigen Kindfrau, wenn das kleine verdruckste Reihenhäuschen vom Keller bis zum Dachboden vor erwachender oder unterdrückter Sexualität vibriert. Der undurchsichtige Vermieter Gorny, Julians Vater, der gewissenhafte Rutschenmeister, der nicht gern über seine Kriegserlebnisse spricht, die gern und ausdauernd prügelnde Mutter des Ich-Erzählers, die mit geschminkten Lippen im Unterrock durch die Wohnküche stöckelt, die Zigarette im Mundwinkel - sie alle haben Sehnsüchte, Sorgen, Träume und Ängste, von denen Julian nichts weiß, aber vieles spürt.
Wie viele Figuren Rothmanns ist auch Julian ein Einzelgänger, der durch Stadtrandlandschaften in Essen, Oberhausen oder Duisburg streift, wo auf Trümmergrundstücken Stadtstreicher in Baracken hausen, herrenlose Promenadenmischungen herumstreunen und die Jungen der Nachbarschaft sich zusammenrotten und als "Kleekamp-Bande" die Gegend unsicher machen. Was nach harmlosen Streichen klingt, kann unversehens und ohne jede Vorwarnung in nackte Gewalt umkippen. Auch darin zeigt sich Rothmanns großes Können: Julians Naivität und Kindlichkeit siedeln so dicht neben der Welt der Erwachsenen mit all ihrer Gewalt und Niedertracht, ihren Härten und Enttäuschungen, daß ein winziger Schritt genügt, um vom vermeintlichen Paradies in die vermeintliche Hölle zu geraten. Daß er selbst schon dort angelangt ist, wo er die anderen, die Erwachsenen, vermutet, muß der Ministrant Julian erfahren, als er stellvertretend für einen anderen dessen Sünden beichten will.
Die Katastrophe, auf die dieses Buch von der ersten Seite an zusteuert, bleibt nicht aus. Nicht unter und nicht über Tage. Denn während Julian erleben muß, wie seine kleine Familie und ihre Welt im Verlauf der Sommerferien in sich zusammenfällt wie ein Kartenhaus, geschieht unter Tage ein Grubenunglück. In sparsam in die Handlung eingestreuten Passsagen wunderbarer Prosa erscheint die Welt der Stollen und Flöze tausend Meter unter der Oberfläche jedoch nicht als Ort dreckiger Maloche, sondern als Stätte des Mysteriums und der Poesie. Und so klingt es, wenn Ralf Rothmann beschreibt, wie ein Bergmann den Abdruck eines prähistorischen Vogels in der Kohle findet, der zu feinstem Staub zerfällt, als er mit Sauerstoff in Berührung kommt: "Doch einen Moment hatte er etwas von der Kontur gefühlt, den zarten Krallen und einen leisen Schreck bekommen - ähnlich dem, der einen durchfährt, wenn man mit den Fingerspitzen über die Rückseite eines Briefes streicht und dabei noch die Hand, ihren Druck, eines längst Verstorbenen fühlt."
HUBERT SPIEGEL
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Subtil und äußerst feinsinnig gebaut findet Rezensent Kolja Mensing diesen Roman, die versunkene Welt des Bergbaus samt seinem eigentümlichen Vokabular beschwöre. Ralf Rothmann habe mit diesem autobiografisch gefärbten Buch seine Ruhrgebietstrilogie jetzt um einen vierten Band erweitert. Es sind Momentaufnahmen, aus denen sich das Bild einer westdeutschen Bergarbeitersiedlung Mitte der sechziger Jahre zusammensetzt, die auf eine Katastrophe zusteuert. Erzählt wird die Geschichte um eine Jugend im Pott, uneingestandene Begierden, Gewalt und Niedertracht raus der Sicht eines zwölfjährigen Bergarbeitersohns, so Mensing, dem vor allem die "unvergleichliche Intensität" von Rothmanns Erzählkunst imponiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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