Läßt sich erotische Annäherung auch im Sinn einer Asymptote vollziehen? Lothar erforscht das gemeinsame Werk des Theologen Hans Urs von Balthasar und seiner legendären Amica, der Ärztin und Mystikerin Adrienne von Speyr. Er glaubt sich einem unglaublichen Liebesdrama auf der Spur. Und Lothar selbst, ein von den Theaterwissenschaften zur katholischen Theologie sowie zu sexueller Enthaltsamkeit konvertierter Student, gerät zunehmend in Gewissenskonflikte mit seiner hoch und heilig gelobten Haltung: Das Charisma der Klavierspielerin Mary Lou stellt ihn vor Versuchung und Versagung. Wie in Tomboy entwickelt das Diskursnetz in Jungfrau ein burleskes Eigenleben. Hollywoods B-Film-Ikone Maria Montez sowie ihr Wiedergänger Mario Montez sind darin ebenso verstrickt wie Clemens Brentano, der jahrelang Visionen einer stigmatisierten Nonne protokollierte, Ronald Tavel, Begründer des Theatre of the Ridiculous, der Camp-Filmer Jack Smith oder die Jazzpianistin Jutta Hipp. Thomas Meinecke ist mit einem popistischen Zugang zum Katholischen gesegnet. In seinem neuen Roman begibt er sich auf extravagante Pfade des Glaubens: Polyphon geht es que(e)r durch die Jahrhunderte, campy und kinky.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2008Ist es egal, wer liest?
Thomas Meinecke kodiert wieder / Von Tobias Rüther
Nach zweihundert Seiten im neuen Roman von Thomas Meinecke, "Jungfrau", ist man so weit, selbst eine Scheibe Mortadella für überdeterminiert zu halten. Da nämlich schmiert eine Jazzmusikerin namens Mary-Lou dem Theologiestudenten Lothar Lothar ein Brot und belegt es mit "einer Scheibe italienischer Mortadella" - was eine "noch nie dagewesene, auf beunruhigende Weise alltägliche und darin eben zugleich extrem intime Situation" sei. Man streicht diese Stelle an, beschließt, "Mortadella" zu googeln, reimt sich im Stillen aber schon die Indizien zusammen: irgendwas mit Tod (morta), irgendwie weiblich (della) und dann noch aus Fleisch und womöglich katholisch (Italien). Das kann in diesem Körperpolitikroman, dem gefühlt dreiundzwanzigsten, den Thomas Meinecke seit "Tomboy" von 1998 geschrieben hat, nur ein weiterer Baustein im hochkomplexen Diskurssystem sein, das sich der Schriftsteller abermals für ein Buch erdacht hat.
Die Suche im Internet führt nicht weiter, kein Wortspiel, keine Metapher, kein Code - und doch kommen einem die vorgefundenen Erklärungen, die Mortadella sei "eine italienische Wurstspezialität", sehr bekannt vor: In so hölzernen Synonymen spricht eben auch Meineckes neuer Roman "Jungfrau" oft, und genauso taten es schon die anderen davor: "Tomboy" also, dann "Hellblau" von 2001, schließlich "Musik" von 2004 - allesamt waren das Operationen am offenen Wort: Was ist ihm und damit uns, Achtung Seminarton, eingeschrieben?
Bei Meinecke wird, was sonst Füllmaterial einer Handlung wäre, nicht einfach so beim Namen genannt, sondern umschrieben. Oder besser: Ihnen wird etwas zugeschrieben. Im neuen Buch passiert das zum Beispiel dem "kalifornischen Kettencafé", von dem ungefähr jeder weiß, wie es heißt. Meinecke aber erforscht, wovon wir reden, wenn wir reden, er prüft, wie die gewählten Etiketten - Kettencafé, Schulmädchen, Jungfrau - die Welt formen, in der wir leben, und wie sie zugleich Macht über diese Welt ausüben. Es dreht sich alles um die Gemachtheit der Sprache, und deswegen wird kein stinknormaler plot erzählt, den man frei nacherzählen könnte, sondern ein sprachliches Verfahren durchgespielt.
Aber selbst wenn man mit der nicht gerade brandneuen Erkenntnis einverstanden ist, dass es ein Machtverhältnis zwischen Sprache und Welt gibt, und absolut dafür ist, über diesen Komplex, wo es nur geht, auch zu sprechen - irgendwann schwirrt einem doch der Kopf davon. Ungefähr ab Seite zweihundert. Spätestens bei der italienischen Mortadella, die einem nicht Wurst sein kann, weil sie eben auch etwas ganz anderes bedeuten könnte. Nichts geschieht zufällig in "Jungfrau".
Das klingt idiotisch, weil dieser Roman wie jeder andere auch ausgedacht ist. Aber die meiste Zeit fühlt man sich eben auch wie ein Idiot, wenn man ein Buch von Thomas Meinecke liest. Weil einem wieder und wieder eine Dimension entgeht, eine Referenz unklar ist, die Detailkenntnis fehlt. Das ist auf Dauer ungeheuer frustrierend. Der ideale Leser von "Jungfrau" ist wohl nur der Autor selbst. Der kann es gar nicht wollen, aber er erzeugt doch ein unangenehmes Machtverhältnis zwischen seinem Buch und denen, die es schließlich in den Händen halten und zu kapieren versuchen. Ein Lektüregefälle, ein Unterlegenheitsverdacht. Und ausgerechnet Meinecke zu verdächtigen, über Herrschaftswissen zu verfügen, wo der doch Machtverhältnisse und Sozialkontrolle beschreibt, gibt einem schon wieder das Gefühl, selbst das Problem zu sein.
Wenn Meinecke, Jahrgang 1955, nebenher noch Musiker und DJ, seine Figuren in Konstellationen packt, sind das immer symbolische Ordnungen: Lothar, der zölibatäre Theologiestudent, "saß beim Kaffee, in Betrachtung einer von Mary-Lou am Tag nach dem Tod des Schlagzeugers Max Roach verfassten Postkarte, mit einer emotionalen Anspielung an das gemeinsame Studium des Max Roach gewidmeten Heftes der Zeitschrift Du, aufgegeben in Barcelona, wo sie mit ihrem Trio, als Höhe- und Scheitelpunkt der laufenden Tournee, ein mehrtägiges lukratives Gastspiel in einem fancy Restaurant absolvierte. Als Motiv präsentierte die Karte Juan de la Cruz mit geschultertem Kruzifix." Ein typisches Zitat, das alles versammelt, was "Jungfrau", bitte noch mal alle kurz festhalten, verhandelt: Musik, Amerika, Medien, Zitat, katholischer Poststrukturalismus, Schrift.
Thomas Meineckes Romane erzählen von Körpern, haben aber nicht deren Temperatur. Zur sozialen Welt, deren Normierungen der Autor beschreibt, stehen sie selbst nicht in Spannung. Vielleicht ist der Roman der letzte und einzige Ort, Körper zur Sprache zu bringen. Dieses neue Buch aber wirkt, als würde es sich nicht für seine Leser interessieren.
Thomas Meinecke: "Jungfrau". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 346 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Meinecke kodiert wieder / Von Tobias Rüther
Nach zweihundert Seiten im neuen Roman von Thomas Meinecke, "Jungfrau", ist man so weit, selbst eine Scheibe Mortadella für überdeterminiert zu halten. Da nämlich schmiert eine Jazzmusikerin namens Mary-Lou dem Theologiestudenten Lothar Lothar ein Brot und belegt es mit "einer Scheibe italienischer Mortadella" - was eine "noch nie dagewesene, auf beunruhigende Weise alltägliche und darin eben zugleich extrem intime Situation" sei. Man streicht diese Stelle an, beschließt, "Mortadella" zu googeln, reimt sich im Stillen aber schon die Indizien zusammen: irgendwas mit Tod (morta), irgendwie weiblich (della) und dann noch aus Fleisch und womöglich katholisch (Italien). Das kann in diesem Körperpolitikroman, dem gefühlt dreiundzwanzigsten, den Thomas Meinecke seit "Tomboy" von 1998 geschrieben hat, nur ein weiterer Baustein im hochkomplexen Diskurssystem sein, das sich der Schriftsteller abermals für ein Buch erdacht hat.
Die Suche im Internet führt nicht weiter, kein Wortspiel, keine Metapher, kein Code - und doch kommen einem die vorgefundenen Erklärungen, die Mortadella sei "eine italienische Wurstspezialität", sehr bekannt vor: In so hölzernen Synonymen spricht eben auch Meineckes neuer Roman "Jungfrau" oft, und genauso taten es schon die anderen davor: "Tomboy" also, dann "Hellblau" von 2001, schließlich "Musik" von 2004 - allesamt waren das Operationen am offenen Wort: Was ist ihm und damit uns, Achtung Seminarton, eingeschrieben?
Bei Meinecke wird, was sonst Füllmaterial einer Handlung wäre, nicht einfach so beim Namen genannt, sondern umschrieben. Oder besser: Ihnen wird etwas zugeschrieben. Im neuen Buch passiert das zum Beispiel dem "kalifornischen Kettencafé", von dem ungefähr jeder weiß, wie es heißt. Meinecke aber erforscht, wovon wir reden, wenn wir reden, er prüft, wie die gewählten Etiketten - Kettencafé, Schulmädchen, Jungfrau - die Welt formen, in der wir leben, und wie sie zugleich Macht über diese Welt ausüben. Es dreht sich alles um die Gemachtheit der Sprache, und deswegen wird kein stinknormaler plot erzählt, den man frei nacherzählen könnte, sondern ein sprachliches Verfahren durchgespielt.
Aber selbst wenn man mit der nicht gerade brandneuen Erkenntnis einverstanden ist, dass es ein Machtverhältnis zwischen Sprache und Welt gibt, und absolut dafür ist, über diesen Komplex, wo es nur geht, auch zu sprechen - irgendwann schwirrt einem doch der Kopf davon. Ungefähr ab Seite zweihundert. Spätestens bei der italienischen Mortadella, die einem nicht Wurst sein kann, weil sie eben auch etwas ganz anderes bedeuten könnte. Nichts geschieht zufällig in "Jungfrau".
Das klingt idiotisch, weil dieser Roman wie jeder andere auch ausgedacht ist. Aber die meiste Zeit fühlt man sich eben auch wie ein Idiot, wenn man ein Buch von Thomas Meinecke liest. Weil einem wieder und wieder eine Dimension entgeht, eine Referenz unklar ist, die Detailkenntnis fehlt. Das ist auf Dauer ungeheuer frustrierend. Der ideale Leser von "Jungfrau" ist wohl nur der Autor selbst. Der kann es gar nicht wollen, aber er erzeugt doch ein unangenehmes Machtverhältnis zwischen seinem Buch und denen, die es schließlich in den Händen halten und zu kapieren versuchen. Ein Lektüregefälle, ein Unterlegenheitsverdacht. Und ausgerechnet Meinecke zu verdächtigen, über Herrschaftswissen zu verfügen, wo der doch Machtverhältnisse und Sozialkontrolle beschreibt, gibt einem schon wieder das Gefühl, selbst das Problem zu sein.
Wenn Meinecke, Jahrgang 1955, nebenher noch Musiker und DJ, seine Figuren in Konstellationen packt, sind das immer symbolische Ordnungen: Lothar, der zölibatäre Theologiestudent, "saß beim Kaffee, in Betrachtung einer von Mary-Lou am Tag nach dem Tod des Schlagzeugers Max Roach verfassten Postkarte, mit einer emotionalen Anspielung an das gemeinsame Studium des Max Roach gewidmeten Heftes der Zeitschrift Du, aufgegeben in Barcelona, wo sie mit ihrem Trio, als Höhe- und Scheitelpunkt der laufenden Tournee, ein mehrtägiges lukratives Gastspiel in einem fancy Restaurant absolvierte. Als Motiv präsentierte die Karte Juan de la Cruz mit geschultertem Kruzifix." Ein typisches Zitat, das alles versammelt, was "Jungfrau", bitte noch mal alle kurz festhalten, verhandelt: Musik, Amerika, Medien, Zitat, katholischer Poststrukturalismus, Schrift.
Thomas Meineckes Romane erzählen von Körpern, haben aber nicht deren Temperatur. Zur sozialen Welt, deren Normierungen der Autor beschreibt, stehen sie selbst nicht in Spannung. Vielleicht ist der Roman der letzte und einzige Ort, Körper zur Sprache zu bringen. Dieses neue Buch aber wirkt, als würde es sich nicht für seine Leser interessieren.
Thomas Meinecke: "Jungfrau". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 346 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Nicht unspannend, aber beileibe kein ungetrübtes Vergnügen ist dieser neue Roman von Thomas Meinecke aus Sicht von Rezensentin Susanne Messmer, die für die Lektüre einen Internetzugang zwecks Googelns unerlässlich findet. Denn der Roman, dem sie das Etikett "Diskursroman" verpasst, sei ein "sortierter, hochkomplizierter Zettelkasten", der Plot spindeldürr, die Figuren totenblass. Umso "lüsterner" werfe man sich auf das bisschen Handlung, die Hauptfigur mit dem albernen Namen "Lothar Lothar", der kaum, dass er sich fürs Zölibat entschieden hat, auf die laszive Musikerin Mary Lou trifft, und ihr gegenseitiges Begehren durch die Enthaltsamkeit immer stärker wird. An dieser Geschichte nun handele Meinecke die "Konstruiertheit kultureller Selbstverständlichkeiten" wie Sprache und Geschlecht ab. Irgendwann hat sie sich an Meineckes dauerndes Textbrodeln gewöhnt und ist selbst erstaunt, bis zum Ende des Buchs "bei der Stange" geblieben zu sein. Doch zum ersten Mal lasse Meinecke durchblicken, wie er Geschichten erzählen würde, würde er sie denn erzählen wollen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Mit Jungfrau hat Meinecke, überzeugender noch als in früheren Büchern, einen popkulturellen Arbeitsraum aufgemacht, in dem man sich mit sinnlichem Vergnügen und intellektuellem Gewinn tummelt. Aber was heißt hier 'popkulturell'? Abelaerd und Héloise, Benedikt XVI., Jutta Hipp und Paul Claudel? ... Pop ist, ... was Meineckes Methode aus ihnen macht.«
Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung
Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung