Die Königin kommt. Und das Dorf im nördlichsten Zipfel der Niederlande steht kopf. Mitten drin im Trubel dieses Junitages 1969 ist die Familie Kaan. Zwei der Söhne schwenken Fähnchen vor dem Gemeindehaus, und der kleinen Tochter auf dem Arm ihrer Mutter Anna streicht Königin Juliana höchstpersönlich über die Wange.Vierzig Jahre später ist es ruhig geworden auf dem Hof der Kaans. Drei Generationen leben jetzt dort, das alte Bauernpaar, Sohn Klaas und seine Familie. Aber Vieh gibt es außer dem Stier und dem Hofhund keines mehr. Und daß Altbäuerin Anna sich regelmäßig mit einer Flasche Eierlikör und ihrer Seelenlast im Gepäck auf den Heuboden zurückzieht - wo ihr lediglich der stoisch kauende Stier Gesellschaft leisten darf -, wird von der Hofgemeinschaft stillschweigend akzeptiert. Nur die fünfjährige Dieke wundert sich. Was vor vierzig Jahren dem Leben ihrer Familie eine völlig andere Richtung gegeben hat, offenbart sich dem Leser erst nach und nach.In Juni erzählt Gerbrand Bakkervon einem Dorf, einem Hof, einem tragischen Unfall, vor allem aber von einer Familie, deren Mitglieder alle auf ihre Weise versuchen, mit der Erinnerung umzugehen. So wortkarg wie wortstark tut er dies, in der lakonischen, berührenden Sprache, die schon Oben ist es still auszeichnet, seinen erfolgreichen Debütroman - »ein ganz großes Vergnügen« (Spiegel Online).
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2010Der Tag, an dem die Königin kam
Chronist hohler Mittelmäßigkeit: Der Niederländer Gerbrand Bakker
Womöglich ist es einfach die Landschaft, aus der sich die Antworten ablesen lassen auf die großen Fragen des Lebens. "Hügel hinter Hügel und breite Täler", schrieb Georg Büchner mit Blick auf die Umgebung in seinem berühmten Fatalismus-Brief und zog sogleich den weltanschaulichen Schluss: "eine hohle Mittelmäßigkeit in allem". Schwerlich zu ergründen indes, ob die geographische Gleichförmigkeit Initiator oder nur Indikator der mentalen Verfasstheit ist. Noch nicht einmal Hügel gibt es in den Landschaften des Niederländers Gerbrand Bakker. Flach, weit und eintönig sind sie - so kennt man sie schon aus seinem im vergangenen Jahr vielfach gelobten Debüt "Oben ist es still" -, "breite Streifen Weide- und Ackerland, deren Ende nicht zu sehen ist. Hier und da ein klobiger Bauernhof mit rotem Ziegeldach." Ausweglosigkeit und Stillstand scheinen dieser Landschaft eingeschrieben, umso mehr, wenn sie von der Sonne so unerbittlich ausgeleuchtet wird wie an den brütend heißen Frühsommertagen, von denen Bakker in seinem zweiten Roman "Juni" erzählt.
Der Juni ist ein trauriger Monat im Leben der Familie Kaan, die auf einem dieser klobigen Höfe inmitten der weiten Ebenen lebt. Daran besteht von Beginn an kein Zweifel, auch wenn zwischen den drei Generationen nicht viele Worte gewechselt werden, und bald ahnt man auch, Zeuge welch unheilvollen Jubiläums man ist. Vierzig Jahre sind seit dem Juni 1967 vergangen, das erzählen die beiden Rahmenkapitel des Romans, als die Königin dem kleinen Dorf einen Besuch abstattete: ein Mittagessen und ein kurzer Gang über den Marktplatz. Bevor sie wieder in ihr Auto steigt, um ihre Reise über die Dörfer fortzusetzen, gestattet sich die Monarchin einen kleinen Ausreißer aus dem Protokoll: Sie spricht ein paar Worte mit einer jungen Mutter, die zu spät zu dem großen Ereignis gekommen ist, streichelt der kleinen Tochter über die Wange. (Tatsächlich war die langjährige niederländische Throninhaberin Juliana bekannt für ihre volksnahen Umgangsformen.)
Mittlerweile ist Anna Kaan, die junge Mutter, älter, als die Königin es damals war, und an Eigenwilligkeit scheint sie dieser kaum nachzustehen: Eine Packung Kekse und je eine Flasche Wasser und Eierlikör hat sie mit sich genommen und starrt nun finster an die Decke der Scheune, auf deren Dachboden sie liegt. Das könnte angesichts des Alters der Dame eine recht drollige Vorstellung sein, wäre nicht offensichtlich, dass es sich um die einzige - wenngleich vorübergehende - Fluchtmöglichkeit handelt, die ihr das Leben gelassen hat. Man müsse nur, denkt sie, "hin und her rutschen wie Kühe oder Schafe, die sich scheuern, so lange rutschen, bis alle harten, stechenden Halme einen Platz gefunden haben". Das mag für eine Position im Stroh zutreffen. Für das Leben reicht ein bisschen Hinundherrutschen nicht. Hier bleiben die Stacheln, und wo man sie nicht mehr zu spüren meint, da hat sich der Schmerz doch nur in unterschwellige Wut verwandelt.
Dass mit einer Tochter alles anders, alles besser wäre, ist ein Satz, den Anna immer wieder denkt, während sie das Wasser, vor allem aber auch den Eierlikör trinkt und in der Hitze unter dem Scheunendach langsam in einen Dämmerzustand gleitet, dem wenig Sanftes eigen ist und aus dem sie möglicherweise nicht mehr erwachen wird. Anna Kaan ist keine drollige alte Frau. Sie ist von stummer Bitterkeit, sie mag keine Tiere, sie mag auch ihre Enkeltochter nicht, sie hadert mit ihren drei Söhnen, und sie will nicht, dass der Grabstein auf dem Dorffriedhof gesäubert und die Inschrift neu gemalt wird: Das kleine Mädchen hat den Tag, als die Königin kam, einen Tag, der als Feiertag ins Gedächtnis des Dorfes hätte eingehen sollen, nicht überlebt.
Wie, als wären die Uhren auf dem Hof seither nicht weitergegangen, schildert Bakker das Leben der Kaans. Kaum meint man sich in der Gegenwart, wenn in der dunklen Küche Zwieback zum Kaffee gegessen wird oder wortlos Zigaretten geraucht werden. Nur dass doch mal von Handys die Rede ist, mehr noch aber dass Haus und Stallungen langsam marode werden, deutet auf das Vergehen der Zeit, aber einer Zeit, die nicht in eine Zukunft, sondern auf ein Ende zuzulaufen scheint.
Bakker weiß die Zeichen genau zu setzen, leise, aber unmissverständlich. Darin ist er seinen wortkargen Figuren ähnlich. Vermutlich liegt es an der Deutlichkeit, mit der er in seiner Lakonik, seinem vermeintlichen Verschweigen doch beredt ist, dass dem Roman mitunter etwas Konstruiertes anhaftet, das ein wenig die wie von einer klebrigen Sonne überzogenen Melancholie stört, die Bakkers Szenerien auf so hoffnungslose Weise schön macht. Nicht zuletzt mag zu dem Eindruck der Konstruiertheit beitragen, dass es wiederum, wie in seinem ersten Roman, ein weit zurückliegender Autounfall und eine diffuse Schuld ist, um die das Erzählen kreist.
Man kann diese Motivwiederholung aber auch als eine Art Schlüssel sehen. Das wahrhaft Fatale an dem Leben, wie Bakker es beschreibt, ist nicht der Tod des Kindes. Tragisch ist die fortwährende Ahnung, dass die hohle Mittelmäßigkeit, der Stillstand und das Mitmachen der Jahre, das so gleichförmig ist wie die Landschaft, Bakkers Figuren auch dann zeichnen würde, wenn es nicht den katastrophischen Fixpunkt in der Vergangenheit geben würde. Wenn der Blick täglich über die endlosen Ebenen gleitet, dann bleibt die Frage, wie viel Nichts so ein Leben sein darf, ungestellt.
WIEBKE POROMBKA
Gerbrand Bakker: "Juni". Roman. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 303 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Chronist hohler Mittelmäßigkeit: Der Niederländer Gerbrand Bakker
Womöglich ist es einfach die Landschaft, aus der sich die Antworten ablesen lassen auf die großen Fragen des Lebens. "Hügel hinter Hügel und breite Täler", schrieb Georg Büchner mit Blick auf die Umgebung in seinem berühmten Fatalismus-Brief und zog sogleich den weltanschaulichen Schluss: "eine hohle Mittelmäßigkeit in allem". Schwerlich zu ergründen indes, ob die geographische Gleichförmigkeit Initiator oder nur Indikator der mentalen Verfasstheit ist. Noch nicht einmal Hügel gibt es in den Landschaften des Niederländers Gerbrand Bakker. Flach, weit und eintönig sind sie - so kennt man sie schon aus seinem im vergangenen Jahr vielfach gelobten Debüt "Oben ist es still" -, "breite Streifen Weide- und Ackerland, deren Ende nicht zu sehen ist. Hier und da ein klobiger Bauernhof mit rotem Ziegeldach." Ausweglosigkeit und Stillstand scheinen dieser Landschaft eingeschrieben, umso mehr, wenn sie von der Sonne so unerbittlich ausgeleuchtet wird wie an den brütend heißen Frühsommertagen, von denen Bakker in seinem zweiten Roman "Juni" erzählt.
Der Juni ist ein trauriger Monat im Leben der Familie Kaan, die auf einem dieser klobigen Höfe inmitten der weiten Ebenen lebt. Daran besteht von Beginn an kein Zweifel, auch wenn zwischen den drei Generationen nicht viele Worte gewechselt werden, und bald ahnt man auch, Zeuge welch unheilvollen Jubiläums man ist. Vierzig Jahre sind seit dem Juni 1967 vergangen, das erzählen die beiden Rahmenkapitel des Romans, als die Königin dem kleinen Dorf einen Besuch abstattete: ein Mittagessen und ein kurzer Gang über den Marktplatz. Bevor sie wieder in ihr Auto steigt, um ihre Reise über die Dörfer fortzusetzen, gestattet sich die Monarchin einen kleinen Ausreißer aus dem Protokoll: Sie spricht ein paar Worte mit einer jungen Mutter, die zu spät zu dem großen Ereignis gekommen ist, streichelt der kleinen Tochter über die Wange. (Tatsächlich war die langjährige niederländische Throninhaberin Juliana bekannt für ihre volksnahen Umgangsformen.)
Mittlerweile ist Anna Kaan, die junge Mutter, älter, als die Königin es damals war, und an Eigenwilligkeit scheint sie dieser kaum nachzustehen: Eine Packung Kekse und je eine Flasche Wasser und Eierlikör hat sie mit sich genommen und starrt nun finster an die Decke der Scheune, auf deren Dachboden sie liegt. Das könnte angesichts des Alters der Dame eine recht drollige Vorstellung sein, wäre nicht offensichtlich, dass es sich um die einzige - wenngleich vorübergehende - Fluchtmöglichkeit handelt, die ihr das Leben gelassen hat. Man müsse nur, denkt sie, "hin und her rutschen wie Kühe oder Schafe, die sich scheuern, so lange rutschen, bis alle harten, stechenden Halme einen Platz gefunden haben". Das mag für eine Position im Stroh zutreffen. Für das Leben reicht ein bisschen Hinundherrutschen nicht. Hier bleiben die Stacheln, und wo man sie nicht mehr zu spüren meint, da hat sich der Schmerz doch nur in unterschwellige Wut verwandelt.
Dass mit einer Tochter alles anders, alles besser wäre, ist ein Satz, den Anna immer wieder denkt, während sie das Wasser, vor allem aber auch den Eierlikör trinkt und in der Hitze unter dem Scheunendach langsam in einen Dämmerzustand gleitet, dem wenig Sanftes eigen ist und aus dem sie möglicherweise nicht mehr erwachen wird. Anna Kaan ist keine drollige alte Frau. Sie ist von stummer Bitterkeit, sie mag keine Tiere, sie mag auch ihre Enkeltochter nicht, sie hadert mit ihren drei Söhnen, und sie will nicht, dass der Grabstein auf dem Dorffriedhof gesäubert und die Inschrift neu gemalt wird: Das kleine Mädchen hat den Tag, als die Königin kam, einen Tag, der als Feiertag ins Gedächtnis des Dorfes hätte eingehen sollen, nicht überlebt.
Wie, als wären die Uhren auf dem Hof seither nicht weitergegangen, schildert Bakker das Leben der Kaans. Kaum meint man sich in der Gegenwart, wenn in der dunklen Küche Zwieback zum Kaffee gegessen wird oder wortlos Zigaretten geraucht werden. Nur dass doch mal von Handys die Rede ist, mehr noch aber dass Haus und Stallungen langsam marode werden, deutet auf das Vergehen der Zeit, aber einer Zeit, die nicht in eine Zukunft, sondern auf ein Ende zuzulaufen scheint.
Bakker weiß die Zeichen genau zu setzen, leise, aber unmissverständlich. Darin ist er seinen wortkargen Figuren ähnlich. Vermutlich liegt es an der Deutlichkeit, mit der er in seiner Lakonik, seinem vermeintlichen Verschweigen doch beredt ist, dass dem Roman mitunter etwas Konstruiertes anhaftet, das ein wenig die wie von einer klebrigen Sonne überzogenen Melancholie stört, die Bakkers Szenerien auf so hoffnungslose Weise schön macht. Nicht zuletzt mag zu dem Eindruck der Konstruiertheit beitragen, dass es wiederum, wie in seinem ersten Roman, ein weit zurückliegender Autounfall und eine diffuse Schuld ist, um die das Erzählen kreist.
Man kann diese Motivwiederholung aber auch als eine Art Schlüssel sehen. Das wahrhaft Fatale an dem Leben, wie Bakker es beschreibt, ist nicht der Tod des Kindes. Tragisch ist die fortwährende Ahnung, dass die hohle Mittelmäßigkeit, der Stillstand und das Mitmachen der Jahre, das so gleichförmig ist wie die Landschaft, Bakkers Figuren auch dann zeichnen würde, wenn es nicht den katastrophischen Fixpunkt in der Vergangenheit geben würde. Wenn der Blick täglich über die endlosen Ebenen gleitet, dann bleibt die Frage, wie viel Nichts so ein Leben sein darf, ungestellt.
WIEBKE POROMBKA
Gerbrand Bakker: "Juni". Roman. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 303 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Auf Figuren, die ihr Schicksal in den eigenen Händen halten, trifft Rezensentin Sabine Peters in diesem Roman von Gerbrand Bakker. Allerdings geht dem ein Schicksalsschlag voraus und der nie geglückte Versuch vollständigen Erinnerns. Peters erfährt das durch eine feingesponnene Textur, lakonische Sprache, innere Monologe und schroffe Dialoge, die zur ländlichen Umgebung der Geschichte und den eigenwilligen Charakteren passen. Bemerkenswert erscheint ihr das nur Angedeutete und die Fähigkeit des Autors, sich auch in die Perspektive eines fünfjährigen Kindes zu versetzen oder Homosexualität zu schildern, ganz unprätentiös. Keine leichte Lektüre, findet Peters, weil Versöhnung ausbleibt, dennoch eine lohnende, lässt sie uns wissen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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