Produktdetails
- Verlag: ZWEITAUSENDEINS
- ISBN-13: 9783861500216
- ISBN-10: 3861500213
- Artikelnr.: 25313141
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2009Der Kassenarzt der Vorhölle
Die Offenbarung der Beat-Generation in der ursprünglichen Fassung: William Burroughs' Kult-Roman "Naked Lunch". Erst die neue Übersetzung macht für deutsche Leser nachvollziehbar, warum Burroughs von Kerouac als größter Satiriker seit Swift gefeiert wurde.
Drogen und Wahn, Sex bis zum Abwinken, keine Handlung - so machte Literatur um 1960 Furore. Was ist heute davon geblieben? Der vielleicht immer noch radikalste Roman, der je geschrieben wurde. Auch wer "Naked Lunch" nie gelesen hat, kennt seinen Ruf. Sein Einfluss ist enorm: Die Popkultur sog viel süßes Gift aus ihm, eine Handvoll Bands fand hier zu ihrem Namen, wie etwa Steely Dan - im Roman steht die Bezeichnung für einen Dildo der Extraklasse.
In vielen Junkie-Büchern, man denke an die "Kinder vom Bahnhof Zoo", verbindet sich kaum verhohlener Erfahrungsstolz mit der gerade deshalb eher unglaubwürdigen Drogenwarngeste; man kennt die Mischung auch aus zahllosen Rocksongs. Zwar wurde auch "Naked Lunch" mit dem Junkie-Etikett zum Underground-Standardwerk. Der Reiz des Buchs besteht jedoch weniger im Drogen-Insidertum als in den schräg-surrealen Szenerien, die sich den Jahren der Sucht mit ihren Enthemmungen, Ängsten und Entzugsdelirien verdanken. Burroughs steigert sie mit aller Lust am Makabren und Schockierenden zum globalen Panorama: Eine völlig auf den Hund gekommene Menschheit gibt dem Affen Zucker und frönt "insektenhaften Gelüsten". Danteske Szenen vergegenwärtigen eine Hölle, für die man nicht erst in den Erdtrichter klettern muss. Sie ist in den urbanen Wüsten gegenwärtig.
"Naked Lunch" beschäftigt sich mit der "Algebra des Verlangens". "Junk" steht für alles, was besinnungslos begehrt werden kann: Drogen, Liebe, Macht, Sex. Wo Abhängigkeit ist, ist auch Macht, und wo Macht ist, ist auch Kontrolle. So lässt sich der hohe Paranoia-Faktor des Buches - der literarische Kosmos Thomas Pynchons wäre ohne "Naked Lunch" ja kaum denkbar - gleichsam organisch auf die Drogenerfahrungen zurückführen.
Zu den Höhepunkten des Romans gehören grandiose, gelächtervolle Szenen über merkwürdige Überwachungsstaaten wie Interzone und die Auftritte von ärztlichen Autoritäten wie Dr. Benway, Mediziner der Vorhölle und Spezialist für Verhörtechniken, Gehirnwäsche und Kontrollpraktiken - und ein skrupelloser Schlächter in burlesk entgleisten Operationsszenen. Burroughs phantasiert die "Bürokraten geisterhafter Dienststellen" und die "Amtsträger noch nicht errichteter Polizeistaaten". An Aktualität gewonnen hat die satirische Darstellung der "Islam-AG": "Unter die versammelten Konferenzteilnehmer mischen sich nationalistische Märtyrer, die irgendwann die Handgranate in ihrem Arsch zünden und so für erhebliche Verluste sorgen ... Und da gab es diese Geschichte mit Präsident Ra, der den englischen Präsidenten zu Boden warf und gewaltsam sodomisierte - ein Spektakel, das in der gesamten arabischen Welt im Fernsehen verfolgt werden konnte. Die wilden Freudenschreie waren noch in Stockholm zu hören."
Er könne sich kaum an die Niederschrift des Romans erinnern, meinte Burroughs später. Die Auffassung, er habe "Naked Lunch" im Heroinrausch geschrieben, ist aber wohl eher Legende. Zumindest würde sie schlecht passen zu den Zustandsbeschreibungen der Sucht im Roman: "völlige Gefühllosigkeit, Autismus und so gut wie keine Gehirntätigkeit mehr. Der Süchtige kann acht Stunden regungslos auf eine Wand starren." Sein Körper ist das "Werkzeug, mit dem er das Medium zu sich nimmt, in dem er lebt, er prüft sein Gewebe mit den kalten Fingern eines Pferdehändlers". Und die Libido ist komplett abgeschaltet: "Dem Junkie bedeutet ein Orgasmus nichts." Genau das kann man von den manisch übererregten, von böser Lust besessenen Figuren des Romans nicht behaupten. Hier kehren die Fratzen des Begehrens zurück.
Burroughs hat das Obszöne an die äußerste Grenze getrieben: atemlose Beschreibungen von Orgien und Exzessen, die irgendwo zwischen Hieronymus-Bosch-Vision, Karikatur à la Robert Crumb und Special-interest-Porno angesiedelt sind. Der Unterschied zu vielen Unterleibsromanen jüngerer Zeit besteht im surrealen Charakter der Darbietung. Was der Erzähler von "Naked Lunch" notiert, sind keine Erlebnisse, die mit Authentizität punkten wollen, sondern Phantasmen des homosexuellen Extremgenusses. Es gibt da Momente sehr spezieller Komik, aber auch abgeschmackte Zumutungen, etwa die fixe Idee der finalen Stimulation durch Erhängen und Genickbruch. Burroughs wollte das später als Traktat gegen die Todesstrafe verstanden wissen. Nun ja.
Auch gegenüber der Cut-up-Methode, die seinerzeit als revolutionär empfunden wurde, stellt sich heute eine gewisse Skepsis ein. Burroughs übertrug das Collage-Verfahren von der Kunst auf die Literatur und brachte den Zufall als kreativen Faktor ins Spiel. Er zerschnitt seine Texte und setzte sie in "beliebiger" Reihenfolge wieder zusammen. Deshalb kann man den Roman kreuz und quer lesen - kein Faden der Chronologie wird einem aus der Hand rutschen; es gibt keinen. Eine durchgehende Handlung hat das Buch nicht, allenfalls eine gewisse Rahmung durch die Flucht des Junkie-Agenten Lee, die in New York beginnt und über Mexiko nach Tanger und in die "Zone" führt. Ansonsten bekommt man es mit einem Ragout aus rasant gemixten Szenen zu tun, das sich über weite Strecken faszinierend liest. Auch die Dialoge folgen keiner realistischen Dramaturgie, sondern wirken oft wie eine Abfolge burlesker Zwischenrufe.
Als "ursprüngliche Fassung" präsentiert sich nun die vorliegende Ausgabe. Da sprießen bei einem Werk dieses Kalibers hohe Erwartungen, zumal die Entstehungsgeschichte des Romans überaus verwickelt ist. Gemeinsam mit Allen Ginsberg versuchte Burroughs, das Textgewucher in wiederholten Anläufen und langen Arbeitssitzungen zu bändigen. Es gab Vorabveröffentlichungen in Zeitschriften, es gab die "Interzone"-Fassung und schließlich 1959 die erste publizierte Version bei der skandalumwitterten Pariser Olympia Press, für die das Material noch einmal umarrangiert wurde. Die spätere amerikanische Fassung (bei Grove Press) basierte auf dieser Ausgabe, was die Kapitelfolge betrifft, nahm ansonsten aber das "Interzone"-Manuskript als Vorlage, ohne spätere Detailänderungen zu berücksichtigen. Kurz: Angesichts der komplizierten Editionsgeschichte erscheint eine Rückkehr zu früheren Textstufen vielversprechend.
Umso mehr stutzt man, wenn die "ursprüngliche Fassung" fast wie die alte daherkommt. Man habe nicht der "akademischen Lauterkeit zuliebe" Textteile streichen wollen, "aus denen in vor längerer Zeit erschienenen wissenschaftlichen Arbeiten zitiert wurde; und kein Leser, der das Buch schon lange kennt, möchte seine Lieblingsstelle einfach gestrichen sehen", schreiben die Herausgeber im Nachwort. "Deshalb liegt unserer Arbeit die Grove-Ausgabe zugrunde." Wie bitte? Tatsächlich muss man nach Eingriffen in den Romantext suchen. Ein paar "Änderungen in Tempus und Numerus machen den größten wahrnehmbaren Unterschied zwischen früheren Fassungen und der vorliegenden Neu-Edition aus".
Diese "ursprüngliche Fassung" tendiert also deutlich in Richtung Mogelpackung. Es ist ein "naked lunch" der anderen Art, auch wenn am Ende auf der Gabel noch ein paar "Outtakes" stecken, aufgegebene oder verlorengegangene Passagen sowie die eine oder andere alternative Version einer Szene. Spektakulär ist das nicht. Immerhin bringt die revidierte Wörtlichkeit bisweilen eine Verschärfung des Tons mit sich. Während zuvor eine "Horde Schweine" bloß über einen "Bürgersteig" getrieben wurde, schickt sie die neue Fassung direkt "in die Kaaba".
Das größte Verdienst der deutschen Ausgabe ist indessen die sehr gelungene Neuübersetzung von Michael Kellner. Burroughs komplexe Sprache ist eine harte Nuss für Übersetzer, denn mit Genauigkeit allein ist es hier nicht getan. Vielmehr gilt es, eine Sprachmusik nachzukomponieren. Das ist Kellner gelungen. Erst in seiner Übersetzung wird deutlich, dass "Naked Lunch" stilistisch einer deutlichen Spur folgt: der delirierenden Prosa Louis Ferdinand Célines, mit ihrer entwaffnenden Direktheit, ihrem antimoralischen Furor, ihrer wohlgepflegten Bosheit, ihren parataktischen Beschreibungskaskaden.
Die Slang- und Szeneausdrücke sind im Deutschen schneller gealtert als die Originale. "Rauschgiftpolyp" klingt heute ebenso merkwürdig wie "Warmer"; ganze Sätze können durch derartige Missklänge zerstört werden. Jetzt liest man "Rauschgiftbulle" und "Tunte". "Protoplasma-Daddy" klingt besser als "Protoplasmaväterchen", und gefangengenommene "Replikanten" sind für jeden, der ein paar Science-Fiction-Filme gesehen hat, etwas anderes als "gefangene Ableger". So las man es auch noch in der zweiten Übersetzung des Romans von Carl Weissner, die besser war als die erste, aber noch deutliche Schwächen hatte. Zum Beispiel klang sie ein bisschen zu sehr nach Bukowski und ließ oft die Pointierung vermissen. In der Neuübersetzung wird die bizarre Komik von Burroughs endlich angemessen vermittelt. Warum der Autor von Jack Kerouac als "größter Satiriker seit Swift" gefeiert wurde, können deutsche Leser erst jetzt erfahren.
WOLFGANG SCHNEIDER
William S. Burroughs: "Naked Lunch". Die ursprüngliche Fassung. Herausgegeben von James Grauerholz und Barry Miles. Aus dem Englischen von Michael Kellner. Verlag Nagel & Kimche, München 2009. 378 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Offenbarung der Beat-Generation in der ursprünglichen Fassung: William Burroughs' Kult-Roman "Naked Lunch". Erst die neue Übersetzung macht für deutsche Leser nachvollziehbar, warum Burroughs von Kerouac als größter Satiriker seit Swift gefeiert wurde.
Drogen und Wahn, Sex bis zum Abwinken, keine Handlung - so machte Literatur um 1960 Furore. Was ist heute davon geblieben? Der vielleicht immer noch radikalste Roman, der je geschrieben wurde. Auch wer "Naked Lunch" nie gelesen hat, kennt seinen Ruf. Sein Einfluss ist enorm: Die Popkultur sog viel süßes Gift aus ihm, eine Handvoll Bands fand hier zu ihrem Namen, wie etwa Steely Dan - im Roman steht die Bezeichnung für einen Dildo der Extraklasse.
In vielen Junkie-Büchern, man denke an die "Kinder vom Bahnhof Zoo", verbindet sich kaum verhohlener Erfahrungsstolz mit der gerade deshalb eher unglaubwürdigen Drogenwarngeste; man kennt die Mischung auch aus zahllosen Rocksongs. Zwar wurde auch "Naked Lunch" mit dem Junkie-Etikett zum Underground-Standardwerk. Der Reiz des Buchs besteht jedoch weniger im Drogen-Insidertum als in den schräg-surrealen Szenerien, die sich den Jahren der Sucht mit ihren Enthemmungen, Ängsten und Entzugsdelirien verdanken. Burroughs steigert sie mit aller Lust am Makabren und Schockierenden zum globalen Panorama: Eine völlig auf den Hund gekommene Menschheit gibt dem Affen Zucker und frönt "insektenhaften Gelüsten". Danteske Szenen vergegenwärtigen eine Hölle, für die man nicht erst in den Erdtrichter klettern muss. Sie ist in den urbanen Wüsten gegenwärtig.
"Naked Lunch" beschäftigt sich mit der "Algebra des Verlangens". "Junk" steht für alles, was besinnungslos begehrt werden kann: Drogen, Liebe, Macht, Sex. Wo Abhängigkeit ist, ist auch Macht, und wo Macht ist, ist auch Kontrolle. So lässt sich der hohe Paranoia-Faktor des Buches - der literarische Kosmos Thomas Pynchons wäre ohne "Naked Lunch" ja kaum denkbar - gleichsam organisch auf die Drogenerfahrungen zurückführen.
Zu den Höhepunkten des Romans gehören grandiose, gelächtervolle Szenen über merkwürdige Überwachungsstaaten wie Interzone und die Auftritte von ärztlichen Autoritäten wie Dr. Benway, Mediziner der Vorhölle und Spezialist für Verhörtechniken, Gehirnwäsche und Kontrollpraktiken - und ein skrupelloser Schlächter in burlesk entgleisten Operationsszenen. Burroughs phantasiert die "Bürokraten geisterhafter Dienststellen" und die "Amtsträger noch nicht errichteter Polizeistaaten". An Aktualität gewonnen hat die satirische Darstellung der "Islam-AG": "Unter die versammelten Konferenzteilnehmer mischen sich nationalistische Märtyrer, die irgendwann die Handgranate in ihrem Arsch zünden und so für erhebliche Verluste sorgen ... Und da gab es diese Geschichte mit Präsident Ra, der den englischen Präsidenten zu Boden warf und gewaltsam sodomisierte - ein Spektakel, das in der gesamten arabischen Welt im Fernsehen verfolgt werden konnte. Die wilden Freudenschreie waren noch in Stockholm zu hören."
Er könne sich kaum an die Niederschrift des Romans erinnern, meinte Burroughs später. Die Auffassung, er habe "Naked Lunch" im Heroinrausch geschrieben, ist aber wohl eher Legende. Zumindest würde sie schlecht passen zu den Zustandsbeschreibungen der Sucht im Roman: "völlige Gefühllosigkeit, Autismus und so gut wie keine Gehirntätigkeit mehr. Der Süchtige kann acht Stunden regungslos auf eine Wand starren." Sein Körper ist das "Werkzeug, mit dem er das Medium zu sich nimmt, in dem er lebt, er prüft sein Gewebe mit den kalten Fingern eines Pferdehändlers". Und die Libido ist komplett abgeschaltet: "Dem Junkie bedeutet ein Orgasmus nichts." Genau das kann man von den manisch übererregten, von böser Lust besessenen Figuren des Romans nicht behaupten. Hier kehren die Fratzen des Begehrens zurück.
Burroughs hat das Obszöne an die äußerste Grenze getrieben: atemlose Beschreibungen von Orgien und Exzessen, die irgendwo zwischen Hieronymus-Bosch-Vision, Karikatur à la Robert Crumb und Special-interest-Porno angesiedelt sind. Der Unterschied zu vielen Unterleibsromanen jüngerer Zeit besteht im surrealen Charakter der Darbietung. Was der Erzähler von "Naked Lunch" notiert, sind keine Erlebnisse, die mit Authentizität punkten wollen, sondern Phantasmen des homosexuellen Extremgenusses. Es gibt da Momente sehr spezieller Komik, aber auch abgeschmackte Zumutungen, etwa die fixe Idee der finalen Stimulation durch Erhängen und Genickbruch. Burroughs wollte das später als Traktat gegen die Todesstrafe verstanden wissen. Nun ja.
Auch gegenüber der Cut-up-Methode, die seinerzeit als revolutionär empfunden wurde, stellt sich heute eine gewisse Skepsis ein. Burroughs übertrug das Collage-Verfahren von der Kunst auf die Literatur und brachte den Zufall als kreativen Faktor ins Spiel. Er zerschnitt seine Texte und setzte sie in "beliebiger" Reihenfolge wieder zusammen. Deshalb kann man den Roman kreuz und quer lesen - kein Faden der Chronologie wird einem aus der Hand rutschen; es gibt keinen. Eine durchgehende Handlung hat das Buch nicht, allenfalls eine gewisse Rahmung durch die Flucht des Junkie-Agenten Lee, die in New York beginnt und über Mexiko nach Tanger und in die "Zone" führt. Ansonsten bekommt man es mit einem Ragout aus rasant gemixten Szenen zu tun, das sich über weite Strecken faszinierend liest. Auch die Dialoge folgen keiner realistischen Dramaturgie, sondern wirken oft wie eine Abfolge burlesker Zwischenrufe.
Als "ursprüngliche Fassung" präsentiert sich nun die vorliegende Ausgabe. Da sprießen bei einem Werk dieses Kalibers hohe Erwartungen, zumal die Entstehungsgeschichte des Romans überaus verwickelt ist. Gemeinsam mit Allen Ginsberg versuchte Burroughs, das Textgewucher in wiederholten Anläufen und langen Arbeitssitzungen zu bändigen. Es gab Vorabveröffentlichungen in Zeitschriften, es gab die "Interzone"-Fassung und schließlich 1959 die erste publizierte Version bei der skandalumwitterten Pariser Olympia Press, für die das Material noch einmal umarrangiert wurde. Die spätere amerikanische Fassung (bei Grove Press) basierte auf dieser Ausgabe, was die Kapitelfolge betrifft, nahm ansonsten aber das "Interzone"-Manuskript als Vorlage, ohne spätere Detailänderungen zu berücksichtigen. Kurz: Angesichts der komplizierten Editionsgeschichte erscheint eine Rückkehr zu früheren Textstufen vielversprechend.
Umso mehr stutzt man, wenn die "ursprüngliche Fassung" fast wie die alte daherkommt. Man habe nicht der "akademischen Lauterkeit zuliebe" Textteile streichen wollen, "aus denen in vor längerer Zeit erschienenen wissenschaftlichen Arbeiten zitiert wurde; und kein Leser, der das Buch schon lange kennt, möchte seine Lieblingsstelle einfach gestrichen sehen", schreiben die Herausgeber im Nachwort. "Deshalb liegt unserer Arbeit die Grove-Ausgabe zugrunde." Wie bitte? Tatsächlich muss man nach Eingriffen in den Romantext suchen. Ein paar "Änderungen in Tempus und Numerus machen den größten wahrnehmbaren Unterschied zwischen früheren Fassungen und der vorliegenden Neu-Edition aus".
Diese "ursprüngliche Fassung" tendiert also deutlich in Richtung Mogelpackung. Es ist ein "naked lunch" der anderen Art, auch wenn am Ende auf der Gabel noch ein paar "Outtakes" stecken, aufgegebene oder verlorengegangene Passagen sowie die eine oder andere alternative Version einer Szene. Spektakulär ist das nicht. Immerhin bringt die revidierte Wörtlichkeit bisweilen eine Verschärfung des Tons mit sich. Während zuvor eine "Horde Schweine" bloß über einen "Bürgersteig" getrieben wurde, schickt sie die neue Fassung direkt "in die Kaaba".
Das größte Verdienst der deutschen Ausgabe ist indessen die sehr gelungene Neuübersetzung von Michael Kellner. Burroughs komplexe Sprache ist eine harte Nuss für Übersetzer, denn mit Genauigkeit allein ist es hier nicht getan. Vielmehr gilt es, eine Sprachmusik nachzukomponieren. Das ist Kellner gelungen. Erst in seiner Übersetzung wird deutlich, dass "Naked Lunch" stilistisch einer deutlichen Spur folgt: der delirierenden Prosa Louis Ferdinand Célines, mit ihrer entwaffnenden Direktheit, ihrem antimoralischen Furor, ihrer wohlgepflegten Bosheit, ihren parataktischen Beschreibungskaskaden.
Die Slang- und Szeneausdrücke sind im Deutschen schneller gealtert als die Originale. "Rauschgiftpolyp" klingt heute ebenso merkwürdig wie "Warmer"; ganze Sätze können durch derartige Missklänge zerstört werden. Jetzt liest man "Rauschgiftbulle" und "Tunte". "Protoplasma-Daddy" klingt besser als "Protoplasmaväterchen", und gefangengenommene "Replikanten" sind für jeden, der ein paar Science-Fiction-Filme gesehen hat, etwas anderes als "gefangene Ableger". So las man es auch noch in der zweiten Übersetzung des Romans von Carl Weissner, die besser war als die erste, aber noch deutliche Schwächen hatte. Zum Beispiel klang sie ein bisschen zu sehr nach Bukowski und ließ oft die Pointierung vermissen. In der Neuübersetzung wird die bizarre Komik von Burroughs endlich angemessen vermittelt. Warum der Autor von Jack Kerouac als "größter Satiriker seit Swift" gefeiert wurde, können deutsche Leser erst jetzt erfahren.
WOLFGANG SCHNEIDER
William S. Burroughs: "Naked Lunch". Die ursprüngliche Fassung. Herausgegeben von James Grauerholz und Barry Miles. Aus dem Englischen von Michael Kellner. Verlag Nagel & Kimche, München 2009. 378 S., geb., 24,90 [Euro].
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