Jurek Becker (1937-1997) ist einer der herausragenden deutschen Schriftsteller unserer Zeit. Von seinem ersten Roman Jakob der Lügner, einem Stück Weltliteratur, bis zur beliebten Fernsehserie Liebling Kreuzberg reicht die Palette seines vielseitigen Werkes. Sander L. Gilman kannte Jurek Becker seit den sechziger Jahren. Eindringlich schildert er die Kindheit im Ghetto von Lodz und in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen, die Jugend in Berlin, wie aus der Spannung zwischen verdrängtem Judentum und dem Bemühen um eine "deutsche Identität" das Grundthema in Beckers Leben und seinen späteren Romanen erwächst. Die große Biografie des Wanderers zwischen den Welten und Systemen, das Leben des Literaten, der stets in Konflikt mit der Macht gerät. Und er erzählt zugleich ein Stück deutsch-deutscher Geschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2003Schlaflose Tage
Preis des Schweigens: Sander L. Gilmans Biographie Jurek Beckers
Unmöglich, daß er jemals ein deutscher Schriftsteller sein würde. Geboren in Lódz 1937, seit dem dritten Lebensjahr aufgewachsen im Ghetto seines nun in "Litzmannstadt" umbenannten Geburtsortes, als Fünfjähriger mit seiner Mutter Anett als Jude ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert, von der Roten Armee befreit und nach Sachsenhausen evakuiert, wo die Mutter wenige Wochen später an Hunger starb: den Terror des Großdeutschen Reiches überlebte dieser polnische Junge nur mit knapper Not. Auch wenn er später behauptete, sich eigentlich an nichts erinnern zu können, wurde diese Zeit doch zum ersten seiner beiden Lebensthemen - in der Sprache jenes Landes, in das er nur durch Besatzung und Deportation geraten war.
Die ersten deutschen Worte, an die sich Jerzy Bekker später erinnerte, waren die Befehle "Zählappell!" und "Dalli-dalli". Gleich ihm, jedoch gewaltsam von der Familie getrennt, überlebte sein Vater Mieczyslaw in Auschwitz und Sachsenhausen den Holocaust; der sich dann im sozialistischen deutschen Staat wenigstens halbwegs sicher glaubte vor einer Wiederkehr des Vergangenen. "Max Becker" nannte er sich fortan, um keinen Anstoß zu erregen in einem Land, das von seinesgleichen am wenigsten wissen und vom Vergangenen nichts hören wollte. Aus demselben Grund stand in den Papieren des Sohns nun der Vorname "Georg"; allein der Kosename änderte sich nicht, es blieb bei "Jurek". Ein phantasievoller Geschichtenerzähler war dieser Vater, und seinen Sohn hat er dazu erzogen, es ihm nachzutun - um den Preis des Schweigens über das eine Thema, das ihm die Sprache verschlug. Während der Depressionen, der Trunksucht und des langsamen Verfalls seines Vaters hat der Sohn nie erfahren, was ihm in den Lagern widerfahren war; bis zum Schluß umstehen die vielen Geschichten eine einzige, mächtige Leerstelle des Schweigens.
Ebendeshalb will der Sohn das vom Vater erlernte Fabulieren benutzen, um die Leere zu füllen - mit dem, was er sich ausmalt, was er in Erfahrung bringen kann, was seine Alb- und Wunschträume erfüllt. Daß es immer nur Fabeln sein können, mit denen er eindringen will ins Sprachlose, gerade das macht aus seinen Phantasien Kunstwerke, die sich in ironischen Brechungen fortwährend selbst reflektieren. Jurek Beckers Bücher und Filme, allen voran der Welterfolg "Jakob der Lügner" - sie inszenieren sich wie Nacherzählungen von Berichten aus einem Radio, das es nicht gibt. In diesem Werk beschreibt das uralte Diktum vom Dichter, der lügt, einen existentiellen und produktiven Konflikt; noch in den Stasi-Akten erscheint der Bespitzelte unter dem Tarnnamen "Lügner". Wahrhaftig, keiner hat den Deutschen in so geistreichen und amüsanten, so gebrochenen und traurigen Fiktionen von den Schrecken der Wahrheit erzählt wie Jurek der Lügner.
Zur Erfahrung des Faschismus kam für den jungen Kommunisten und den nicht mehr jungen Dissidenten diejenige des antifaschistischen Staates hinzu, dieses teils realen, teils surrealen Sozialismus. Sie wurde zu seinem zweiten Lebensthema. Von den frühen Arbeiten als Filmautor der Defa bis zum Parteiausschluß und dem Austritt aus dem Schriftstellerverband wird er davon erzählen, in Filmen und Geschichten wie "Schlaflose Tage". Nicht weniger spannungsvoll erscheinen schließlich auch die Versuche des schon halb in den Westen Übergesiedelten, noch in der deutsch-deutschen Doppelexistenz ein loyaler Bürger der DDR (und Sohn seines Vaters) zu bleiben. Immer aber werden sie durchkreuzt von der Renitenz, die ihm seit der Studienzeit, verstärkt dann nach der Ausbürgerung seines Freunds Wolf Biermann, eine fast ununterbrochene Überwachung durch die Staatssicherheit einbrachte. Mit dem Kreuzberger Anwalt Liebling, verkörpert durch seinen Lebensfreund Manfred Krug, hat er dieser Widerborstigkeit ein unvergeßliches Denkmal gesetzt. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Sander L. Gilman hat diese Lebensgeschichte eines Freundes in englischer Sprache für deutsche Leser erzählt, mit liebevoller Anteilnahme und dabei doch nüchtern bis an den Rand des Spröden. (Das letztere wird durch die wenig geschmeidige Übersetzung noch verstärkt.)
"Beobachten" wolle er, schreibt er im Vorwort, nicht "etikettieren". Und dennoch erweist sich ebendies als ein Grundproblem seines Buches. Gilman, der große Erforscher ethnischer Stereotypien, antijüdischer Zerrbilder und des "Jewish Self-Hatred" (1982), erzählt vom Leben und Schreiben Jurek Beckers als einer ihrer selbst zunehmend bewußt werdenden Auseinandersetzung mit der jüdischen Herkunft, als eines Versuchs, die negative Bestimmung des Stigmas durch eine positive jüdische Identität zu überwinden. Das literarische Werk scheint ihm darin so recht zu geben wie die zögernden und späten Versuche Beckers, sich mit jüdischen Traditionen vertraut zu machen, widerstrebend auch mit dem beargwöhnten Staat Israel.
Zugleich aber widerspricht auch niemand dieser Deutung so energisch wie Becker selbst, der sich weder auf die Rolle des Opfers noch überhaupt auf die eines jüdischen Schriftstellers festlegen lassen wollte. Gilman referiert auch dies getreulich. Immer wieder hat sich Becker tatsächlich schon gegen die Bezeichnung als "Jude" gewehrt und provozierend gefragt, warum eigentlich Kinder von Katholiken aus der Kirche, aber Kinder von Juden nicht aus dem Judentum austreten könnten. Angesichts solcher quälenden Ambivalenzen gerät Gilmans Darstellung in das unausweichliche Dilemma, deuten zu müssen, was er nur beobachten wollte; und da kommen eigene Wünsche ins Spiel. Spürbar schmerzt Beckers zähes Bemühen um Distanzierung von seiner Herkunft seinen Biographen, und ebenso spürbar erleichtert ihn jedes Signal für eine doch auf das Judentum gerichtete Neugier. Einmal erklärt er geradezu, die Spannung von "verborgener" und öffentlicher "Identität als Jude" sei für Becker schlechterdings "der Schlüssel zu seinem Werk ebenso wie zu seinem Selbstverständnis". Das ist eine erstaunlich kategorische Behauptung, und man versteht, daß Gilman sie in einer Fußnote eher versteckt als verkündet. Nicht daß sie nicht eine bedenkenswerte Hypothese über den Verfasser von Büchern wie "Bronsteins Kinder" und "Der Boxer" formulierte - aber weiter könnte man sich vom nüchternen "Beobachten" kaum entfernen. Wenn in Beckers DDR-Roman "Irreführung der Behörden" der Held Gregor einmal bemerkt, niemand könne "mit einer anderen Nase herumlaufen als mit seiner eigenen", dann hält Gilman auch dies - obgleich es ausdrücklich "keinerlei Hinweis darauf gibt, daß Gregor jüdisch ist" - für "eine unmißverständliche Metapher"; dann glaubt er eine jüdische Physiognomie aufgespürt zu haben. Aber wie hätte Becker, unter diesem Blick, solchen Festlegungen seiner Romanfiguren auf die Herkunft ihres Verfassers eigentlich überhaupt entgehen können?
So gründlich Gilman Leben und Werk Jurek Beckers recherchiert hat, so wortkarg bleibt er leider in den Angaben zu dessen Anregern und Vorbildern. "Jurek Becker erblickte bei Kafka ein Gespür für die Details des Lebens" - das hätte man schon gern etwas genauer gehabt. Gilmans eindringlichem Porträt selbst tut diese Lakonie freilich wenig Abbruch. Einmal fällt sein Blick auf das Grab des Freundes, der 1997 mit neunundfünfzig Jahren an Krebs gestorben ist: auf das Häufchen kleiner Steine "auf dem Grabstein eines neuen Deutschen in einem neuen Deutschland". Das ist der letzte Satz.
HEINRICH DETERING
Sander L. Gilman: "Jurek Becker". Die Biographie. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Schmidt. Ullstein Verlag, München und Berlin 2002. 336 Seiten, geb., 22,- [Euro].
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Preis des Schweigens: Sander L. Gilmans Biographie Jurek Beckers
Unmöglich, daß er jemals ein deutscher Schriftsteller sein würde. Geboren in Lódz 1937, seit dem dritten Lebensjahr aufgewachsen im Ghetto seines nun in "Litzmannstadt" umbenannten Geburtsortes, als Fünfjähriger mit seiner Mutter Anett als Jude ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert, von der Roten Armee befreit und nach Sachsenhausen evakuiert, wo die Mutter wenige Wochen später an Hunger starb: den Terror des Großdeutschen Reiches überlebte dieser polnische Junge nur mit knapper Not. Auch wenn er später behauptete, sich eigentlich an nichts erinnern zu können, wurde diese Zeit doch zum ersten seiner beiden Lebensthemen - in der Sprache jenes Landes, in das er nur durch Besatzung und Deportation geraten war.
Die ersten deutschen Worte, an die sich Jerzy Bekker später erinnerte, waren die Befehle "Zählappell!" und "Dalli-dalli". Gleich ihm, jedoch gewaltsam von der Familie getrennt, überlebte sein Vater Mieczyslaw in Auschwitz und Sachsenhausen den Holocaust; der sich dann im sozialistischen deutschen Staat wenigstens halbwegs sicher glaubte vor einer Wiederkehr des Vergangenen. "Max Becker" nannte er sich fortan, um keinen Anstoß zu erregen in einem Land, das von seinesgleichen am wenigsten wissen und vom Vergangenen nichts hören wollte. Aus demselben Grund stand in den Papieren des Sohns nun der Vorname "Georg"; allein der Kosename änderte sich nicht, es blieb bei "Jurek". Ein phantasievoller Geschichtenerzähler war dieser Vater, und seinen Sohn hat er dazu erzogen, es ihm nachzutun - um den Preis des Schweigens über das eine Thema, das ihm die Sprache verschlug. Während der Depressionen, der Trunksucht und des langsamen Verfalls seines Vaters hat der Sohn nie erfahren, was ihm in den Lagern widerfahren war; bis zum Schluß umstehen die vielen Geschichten eine einzige, mächtige Leerstelle des Schweigens.
Ebendeshalb will der Sohn das vom Vater erlernte Fabulieren benutzen, um die Leere zu füllen - mit dem, was er sich ausmalt, was er in Erfahrung bringen kann, was seine Alb- und Wunschträume erfüllt. Daß es immer nur Fabeln sein können, mit denen er eindringen will ins Sprachlose, gerade das macht aus seinen Phantasien Kunstwerke, die sich in ironischen Brechungen fortwährend selbst reflektieren. Jurek Beckers Bücher und Filme, allen voran der Welterfolg "Jakob der Lügner" - sie inszenieren sich wie Nacherzählungen von Berichten aus einem Radio, das es nicht gibt. In diesem Werk beschreibt das uralte Diktum vom Dichter, der lügt, einen existentiellen und produktiven Konflikt; noch in den Stasi-Akten erscheint der Bespitzelte unter dem Tarnnamen "Lügner". Wahrhaftig, keiner hat den Deutschen in so geistreichen und amüsanten, so gebrochenen und traurigen Fiktionen von den Schrecken der Wahrheit erzählt wie Jurek der Lügner.
Zur Erfahrung des Faschismus kam für den jungen Kommunisten und den nicht mehr jungen Dissidenten diejenige des antifaschistischen Staates hinzu, dieses teils realen, teils surrealen Sozialismus. Sie wurde zu seinem zweiten Lebensthema. Von den frühen Arbeiten als Filmautor der Defa bis zum Parteiausschluß und dem Austritt aus dem Schriftstellerverband wird er davon erzählen, in Filmen und Geschichten wie "Schlaflose Tage". Nicht weniger spannungsvoll erscheinen schließlich auch die Versuche des schon halb in den Westen Übergesiedelten, noch in der deutsch-deutschen Doppelexistenz ein loyaler Bürger der DDR (und Sohn seines Vaters) zu bleiben. Immer aber werden sie durchkreuzt von der Renitenz, die ihm seit der Studienzeit, verstärkt dann nach der Ausbürgerung seines Freunds Wolf Biermann, eine fast ununterbrochene Überwachung durch die Staatssicherheit einbrachte. Mit dem Kreuzberger Anwalt Liebling, verkörpert durch seinen Lebensfreund Manfred Krug, hat er dieser Widerborstigkeit ein unvergeßliches Denkmal gesetzt. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Sander L. Gilman hat diese Lebensgeschichte eines Freundes in englischer Sprache für deutsche Leser erzählt, mit liebevoller Anteilnahme und dabei doch nüchtern bis an den Rand des Spröden. (Das letztere wird durch die wenig geschmeidige Übersetzung noch verstärkt.)
"Beobachten" wolle er, schreibt er im Vorwort, nicht "etikettieren". Und dennoch erweist sich ebendies als ein Grundproblem seines Buches. Gilman, der große Erforscher ethnischer Stereotypien, antijüdischer Zerrbilder und des "Jewish Self-Hatred" (1982), erzählt vom Leben und Schreiben Jurek Beckers als einer ihrer selbst zunehmend bewußt werdenden Auseinandersetzung mit der jüdischen Herkunft, als eines Versuchs, die negative Bestimmung des Stigmas durch eine positive jüdische Identität zu überwinden. Das literarische Werk scheint ihm darin so recht zu geben wie die zögernden und späten Versuche Beckers, sich mit jüdischen Traditionen vertraut zu machen, widerstrebend auch mit dem beargwöhnten Staat Israel.
Zugleich aber widerspricht auch niemand dieser Deutung so energisch wie Becker selbst, der sich weder auf die Rolle des Opfers noch überhaupt auf die eines jüdischen Schriftstellers festlegen lassen wollte. Gilman referiert auch dies getreulich. Immer wieder hat sich Becker tatsächlich schon gegen die Bezeichnung als "Jude" gewehrt und provozierend gefragt, warum eigentlich Kinder von Katholiken aus der Kirche, aber Kinder von Juden nicht aus dem Judentum austreten könnten. Angesichts solcher quälenden Ambivalenzen gerät Gilmans Darstellung in das unausweichliche Dilemma, deuten zu müssen, was er nur beobachten wollte; und da kommen eigene Wünsche ins Spiel. Spürbar schmerzt Beckers zähes Bemühen um Distanzierung von seiner Herkunft seinen Biographen, und ebenso spürbar erleichtert ihn jedes Signal für eine doch auf das Judentum gerichtete Neugier. Einmal erklärt er geradezu, die Spannung von "verborgener" und öffentlicher "Identität als Jude" sei für Becker schlechterdings "der Schlüssel zu seinem Werk ebenso wie zu seinem Selbstverständnis". Das ist eine erstaunlich kategorische Behauptung, und man versteht, daß Gilman sie in einer Fußnote eher versteckt als verkündet. Nicht daß sie nicht eine bedenkenswerte Hypothese über den Verfasser von Büchern wie "Bronsteins Kinder" und "Der Boxer" formulierte - aber weiter könnte man sich vom nüchternen "Beobachten" kaum entfernen. Wenn in Beckers DDR-Roman "Irreführung der Behörden" der Held Gregor einmal bemerkt, niemand könne "mit einer anderen Nase herumlaufen als mit seiner eigenen", dann hält Gilman auch dies - obgleich es ausdrücklich "keinerlei Hinweis darauf gibt, daß Gregor jüdisch ist" - für "eine unmißverständliche Metapher"; dann glaubt er eine jüdische Physiognomie aufgespürt zu haben. Aber wie hätte Becker, unter diesem Blick, solchen Festlegungen seiner Romanfiguren auf die Herkunft ihres Verfassers eigentlich überhaupt entgehen können?
So gründlich Gilman Leben und Werk Jurek Beckers recherchiert hat, so wortkarg bleibt er leider in den Angaben zu dessen Anregern und Vorbildern. "Jurek Becker erblickte bei Kafka ein Gespür für die Details des Lebens" - das hätte man schon gern etwas genauer gehabt. Gilmans eindringlichem Porträt selbst tut diese Lakonie freilich wenig Abbruch. Einmal fällt sein Blick auf das Grab des Freundes, der 1997 mit neunundfünfzig Jahren an Krebs gestorben ist: auf das Häufchen kleiner Steine "auf dem Grabstein eines neuen Deutschen in einem neuen Deutschland". Das ist der letzte Satz.
HEINRICH DETERING
Sander L. Gilman: "Jurek Becker". Die Biographie. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Schmidt. Ullstein Verlag, München und Berlin 2002. 336 Seiten, geb., 22,- [Euro].
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