Kabir, ein einfacher Weber aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, ist einer der größten Mystiker und Dichter Indiens. Er gehörte der nordindischen Bhaktibewegung an, die sich von dem strengen Zeremoniell der Brahmanenpriester lossagte und keine Kastenunterschiede gelten ließ. Die Bhaktianhänger suchten den unmittelbaren Zugang zum Göttlichen durch die persönliche und liebende Hingabe. Kabir ist geprägt vom Hinduismus und der mystischen Tradition des Islam (Sufismus). Er ließ alle religiösen Abgrenzungen, Vorschriften und Theologien hinter sich. In der mystischen Einswerdung mit dem Göttlichen fand er Gott in sich und in allen Wesen.Seine Verse - ekstatische Liebesgedichte, Spottlieder gegen religiöse Fanatiker und Heuchler, kurze Unterweisungen in der Form von Zweizeilern - haben nur ein Ziel: In einer ganz direkten Sprache seine Zuhörer zur eigenen Begegnung mit Gott zu führen.
Im indischen Volk haben die Heiligen und mythischen Helden noch eine eigentümliche Aktualität. Ihre Taten und Worte haben weiterhin Vorbildcharakter für einfache, schulisch ungebildete Menschen. Das Fernsehen nutzt diese Popularität aus und zeigt Serien über das Leben der Helden und Heiligen. Die Politiker versuchen, in ihre Rollen zu schlüpfen, um diese Popularität auszubeuten.
Eine solche Figur, die noch richtungweisende Bedeutung hat, ist der mittelalterliche Mystiker Kabir (1440 bis 1518, vorne in unserer zeitgenössischen Abbildung). Seine Lieder werden noch gesungen, sein Leben wird nacherzählt und sein Vorbild einer interreligiösen Toleranz als vorbildlich gepriesen. Die Legenden um seine Geburt und sein frühes Leben sind so unterschiedlich, daß unklar bleibt, ob er Muslim oder Hindu war oder beides oder ob er sich von einem zum anderen Glauben bekehrte. In dieser Unsicherheit liegt eben auch die inspirierende Vorbildlichkeit: "Ich bin nicht im Tempel, nicht in der Moschee, / Nicht in der Kaaba, nicht im Kailash." So läßt Kabir Gott sprechen; und das Fazit ist eine konsequente Transzendierung: "Ich bin in jedem Atemzug aller."
Diese unentwegte Transzendierung aller Vorstellungen von Gott, aller religiösen Klischees, aller Idolatrie ist heute noch so frisch und notwendig wie zur Entstehungszeit von Kabirs Liedern. Wie Franziskus im Christentum ist Kabir der Revolutionär der beengenden sozialen und religiösen Systeme seiner Zeit. Sein Pantheismus relativierte sie, er verurteilte sie jedoch nicht als solche. Kabirs Lehre war so einfach wie radikal: "Gottesliebe genügt." Seine Gottesvorstellung blieb dabei überpersönlich, obwohl er persönliche Gottesattribute benutzte. Das Paradox ist eben, wie bei vielen Mystikern, ein wichtiges Ausdrucksmittel.
Rabindranath Tagore hat Kabir ins Englische übersetzt, auch deutsche Übersetzungen hat es verstreut gegeben. Die vorliegende Auswahl von 123 Liedern in der Übersetzung von Shubhra Parashar stellt uns Kabir umfassend und wohltuend einfach vor. Die Erklärungen bleiben auf ein Minimum beschränkt, der gründliche Einführungsteil genügt durchaus zum Verständnis. Einer der wichtigsten Mystiker Indiens ist uns zugänglich geworden.
MARTIN KÄMPCHEN
Kabir: "Kabir fand sich im Gesang". Verse des indischen Dichters und Mystikers. Aus dem Hindi übersetzt von Shubhra Parashar. YinYang Media Verlag, Kelkheim 2006. 154 S., br., 12,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Kabir fand sich im Gesang". Verse des indischen Dichters und Mystikers Der Rezensent Martin Kämpchen freut sich, dass mit dieser Veröffentlichung der indische Mystiker Kabir der deutschen Leserschaft vorgestellt wird. Dessen Ansatz, über Religion zu reden und alle konkreten Vorstellungen von Gott immer wieder mit "unentwegter Transzendierung" zu begegnen, ist nach Einschätzung des Rezensenten heute noch so "frisch und notwendig" wie im 16. Jahrhundert. Kämpchen lobt, dass sein Denken uns "umfassend und wohltuend einfach" vorgestellt wird. Auch wenn begleitende Erklärungen knapp gehalten sind, sei alles enthalten, worauf es ankommt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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