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Mit KADDISH XI - XXI setzt Paulus Böhmer sein opus magnum fort, ein über Jahrzehnte entstandenes lyrisches Großwerk, wie es in deutscher Sprache lange keines gab - ein literarisches Ereignis, nicht weniger als die poetische Inventur der Welt. Paulus Böhmers Gedichte sind nicht genügsam, sie sind lang. Gern über zehn Seiten hinweg fließt der Wortstrom und wird zu einer 'Form des Atmens' (Thomas Hettche). Und er wird zu Klang: Böhmers Gedichte sind nach musikalischen Vorgaben konstruierte symphonische Gefüge. In ihnen findet sich tiefste Trauer, und immer Trotz und Zärtlichkeit.

Produktbeschreibung
Mit KADDISH XI - XXI setzt Paulus Böhmer sein opus magnum fort, ein über Jahrzehnte entstandenes lyrisches Großwerk, wie es in deutscher Sprache lange keines gab - ein literarisches Ereignis, nicht weniger als die poetische Inventur der Welt. Paulus Böhmers Gedichte sind nicht genügsam, sie sind lang. Gern über zehn Seiten hinweg fließt der Wortstrom und wird zu einer 'Form des Atmens' (Thomas Hettche). Und er wird zu Klang: Böhmers Gedichte sind nach musikalischen Vorgaben konstruierte symphonische Gefüge. In ihnen findet sich tiefste Trauer, und immer Trotz und Zärtlichkeit.
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Autorenporträt
Paulus Böhmer (1936-2018) studierte Jura, Architektur und Germanistik, lernte Industriekaufmann und arbeitete u.a. als Stauden- und Ziergraszüchter, Reizwarenlieferant, Lektor und Werbetexter. Von 1985 bis 2001 leitete er das Hessische Literaturbüro in Frankfurt am Main.2010 wurde Paulus Böhmer für sein lyrisches Gesamtwerk mit dem Hölty-Preis ausgezeichnet, 2011 erhielt er die Goethe-Plakette des Landes Hessen. 2013 wurde ihm die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt und der Robert Gernhardt Preis zugesprochen. 2015 wurde ihm der Peter-Huchel-Preis verliehen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.02.2008

Die Amsel in den Speichen
Paulus Böhmer setzt seine lyrische Weltbeschwörung fort: „Kaddish XI-XXI”
Schon das Muster hat etwas Paradoxes: Der Text des Kaddisch, das im Judentum von den Hinterbliebenen stellvertretend für die Verstorbenen gebetet wird, ist ein einziger Lobpreis Gottes und der Welt, die der Verstorbene gerade verlassen musste. Was wäre naheliegender, als nach dem Tod eines geliebten Menschen die Schöpfung zu verfluchen? Ganz anders will es das Kaddisch, das auch im Vaterunser weiter lebt: „Erhoben und geheiliget werde sein großer Name auf der Welt, die nach seinem Willen von ihm erschaffen (. . .)”. Ein profunder Kritiker des Kaddisch wäre Hiob. Man darf ihn ohne Umstände als den entschiedensten Gegner der positiven Lehre sehen. Man kann die beiden Haltungen aber auch als Ergänzung zueinander gelten lassen. Der Text des Kaddisch, der die Gläubigen bei der Stange zu halten versucht und damit martern kann; Hiobs Wutausbruch, der seine reinigende Wirkung hat.
Der mittlerweile zweiundsiebzig Jahre alte, in Frankfurt lebende Paulus Böhmer wirkt wie eine eigenwillige Mischung aus Hiob und Traditionalist. Vor sechs Jahren hat er den ersten Teil seines „Kaddish” vorgelegt, nun ist der zweite erschienen. Die Welt, die darin vorgeführt wird, ist schwarz, kein Zweifel. Doch das bringt Böhmer nicht davon ab, sie zu lieben und über Hunderte Seiten hinweg zu loben. Der Text des traditionellen Kaddisch ist gerade mal zwei Dutzend Zeilen lang, doch was Böhmer vor seinen Lesern ausbreitet, ist ein wunderbarer Wortschwall, der Hunderte Kaddischs verschiedenen Inhalts sowie unterschiedlicher Form und Länge kombiniert. Jeder steht auch für sich.
Manche sind reine Aufzählungen, exzentrische Huldigungen von Brandmauern, Schlüpfern, Schokoriegeln und Schamlippen. „Für das Nachleben in den Irrlichtern auf den Ikonen, für die vergoldeten Masken, die Haarlocken, für die törichten Marmorplatten, die Säulen, die Pilaster.” Andere gehen über in persönliche Geschichten, spielen mal vorsichtig, mal direkt mit dem eigenen Ende: „Kaddish den Zierleisten des Damms, den Bauchfellen, / den zerkauten Landzungen eines noch nicht / zu Ende gedachten Kontinents, dem tiefen päpstlichen Süden, dem tiefen / traurigen Nord. Bald / wird mein nächster Halt auch schon mein letzter sein. So / rinnen Schlösser, aus Sand gebaut, in die See.”
Das vielbeschworene Negative ist nicht immer dominierend, überhaupt schreibt Böhmer eine Sprache, die den Gegensatz zwischen Gut und Böse für eine langweilige Abstraktion halten lässt. „Fett und ruhig / wie ein Ölteppich auf tiefen Wassern / trieb der Ton dahin. / John Lee Hooker rieb / die Stimme stammelnd an den Worten, / sang von verlassenen Hafenbecken, sang von Schlamm und Scham, / von den Viren im Urin der Nager, / schlecht für das Leben für die Liebe gut.”
So beginnt das Buch, das auf knapp 340 Seiten Kaddisch 11 bis 21 umfasst, die sich in viele kleine Kaddischs auffalten. Den Rhythmus, den der Text anschlägt, verliert er nicht mehr. Man kann wohl sagen, dass Böhmer in der neueren deutschsprachigen Literatur wenige Nachbarn hat, die ihm das Wasser reichen können. Paul Wühr vielleicht, ein anderer Einzelgänger und Großgedichtschreiber. Doch Wührs Texte sind selbstbezogener, bespiegeln sich in immer neuen, mal schlangenhaft, mal geometrisch anmutenden Beschwörungen ausgesuchter Frauenkörper. Die gibt es gelegentlich auch bei Böhmer, aber er ist, um eine alte Begriffskonstellation zu zitieren, eher Dionysiker als Apolliniker.
Bei Böhmer merkt man, dass alles Dargestellte von dieser Welt ist, nicht nur im erotischen Sinn. „Ich sah, wie Kollaborateure und Zeugen / in die Dolinen des Karsts geschossen wurden, und der Bomber / zog noch einen langen, langsamen Halbkreis /, bevor er explodierte. Ich sah eingetretene Türen / und die winzigen Kothäufchen und Häute der Speckkäfer / neben den Skeletten.”
John Lee Hooker, das zweite Ich
„Ich sah” gehört zu den vielen stellvertretenden Formeln, die Böhmer für sein „Kaddish” findet. Wirklichkeitsecht träumt er sich in die verschiedensten Schicksale, Landschaften, Zeiten. John Lee Hooker ist womöglich sein zweites Ich, aber es gibt viele davon, und noch mehr Figuren, die die unterschiedlichsten Geschichten erleben: „Ulrikes Arme sind verkratzt und geschwollen. / Kokain-Akne sagt Krause von den Maltesern. / Bobby wiegt fast zweihundert Kilo, ist geistig behindert, / will Präsident werden.”
Böhmers detailverliebte Weltbeschwörung wirkt wie eine rauschende Feier der einzelnen Dinge und der Differenz, die sie trennt. Diese kann manchmal auch fein, geradezu zivilisiert daherkommen: „Kaddish dem Abgrund zwischen einem Blütenstil und dem nächsten. Schon nach wenigen Minuten haben die Lebenden und die Toten sich nichts mehr zu sagen. Die Zofe blickt dem König erwartungsvoll in die Augen: die Buhle ist tot, tot, tot / gleich wie ein eitel Traum (. . . ).” Dennoch bleibt Böhmers Sprache schwelgerisch, überströmend, wirkt oft wie eine seltsame Mischung von Manierismus und Kraft, wie ein entschiedenerer „Größerer Versuch über den Schmutz”. Mit den fein ziselierten, „formbewussten” Texten, die den deutschsprachigen Lyrikbetrieb derzeit prägen, hat das wenig zu tun. Doch Böhmer zeigt auch, wie unsinnig der Begriff „formbewusst” ist, wenn er lediglich Traditionsbastelei meint. Einfach und klassisch wirkt Böhmers Kaddisch – im Vergleich zu seinen wilderen, Bürgerschreck-Anfängen der Sechziger. Trotzdem bleibt er sprachbewusst; bezieht sich auf unzählige Bilder und schafft doch – so überzeugend wie überraschend – neue, eigenständige. Für den Urknall hat er nicht viel übrig, „wichtiger ist mir die Amsel, / die, April 45, in die Speichen des Fahrrades flog / und – sie zuckte nur wenig – vor meinen Augen starb.”
Nicht ganz zu Unrecht gilt Böhmer als deutschsprachiger Ex-Beat-Poet. Da liegt, schon wegen der englisch anmutenden Umschrift des Titels, der Hinweis auf Allan Ginsbergs „Kaddish” nahe. Doch Ginsbergs persönliches, fünfzehn Seiten langes Gedicht, ist vor allem die hymnische Erinnerung seiner Mutter Naomi und ihrer Zeit. Böhmer hat sich mindestens das gesamte zwanzigste Jahrhundert vorgenommen, er weilt neben der Chicagoer Gangsterwelt in mythischen Gefilden. Sein Kaddisch ist ein Requiem für Hunderte tote und gegenwärtige Menschen und Dinge, und trotzdem ist es wie aus einem Guss, in einer einzigen, wunderbar vielfältigen Sprache geschrieben. Diese Sprache ist es, die alles zusammenhält. Da braucht es nur wenige, fragmentarische Handlungssequenzen. Wenn schon Ginsberg, dann eher dessen prächtiges, großes Geheul „Howl”, das von ähnlichem Pathos für unsere durchwachsene Welt beseelt ist.
Doch die unvergleichliche Energie, die hier am Werk ist, hat, ganz deutlich, noch eine andere Seite, einen zweiten Grund, dem man erst allmählich auf die Spur kommt. Dieses zweite Zentrum neben der unerschöpflichen Sprachenergie ist das nicht ganz unblasphemische Abdanken des Ich. Paul Böhmers „Kaddish” ist nicht nur Lobpreis all dessen, was das lyrische Ich sieht und erfühlt, für seine Freunde, seine Erinnerungen, auch an all das Gesehene, an das er sich nicht erinnere, wie es einmal heißt. Es geht, wie angedeutet, in dieser erstaunlichen Wahrnehmungsfeier, diesem unerwarteten Wahrnehmungs- und letztlich auch Gottesbeweis, ganz existentiell auch um den leibhaftigen Autor selbst, um das Erinnern und Verfluchen eines teuflischen Tiers namens „Krebs.” HANS-PETER KUNISCH
PAULUS BÖHMER: Kaddish XI bis XXI. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2007. 338 Seiten, 24 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hingerissen ist Hans-Peter Kunisch von der Kraft und der verschwenderischen Fülle des "Kaddish XI bis XXI". Er preist den Autor Paulus Böhme als Ausnahmeerscheinung unter den deutschsprachigen Lyrikern. Der Kaddish ist das jüdische Totengebet, in dem traditionsgemäß das Lob Gottes und die Schönheit der Welt in gewöhnlich 24 Zeilen besungen wird, erklärt der Rezensent. Böhmer macht daraus einen überbordenden "Wortschwall", in dem er in einzelnen Kaddishs, die für sich allein stehen könnten und gleichzeitig ein großartiges Ganzes sind, eine überwiegend schwarze Welt beschwört. Dazu geselle sich aber auch häufig eine "rauschende Feier" von Verstorbenen und Lebenden, von verschwundenen und gegenwärtigen Dingen und dabei unternehme der Lyriker einen Streifzug durch das gesamte 20. Jahrhundert, so Kunisch bewundernd. Ihn fasziniert die einzigartige "Energie", die die Gedichte durchzieht und während er in den Kaddish auch eine Abkehr vom Ich beobachtet, so sieht er gleichzeitig auch eine rauschhafte "Wahrnehmungsfeier", mit der Böhme auch auf die eigene Krebserkrankung reagiert, wie der Rezensent diskret durchblicken lässt.

© Perlentaucher Medien GmbH
'Eine rauschende Feier der einzelnen Dinge und der Differenz, die sie trennt. (.) In einer einzigen, wunderbar vielfältigen Sprache geschrieben.' Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung 'Ein orgiastisch sprudelnder Wortbrunnen.' Jan Röhnert, Der Tagesspiegel 'Zwischen high and low, Popsong und Gebet wird in diesem lyrischen Marathon nicht unterschieden. (.) Ein aufwühlendes, mitreißendes Leseerlebnis.' Augsburger Allgemeine