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Ob Juristen, Philosophen oder Theologen, ob Publizisten oder Politiker: Alle berufen sich auf die Würde des Menschen und ihre Unantastbarkeit. Doch niemand vermag genau zu sagen, was darunter zu verstehen ist. Manfred Baldus versucht in seinem Gang durch die jüngere deutsche Rechts- und Ideengeschichte zu erklären, wie es zu dieser paradoxen Lage kommen konnte. Er berichtet von christlichen Dominanzgewinnen und verzweifelten Positionsbehauptungen, ideologiekritischen Eindämmungsversuchen, soziologischen Gegenkonzepten und ausgefeilten Minimierungsstrategien, kurz: von mitunter erbittert…mehr

Produktbeschreibung
Ob Juristen, Philosophen oder Theologen, ob Publizisten oder Politiker: Alle berufen sich auf die Würde des Menschen und ihre Unantastbarkeit. Doch niemand vermag genau zu sagen, was darunter zu verstehen ist. Manfred Baldus versucht in seinem Gang durch die jüngere deutsche Rechts- und Ideengeschichte zu erklären, wie es zu dieser paradoxen Lage kommen konnte. Er berichtet von christlichen Dominanzgewinnen und verzweifelten Positionsbehauptungen, ideologiekritischen Eindämmungsversuchen, soziologischen Gegenkonzepten und ausgefeilten Minimierungsstrategien, kurz: von mitunter erbittert geführten Meinungsschlachten. Und er fragt, ob es einen Ausweg aus der verfahrenen Lage gibt, sich also klären lässt, was es mit der Menschenwürde auf sich hat.
Autorenporträt
Baldus, ManfredManfred Baldus ist Professor für Öffentliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt und Mitglied des Thüringer Verfassungsgerichtshofs.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2016

Konkrete Verbote braucht der Jurist
Manfred Baldus verfolgt die deutschen Debatten um die Garantie der Menschenwürde im Grundgesetz

Menschenwürde, sagte die katholische CDU-Abgeordnete Helene Weber im Parlamentarischen Rat, sei ein sehr treffender, einfacher und schlichter Ausdruck: "Es bleibt dem Einzelnen unbenommen, ob er von religiösen, philosophischen, ethischen oder geschichtlichen Einsichten ausgeht. Aber dass wir in der geschichtlichen Stunde die Würde des Menschen an den Anfang der Verfassung stellen, halte ich für sehr bedeutsam." Die Garantie der Menschenwürde im ersten Absatz des ersten Artikels des Grundgesetzes bedeutete für die meisten Mitglieder des Parlamentarischen Rates ein dreifaches Versprechen: die Abkehr von Nationalsozialismus und die Ablehnung des Bolschewismus, dabei aber zugleich das Gelöbnis, den neuen Staat auf die "innere Freiheit" (Christoph Goos) des Menschen zu gründen. So ist jener erste Satz des Grundgesetzes vielleicht die einzige politische Utopie, die in Deutschland geltendes Verfassungsrecht geworden ist.

Als Verfassungsrechtssatz fiel sie damit in die Zuständigkeit der Juristen. Das Buch, das der Staatsrechtler Manfred Baldus über die Interpretationsgeschichte der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes geschrieben hat, handelt von den Folgen dieser Kompetenzverschiebung: Unter den Händen der Juristen wurde die Würde nämlich zu einer Norm, die den Leuten vornehmlich allerlei verbieten sollte: Gewaltdarstellungen, Zwergenweitwurf, Nudismus, Peep-Shows, anzügliche Werbung, Schwangerschaftsabbrüche, In-vitro-Fertilisation und Humangenetik, neuerdings auch das Tragen von Burka und Niqab.

Günter Dürig, Grundgesetzkommentator der ersten Stunde, machte den Würdeartikel schon in den fünfziger Jahren mit Hilfe einer kantischen Wendung zu einer unmittelbar anwendbaren Vorschrift: Die Menschenwürde verbiete es, den konkreten Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabzuwürdigen. Völlig zu Recht weist Baldus darauf hin, dass Dürigs sogenannter ethischer Personalismus keine neuartige Interpretation, sondern ein Amalgam der zeitgenössischen Abendlandliteratur war, stark beeinflusst von der vornehmlich katholischen Naturrechtsrenaissance nach 1945, eine typische Juristenphilosophie eben. Günter Dürig führte den Erfolg seiner Deutung später mit entwaffnender Ehrlichkeit auf die Rechtspraxis zurück: "Zwei Instanzen haben mitgezogen: Erstens das deutsche Bundesverfassungsgericht und zweitens der deutsche Repetitor. Dann hilft gar nichts, dann werden Sie zum Klassiker."

Nach dem Ende der Adenauerzeit wurde der Verfassungssatz zur Identitätsformel und Projektionsfläche ausnahmslos aller sogenannter Werte- oder Grundwertediskussionen in der Bundesrepublik, deren Problemfelder sich verschoben. Nun ging es um die Grenzen des Polizeistaates und die Humanisierung der Arbeitswelt, um die Kritik von Bürokratie, Polizei und Kapitalismus. Das Bundesverfassungsgericht billigte 1970 mit knapper Mehrheit die Einführung der heimlichen Telefonüberwachung als gerade noch vereinbar mit der Menschenwürde, die damit auch zur ultimativen normativen Grenze der staatlichen Terrorismusabwehr wurde: Isolationshaft, Rettungsfolter, Flugzeugabschuss. Und seit Ende der siebziger Jahre das erste Retortenbaby zur Welt kam, entsteht eine ganze Literatur, die aus der Würdegarantie Grenzen humangenerischer Techniken ableiten möchte. Vor allem die Debatten um In-vitro-Fertilisation, Stammzellforschung und Embryonenschutz werden in der Bundesrepublik seit den achtziger Jahren zusehends erbittert und ungemein kleinteilig geführt. Alle diese Debatten sind aber auch Lehrstücke, wie rasch sich moralische und moralphilosophische Erregungskurven wieder glätten, zuletzt etwa die Beunruhigung über aufgeregte Hirnforscher und ihre weitreichenden Thesen den freien Willen betreffend.

Baldus zeichnet den deutschen Würdediskurs mit großer Akribie nach und dokumentiert die einschlägige Literatur bis in alle Verästelungen. Gerade diese Vollständigkeit ist hier ausnahmsweise einmal hilfreich. Er stellt Bekenntnisse und Erkenntnisse unvermittelt nebeneinander und referiert die rechts-, freilich schon nicht mehr die fachphilosophische Literatur sowie die Karlsruher Rechtsprechung, zudem auch Entscheidungen einzelner Verwaltungsgerichte oder die Menschenwürdetheorie eines Oberrechtsrates aus der Stadtverwaltung von Lahr im Schwarzwald. Der Autor zeigt auf diese Weise, dass gerade die schnelle Vermehrung widersprüchlicher Deutungen die Intention der Verfassung in den Hintergrund treten ließ. Vielmehr wurde jetzt zunehmend der Verfassungsgerichtsbarkeit die Aufgabe zugeschoben, "den gesellschaftlichen Konsens zur Würdenorm festzustellen und diesen bei der Anwendung der Norm zugrunde zu legen". Menschenwürde wurde zur allgemeinen Affirmationsformel. Seit 2008 gibt es einen Roland-Berger-Preis für Menschenwürde, in dessen Jury Maria Furtwängler sitzt und zu dessen Preisträgern Helmut Kohl gehört.

Baldus plädiert angesichts dessen für einen Verzicht auf alle Theologie, Philosophie und Soziologie der Würde und dafür, den Satz von der Menschenwürde "mit einer juristisch-rationalen Methode" in "konkrete Verbotstatbestände" zu übersetzen. Das entspricht zumindest im Kern der etablierten Lehrmeinung, wonach die Menschenwürde-Garantie als Verfassungsrechtsnorm über, aber eben doch neben anderen Normen steht. Es fragt sich dann natürlich, ob das Problem des Würdediskurses in der Bundesrepublik bisher wirklich der Mangel an fachjuristischer Professionalisierung war. Die Gegenposition, für die sich der Sinn des Menschenwürde-Versprechens gerade nicht von dessen Rechtsfolgen, sondern von seinem Gegensatz zu allen Geboten des Rechts her erfassen lässt, ließe sich allerdings weitaus schwerer aktualisieren.

Denn das Utopische, das der Menschenwürdebegriff einmal besaß, verbindet sich heute aus zahlreichen Gründen vor allem mit Idealen der Gleichheit und Gleichberechtigung. Doch wo eine Politik Triumphe feiert, die beides, Gleichheit und Würde der Schwachen, mit Füßen tritt, ist das einerlei. Wie lassen sich heute elementare Standards des Rechts und der Humanität bewahren? Dafür gibt die Ideengeschichte jener glücklichen Jahrzehnte der Bundesrepublik naturgemäß wenig her.

FLORIAN MEINEL

Manfred Baldus: "Kämpfe um die Menschenwürde". Die Debatten seit 1949.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 451 S., br., 20,- [Euro].

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»Baldus zeichnet den deutschen Würdediskurs mit großer Akribie nach und dokumentiert die einschlägige Literatur bis in alle Verästelungen. Gerade diese Vollständigkeit ist ... hilfreich.« Florian Meinel Frankfurter Allgemeine Zeitung 20161122