Auszug aus der Reportage "Der Ruf des heilenden Wassers" von Peter Linden:
Täglich um zehn Uhr beginnt in Bad Kleinkirchheim eine alpine Peepshow. Und jeder, der am Ende der Kaiserburgabfahrt in den Zielhang einbiegt, muss auftreten. Wird gnadenlos begafft und bestaunt, wird streng bewertet und benotet und erntet schließlich Pfeifen oder Gelächter. Das Publikum hat sich hinter einem niedrigen Drahtzaun und etwas Wasserdampf verschanzt. Das Publikum trägt nichts als Badekleidung. Das Publikum hockt für 130 Schilling im warmen Freiluftbecken des Thermal-Römerbads. Ein Riesenspaß ist diese Peepshow für alle fußkranken Voyeure. Ganz oben ein Sturz in Rosarot. In der Mitte eine wahnsinnige Pirouette in Knallgelb. Und am Ende eine kleine Verzweiflung in Giftgrün. Das Publikum aber: blubbert und geifert ohne Gnade.
Ich blubbere und geifere mit. Schaulaufen auf Skiern ist meine Sache nicht, außerdem zwickt der Ischias. Aber nichts gegen die Pisten rund um Bad Kleinkirchheim: Satte 40 Kilometer sind bis in die Osterzeit künstlich beschneit und bestimmt noch mal so viel auf natürlichem Wege, wenn der Winter will. Die schwierigste Abfahrt, die FIS K70, trägt ihren Namen, weil dort 1970 der leibhaftige Franz Klammer seinen ersten Europacup-Sieg ins Tal fuhr. Inzwischen haben sich sogar die unerschrockenen Snowboarder in Bad Kleinkirchheim eingelebt, auf eigenen Hängen mit allen technischen Finessen.
Aber mehr als das lockt doch der Ruf des heilenden Wassers. Augenquelle hieß das Brünnlein von St. Kathrein im Mittelalter, doch heute wäre diese schmale Beschreibung eine Beleidigung. Das Informationsblatt der Therme zählt 16 Krankheiten von Rheuma bis Migräne auf, bei denen "Wirkung erzielt worden" sei. Die Analyse des leicht radioaktiven Wassers hat ergeben, dass darin 26 Stoffe enthalten sind, darunter 0,005 Milligramm Hydrogenarsenat pro Liter. Nie gehört, aber fantastisch, was sich in so klarem Wasser alles tummelt! Ich schätze den Gehalt von Hydrogenarsenat in unserem Freiluftbecken auf zwei Kilo.
Solche wie ich kommen dem Kurarzt Dr. Erich Skribot gerade recht. Ein paar Tage Wellness-Urlaub machen! Das Heilwasser nicht ernst nehmen! Skribot, 57 Jahre alt und ziemlich streng im Gesicht, lehnt sich in seinem Arztstuhl zurück und schaut durchs Fenster auf die Plantschenden in der St.-Kathrein-Therme. "Seit 30 Jahren sitze ich hier", sagt er plötzlich, "und seit 30 Jahren zerbreche ich mir den Kopf, was da Besonderes ist mit diesem Wasser." Dann sagt er, dass die Wissenschaftler eigentlich nichts beweisen könnten. Dass der Körper von den Stoffen viel mehr hätte, wenn sie einfach getrunken würden. Dass es aber doch all diese Erfolge gebe, diese wunderlichen Erfolge. "Vielleicht", sagt der Mediziner, "gibt das Wasser ultrafeine Schwingungen an den Körper weiter, die es in 1000 Jahren den Felsen, der Erde entnommen hat."
Derart sensibilisiert, ziehe ich mich in mein Hotel zurück, das seit 1909 rund um die Augenquelle wuchs und gedieh: das Ronacher. Wer hierher kommt, erhofft sich Kontakt mit den ultrafeinen Schwingungen, will es aber nicht zugeben. Wer hierher kommt, sucht wunderliche Erfolge, ohne seine Gebrechen hinauszuposaunen. Das Wort Kur ist tabu. In erster Linie ist das Ronacher ein Fünf-Sterne-Hotel mit entsprechend distinguierter Klientel. Der Prospekt verheißt "Vitalisierung von Seele und Körper". Er preist die "Highlights aus dem Beauty-Programm: Stress Release, sanfte Fruchtsäure-Behandlung, Therapie Cocon". Man kann selbstverständlich auch zum "Body Styling" gehen.
Nicht, dass das Ronacher besonders kühn wäre bei seinen Formulierungen. Anderswo in und um Bad Kleinkirchheim werden ganz andere Dienstleistungen verheißen. Im nahe gelegenen Hotel St. Oswald etwa soll heute Abend ein einziger Vortrag folgende Fragen beantworten: "Woher kommen wir - wohin gehen wir? Was kann der Mensch wissen, was darf er hoffen, und was soll er tun?" Ich komme aus München und gehe jetzt gleich zu Elvira Kaimbacher. Ich hoffe, dass mein Ischias bald nicht mehr zwickt.
Gemessen am Angebot in St. Oswald kommt mir meine "Gesundheitstrainerin" Elvira doch ziemlich normal vor. Lächelnd zieht die 29-Jährige eine gelbe Karte aus ihrem Schreibtisch, auf der einfach "Abonnement" steht. Und dann gestalten Elvira und ich meine ganz persönlichen Wellness-Tage. Es beginnt mit einem "Pflegetag für den Herrn" und wird mit einer "Heublumenpackung" enden. Dass sich auf Seite vier der Karte ein rätselhafter Eintrag "Erlegt wurden lt. Beleg v. S. für" findet, beunruhigt mich nur kurz. "Erlegt", so tröste ich mich, wird wohl ...sterreichisch sein. Man muss außerdem nicht alles wissen.
Auch nicht, dass es bei der Pediküre zugeht wie beim Zahnarzt. Kosmetikerin Michaela hat einen Bohrer! Und einen Schleifer! Sie behauptet, dass meine Zehennägel weiß und rillenfrei sein sollten. Sie behauptet, dass die Häutchen vor dem Nagelbett zurückgeschoben und wegskalpiert werden müssten. Sie versteift sich darauf, mir die Hornhaut von der Sohle zu feilen, was sich anfühlt wie Schuhputzen ohne Schuh. "Man kann die Probleme eines Menschen an seinen Füßen erkennen", sagt sie, und ich erschrecke, weil ich mir plötzlich so nackt vorkomme. Erst als Michaela "Sixtus Fußbalsam Elegance" einmassiert, ist das Gefühl wieder weg.
Und kommt sofort wieder bei der Maniküre. "Sie zupfen?", forscht Michaela und schaut mich mit schonungsloser Gewissheit an: nervöser Typ, bisschen hektisch, Hang zur Selbstzerstörung. Und all das, weil ich manchmal an der Haut meiner Daumen zupfe. Schon liegen meine Finger in jener Tinktur, welche einst Tilly im Palmolive-Studio entsetzten Hausfrauen aufzwang. Doch dann erlebe ich die Wonnen des Feilens, Zupfens (jawohl, auch Michaela zupft!), Einbalsamierens und Massierens und bekomme entsetzlich Lust, genau jetzt die Mondscheinsonate zu spielen und dabei meinen glatten, weichen Fingern bis in die obersten Oktaven hinterherzustaunen.
Geht natürlich nicht, weil der "Pflegetag für den Herrn" sofort in eine "Gesichtsbehandlung mit Tiefenreinigung" mündet. Nach einer ersten Maske mit weißer Heilerde bläst mir der "Vap-O-Herb Model 12" zwanzig Minuten lang Dampf ins Gesicht. Danach drückt Michaela ein paar Pickel aus und massiert und massiert und massiert. Von der Decke rieselt "Visions of a new World" von Christian Maria Haug, Musik von der Art, wie sie ertönt, wenn Reisen in die Esoterik anstehen. Am Ende erhalte ich eine Augenmaske mit Gurkenextrakten zur Straffung meiner Haut.
Ab diesem Moment ist alles anders. Ich bin aufgenommen in die Wellness-Welt. Milde Blicke der anderen Hotelgäste streicheln mich, wenn ich im weißen Bademantel durch die hoteleigene Carinthische Therme wandle. ...
Täglich um zehn Uhr beginnt in Bad Kleinkirchheim eine alpine Peepshow. Und jeder, der am Ende der Kaiserburgabfahrt in den Zielhang einbiegt, muss auftreten. Wird gnadenlos begafft und bestaunt, wird streng bewertet und benotet und erntet schließlich Pfeifen oder Gelächter. Das Publikum hat sich hinter einem niedrigen Drahtzaun und etwas Wasserdampf verschanzt. Das Publikum trägt nichts als Badekleidung. Das Publikum hockt für 130 Schilling im warmen Freiluftbecken des Thermal-Römerbads. Ein Riesenspaß ist diese Peepshow für alle fußkranken Voyeure. Ganz oben ein Sturz in Rosarot. In der Mitte eine wahnsinnige Pirouette in Knallgelb. Und am Ende eine kleine Verzweiflung in Giftgrün. Das Publikum aber: blubbert und geifert ohne Gnade.
Ich blubbere und geifere mit. Schaulaufen auf Skiern ist meine Sache nicht, außerdem zwickt der Ischias. Aber nichts gegen die Pisten rund um Bad Kleinkirchheim: Satte 40 Kilometer sind bis in die Osterzeit künstlich beschneit und bestimmt noch mal so viel auf natürlichem Wege, wenn der Winter will. Die schwierigste Abfahrt, die FIS K70, trägt ihren Namen, weil dort 1970 der leibhaftige Franz Klammer seinen ersten Europacup-Sieg ins Tal fuhr. Inzwischen haben sich sogar die unerschrockenen Snowboarder in Bad Kleinkirchheim eingelebt, auf eigenen Hängen mit allen technischen Finessen.
Aber mehr als das lockt doch der Ruf des heilenden Wassers. Augenquelle hieß das Brünnlein von St. Kathrein im Mittelalter, doch heute wäre diese schmale Beschreibung eine Beleidigung. Das Informationsblatt der Therme zählt 16 Krankheiten von Rheuma bis Migräne auf, bei denen "Wirkung erzielt worden" sei. Die Analyse des leicht radioaktiven Wassers hat ergeben, dass darin 26 Stoffe enthalten sind, darunter 0,005 Milligramm Hydrogenarsenat pro Liter. Nie gehört, aber fantastisch, was sich in so klarem Wasser alles tummelt! Ich schätze den Gehalt von Hydrogenarsenat in unserem Freiluftbecken auf zwei Kilo.
Solche wie ich kommen dem Kurarzt Dr. Erich Skribot gerade recht. Ein paar Tage Wellness-Urlaub machen! Das Heilwasser nicht ernst nehmen! Skribot, 57 Jahre alt und ziemlich streng im Gesicht, lehnt sich in seinem Arztstuhl zurück und schaut durchs Fenster auf die Plantschenden in der St.-Kathrein-Therme. "Seit 30 Jahren sitze ich hier", sagt er plötzlich, "und seit 30 Jahren zerbreche ich mir den Kopf, was da Besonderes ist mit diesem Wasser." Dann sagt er, dass die Wissenschaftler eigentlich nichts beweisen könnten. Dass der Körper von den Stoffen viel mehr hätte, wenn sie einfach getrunken würden. Dass es aber doch all diese Erfolge gebe, diese wunderlichen Erfolge. "Vielleicht", sagt der Mediziner, "gibt das Wasser ultrafeine Schwingungen an den Körper weiter, die es in 1000 Jahren den Felsen, der Erde entnommen hat."
Derart sensibilisiert, ziehe ich mich in mein Hotel zurück, das seit 1909 rund um die Augenquelle wuchs und gedieh: das Ronacher. Wer hierher kommt, erhofft sich Kontakt mit den ultrafeinen Schwingungen, will es aber nicht zugeben. Wer hierher kommt, sucht wunderliche Erfolge, ohne seine Gebrechen hinauszuposaunen. Das Wort Kur ist tabu. In erster Linie ist das Ronacher ein Fünf-Sterne-Hotel mit entsprechend distinguierter Klientel. Der Prospekt verheißt "Vitalisierung von Seele und Körper". Er preist die "Highlights aus dem Beauty-Programm: Stress Release, sanfte Fruchtsäure-Behandlung, Therapie Cocon". Man kann selbstverständlich auch zum "Body Styling" gehen.
Nicht, dass das Ronacher besonders kühn wäre bei seinen Formulierungen. Anderswo in und um Bad Kleinkirchheim werden ganz andere Dienstleistungen verheißen. Im nahe gelegenen Hotel St. Oswald etwa soll heute Abend ein einziger Vortrag folgende Fragen beantworten: "Woher kommen wir - wohin gehen wir? Was kann der Mensch wissen, was darf er hoffen, und was soll er tun?" Ich komme aus München und gehe jetzt gleich zu Elvira Kaimbacher. Ich hoffe, dass mein Ischias bald nicht mehr zwickt.
Gemessen am Angebot in St. Oswald kommt mir meine "Gesundheitstrainerin" Elvira doch ziemlich normal vor. Lächelnd zieht die 29-Jährige eine gelbe Karte aus ihrem Schreibtisch, auf der einfach "Abonnement" steht. Und dann gestalten Elvira und ich meine ganz persönlichen Wellness-Tage. Es beginnt mit einem "Pflegetag für den Herrn" und wird mit einer "Heublumenpackung" enden. Dass sich auf Seite vier der Karte ein rätselhafter Eintrag "Erlegt wurden lt. Beleg v. S. für" findet, beunruhigt mich nur kurz. "Erlegt", so tröste ich mich, wird wohl ...sterreichisch sein. Man muss außerdem nicht alles wissen.
Auch nicht, dass es bei der Pediküre zugeht wie beim Zahnarzt. Kosmetikerin Michaela hat einen Bohrer! Und einen Schleifer! Sie behauptet, dass meine Zehennägel weiß und rillenfrei sein sollten. Sie behauptet, dass die Häutchen vor dem Nagelbett zurückgeschoben und wegskalpiert werden müssten. Sie versteift sich darauf, mir die Hornhaut von der Sohle zu feilen, was sich anfühlt wie Schuhputzen ohne Schuh. "Man kann die Probleme eines Menschen an seinen Füßen erkennen", sagt sie, und ich erschrecke, weil ich mir plötzlich so nackt vorkomme. Erst als Michaela "Sixtus Fußbalsam Elegance" einmassiert, ist das Gefühl wieder weg.
Und kommt sofort wieder bei der Maniküre. "Sie zupfen?", forscht Michaela und schaut mich mit schonungsloser Gewissheit an: nervöser Typ, bisschen hektisch, Hang zur Selbstzerstörung. Und all das, weil ich manchmal an der Haut meiner Daumen zupfe. Schon liegen meine Finger in jener Tinktur, welche einst Tilly im Palmolive-Studio entsetzten Hausfrauen aufzwang. Doch dann erlebe ich die Wonnen des Feilens, Zupfens (jawohl, auch Michaela zupft!), Einbalsamierens und Massierens und bekomme entsetzlich Lust, genau jetzt die Mondscheinsonate zu spielen und dabei meinen glatten, weichen Fingern bis in die obersten Oktaven hinterherzustaunen.
Geht natürlich nicht, weil der "Pflegetag für den Herrn" sofort in eine "Gesichtsbehandlung mit Tiefenreinigung" mündet. Nach einer ersten Maske mit weißer Heilerde bläst mir der "Vap-O-Herb Model 12" zwanzig Minuten lang Dampf ins Gesicht. Danach drückt Michaela ein paar Pickel aus und massiert und massiert und massiert. Von der Decke rieselt "Visions of a new World" von Christian Maria Haug, Musik von der Art, wie sie ertönt, wenn Reisen in die Esoterik anstehen. Am Ende erhalte ich eine Augenmaske mit Gurkenextrakten zur Straffung meiner Haut.
Ab diesem Moment ist alles anders. Ich bin aufgenommen in die Wellness-Welt. Milde Blicke der anderen Hotelgäste streicheln mich, wenn ich im weißen Bademantel durch die hoteleigene Carinthische Therme wandle. ...