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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.02.2015

Das Radaunest macht herrlich mobil
An der Seite von Emil, Pünktchen und Fabian streift Michael Bienert durch das Berlin Erich Kästners – eine Zeitreise voller Überraschungen
So sieht es aus in der Stadt: „Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang.“ Klar, dass von Berlin die Rede ist. Auch der Ton passt, jene Mischung aus Sachlichkeit und moralischem Kurzurteil. Die Sätze stehen in Erich Kästners „Fabian“, der „Geschichte eines Moralisten“, die 1931 erschien und ein düsteres Gegenstück bildete zu den Romanen für Kinder, zu „Emil und die Detektive“ wie zu „Pünktchen und Anton“.
  Berlin ist in allen drei Fällen Bühne und Protagonist der Handlung: mit seinen Bahnhöfen, Cafés und Straßenkreuzungen, mit Polizeipräsidium, Zeitungsgebäude, großen und kleinen Wohnungen. Seit Jahren lädt Michael Bienert zu literarischen Spaziergängen auf den Spuren etwa Kleists, Fontanes, Brechts oder eben Kästners. Es dürfte nur wenige geben, die mit den Details der Stadtgeschichte so vertraut sind wie er. In seinem neuen Buch über „Kästners Berlin“ verbindet er vier Stadtpläne miteinander: den Plan der Stadt von einst, den von heute, ihre literarische Topografie und den individuellen Stadtplan Kästners. Der zog im August 1927 von Leipzig nach Berlin, tauschte das Dasein eines Feuilletonredakteurs der Neuen Leipziger Zeitung – er hatte seinen Chef verärgert – mit dem Leben eines freien Theaterkorrespondenten und Autors in der Hauptstadt. Berlin war ihm schon zuvor als „das einzig Richtige“ erschienen, „jedenfalls der einzige Boden in Deutschland, wo was los ist!“ In diesem „Radaunest“ war er froh, es machte ihn „herrlich mobil“.
  Zunächst wohnte Kästner als „möblierter Herr“ in der Prager Straße 17 und wurde Stammgast im Café Carlton am Nürnberger Platz. Er hatte sich also niedergelassen im „Industriegebiet der Intelligenz“, am richtigen Ort für einen, der mit 35 Jahren anerkannt und „bis 40 sogar ein bisschen berühmt“ sein wollte. Der Kurfürstendamm und all die Kinos, Theater, Künstlerlokale waren nicht weit, auch nicht die Redaktion der Weltbühne , für die er schrieb. Deren Verlegerin Edith Jacobson drang auf ein Kinderbuch für ihren Verlag, also schrieb er „Emil und die Detektive“.
  Auf dem berühmten Umschlag, den Walter Trier für die Erstausgabe gestaltete, verstecken sich zwei, Emil und Gustav, hinter einer Litfaßsäule, sie verfolgen einen Herren mit großem, steifem Hut. Im Roman wird wohl eine Reklamesäule erwähnt, aber die beiden verbergen sich hinter einem Zeitungskiosk. Auf einer historischen Postkarte der Trautenaustraße/Ecke Kaiserallee ist er gut zu erkennen.
  Wo hielt das Taxi der Detektive? In welchem Hotel stieg der Dieb ab? Und wo fanden seine Verfolger ihr „wundervolles Standquartier“? Michael Bienert markiert die Stationen der Verfolgungsjagd vom Bahnhof Zoo bis zum Nollendorfplatz nicht nur auf dem Stadtplan, er vergegenwärtigt sie in einer Reihe historischer Aufnahmen und kontrastiert diese mit Fotos aus der Gegenwart. So werden nicht nur jene Zwanzigerjahre lebendig, sondern auch die Zerstörung der Stadt durch die Nationalsozialisten und den Krieg.
  Wenn der Autor schon am Nollendorfplatz, in der Motzstraße ist, lässt er die Detektive für Augenblicke in der Toreinfahrt des heutigen Clubs Goya zurück, und erzählt von Erwin Piscator, der im „Theater am Nollendorfplatz“ mit Ernst Tollers „Hoppla, wir leben!“ – Girls tanzen Charleston, Filmszenen auf Gazevorhänge projiziert – den Kritiker Kästner davon überzeugte, dass mit dieser Aufführung „ eine neue Epoche der Theatergeschichte“ beginne. Bienert führt seine Leser auch in die meist übersehene Gedenkhalle für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Mitarbeiter der städtischen Verkehrsbetriebe – im 1926 umgebauten U-Bahnhof Nollendorfplatz. So wird gleichsam nebenbei auch deutlich, was „Emil und die Detektive“ von anderen Kinderbüchern unterschied: Es erzählte Abenteuer in der unmittelbaren Gegenwart, war eine Art Großstadtmärchen.
  Am Nollendorfplatz hatte im Dezember 1930 auch der Film „Im Westen nichts Neues“ Premiere, in den folgenden Tagen randalierten nationalsozialistische Besucher, bis der Film wegen „Gefährdung der öffentlichen Ordnung“ verboten wurde.
  Auf diese Weise, indem er Romanschauplätze und Lebensorte Kästners aufsucht und ihre Schicksale knapp schildert, erzählt Bienert eine Kulturgeschichte Berlins in den späten Jahren der Weimarer Republik. Dabei verblüfft er mehrfach mit aufschlussreichen Funden: ein Schaubild der Großen Polizeiausstellung – 1926 unter dem Funkturm – und der Almanach zum „Fest der Polizei“ 1929 erhellen Reformen im sozialdemokratisch regierten Preußen – und erklären nebenbei die Freundlichkeit der Berliner Polizisten in „Emil und die Detektive“.
  Das Zeitungsviertel, der Amüsierbetrieb im proletarischen Wedding, die Theater, mit denen Kästner zusammenarbeitete, auch die Universität, an der er 1921/22 studierte, werden gemustert. Man kommt mit Kästner in Berlin viel rum. 1929 – er wurde 30 – zog er nach Charlottenburg, in die Roscherstraße und blieb dort auch als verfemter Autor, bis ein Bombenangriff am 16. Februar 1944 seine Bleibe zerstörte. Die Jahre der „kreativen Symbiose“ zwischen dem Schriftsteller und der Stadt waren längst vorüber; so oft er auch später, nach 1945 von München nach Berlin reiste, es ließ sich nicht mehr daran anknüpfen.
  „Hier schreibt Berlin“ hieß eine Anthologie des Jahres 1929. Kästners Beitrag, das Gedicht „Besuch vom Lande“ ist heute Schulstoff: „Es klingt, als ob die Großstadt stöhnt, / weil irgendwer sie schilt. / Die Häuser funkeln. Die U-Bahn dröhnt. / Sie sind das alles so gar nicht gewöhnt. / Und finden Berlin zu wild.“ Der Potsdamer Platz, der die Besucher damals ängstigte, hat nach der Vereinigung das Wilde ebenso verloren wie das Dröhnende und Funkelnde. Gut, dass dieses verführerisch illustrierte, klug erzählte, nie nostalgische Buch erinnert, welche Vielfalt, welche Spannungen bis heute Spuren im „Radaunest“ hinterlassen haben.
JENS BISKY
Michael Bienert: Kästners Berlin. Literarische Schauplätze. Verlag für Berlin und Brandenburg, Berlin 2014. 160 Seiten, 176 Abb., 24,99 Euro.
„Es klingt, als ob die
Großstadt stöhnt, /
weil irgendwer sie schilt.“
Erich Kästner zog
1927 nach Berlin und erlebte dort seine produktivsten
Jahre.
 Foto: S. M.
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