Franz Kafka war ein leidenschaftlicher Kinogänger. "Im Kino gewesen. Geweint", lautet eine der lakonischen Eintragungen in seinem Tagebuch. Das Kinematographentheater ist für ihn auch ein Ort der Vergnügungen: "Maßlose Unterhaltung", notiert er nach einem Kinobesuch. Aber welche Bilder waren es, die seine Phantasie bewegten? In seinen Tagebüchern, Briefen und Reiseaufzeichnungen gibt es zum Kino nur spärliche, verstreute und zumeist enigmatische Notizen. So hat man immer wieder darüber spekuliert, welche Filme sein Schreiben beeinflußt haben könnten. Hanns Zischler hat sich auf eine detektivische Spurensuche begeben. In Archiven und Privatsammlungen hat er die Filme aufgespürt, die Kafka gesehen hat. Er dechiffriert in seinem Buch erstmals die Kino-Welt des Schriftstellers.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2017Im Bann der weißen Sklavin
Jetzt heben die Aeroplane ab: Hanns Zischlers Kafka-Buch als fulminante Neuausgabe
"Im Kino gewesen. Geweint" ist eines der allerberühmtesten Franz-Kafka-Zitate, und meist folgt darauf die Erörterung der besonderen Sensibilität des Autors für bestimmte Sinneseindrücke. Darüber gerät leicht eine andere Frage aus dem Fokus, die man mit ebenso viel Recht - und ohnehin der anderen vorausgehend - an diese Tagebuchnotiz vom 20. November 1913 richten könnte: Was hat Kafka da eigentlich gesehen, das ihn so ergriffen hat, wo war das, und welche äußeren Umstände haben dabei eine Rolle gespielt?
Die rege Kafka-Forschung hat derlei lange eher vernachlässigt. Erst Hanns Zischlers Buch "Kafka geht ins Kino", erschienen 1996, lenkte den Blick nachdrücklich auf diesen Aspekt im Leben des Autors. Der broschierte, gerade einmal 163 Seiten umfassende Band trägt zusammen, was sich von Kafkas Kinobesuchen in den schriftlichen Quellen vor allem in den ersten beiden Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts niedergeschlagen hat, in Briefen und Tagebüchern, aber auch zu einem erheblichen Teil in den Archiven der Zeitungen, Behörden und Studios. Zischler verknüpft dafür etwa Äußerungen zu bestimmten, oft namentlich nicht genannten Filmen mit Beschreibungen, die sich in Rezensionen oder Zensurbögen finden, was besonders in den vielen Fällen erhellend ist, in denen sich die Stummfilme jener Jahre nicht erhalten haben - es ist immer wieder erschütternd, wie wenig davon auf uns gekommen ist, und sei es noch so angegriffen oder verstümmelt.
Zudem erweist sich Zischler als profunder Kenner der Umstände, unter denen damals dem Publikum überhaupt Filme und andere auf Prinzipien der Optik beruhende Spektakel geboten wurden. Da geht es um Kinosäle und Technik, und in einem der schönsten Kapitel beschreibt Zischler, welche Rolle diejenigen spielten, die die Stummfilmhandlungen verbal kommentierten und dabei Rücksicht auf die sittlichen Empfindungen der Zuschauer nehmen mussten.
Naturgemäß stehen die Filme, die Kafka nachweislich gesehen hat, im Zentrum der Darstellung, etwa der dänische Film "Die weiße Sklavin" von 1911. Der Film erzählt von einer jungen Frau namens Edith, die von einer älteren, die sich auf einer Reise in ihr Vertrauen schleicht, in die Fänge eines Zuhälterpaars befördert wird. Nun wetteifern zwei reiche Wüstlinge um sie, der eine entführt sie dem anderen, doch am Ende taucht ein Herr auf, der Edith bereits auf der Reise kennengelernt hatte, und rettet sie.
Das Besondere an Kafkas Rezeption ist nun, dass sie sich an eine einzige Szene des Films knüpft - den Moment nämlich, in dem Edith in ein Auto bugsiert wird, das sie dann zum Zuhälterpaar bringt. Diese Szene verwebt sich mit einem Abenteuer, das er gemeinsam mit Max Brod und einer Reisebekanntschaft erlebt und schließlich auch verwandelt in ein Romanfragment Eingang findet - Kafka und Brod wollten gemeinsam einen Text verfassen, der nur allzu rasch abgebrochen wird.
Nun ist Zischlers Kafka-Buch neu herausgekommen, 21 Jahre nach der Erstausgabe. Aber es ist ein anderes Buch geworden. Nicht nur, weil Zischler Irrtümer korrigieren konnte. Der Text ist gründlich überarbeitet und um Bilddokumente ergänzt worden, aber vor allem ist in ihn eingegangen, was seither an filmischen Quellen neu erschlossen werden konnte. Das betrifft nicht nur Materialfunde in entlegenen Archiven, sondern auch Restaurierungsarbeiten, die in den vergangenen Dekaden gerade im Bereich des Stummfilms großartige Ergebnisse lieferten, die wiederum die Einschätzung von Kafkas Filmrezeption teilweise ganz neu ermöglichen.
Oder auch helfen, seine Beobachtungen der Realität neu einzuordnen. So finden etwa Kafkas und Brods berühmte Schilderungen der Flugschau von Brescia im September 1909 ein Pendant in einem wiederentdeckten zeitgenössischen Dokumentarfilm desselben Ereignisses. Und "Die weiße Sklavin" ist inzwischen so hervorragend restauriert worden, dass man ihn mit Vergnügen ansehen und wiederum Kafkas Blick darauf reflektieren kann.
Das führt zur einleuchtendsten Änderung der Neuausgabe gegenüber der alten: Beigegeben ist ihr eine DVD mit gut 140 Minuten Filmmaterial, darunter "Die weiße Sklavin", der Brescia-Film oder auch "Nick Winter und der Diebstahl der Mona Lisa", alles Werke, die Kafka gesehen hat oder die mit ihm in Verbindung stehen. Natürlich stößt die dadurch genährte Illusion, mit Kafka ins Kino zu gehen, an ihre Grenzen, da sich unsere Wahrnehmung komplett geändert hat - auch Stummfilme muss man sehen lernen, und die DVD in diesem Band liefert genügend Anreize, um damit zu beginnen.
Kafka weint häufiger im Kino, belegen die Dokumente in diesem Band, und die berühmte Erschütterung vom 20. November 1913 ist an den Film "Es gibt keine Kinder mehr" (oder: "Papas Liebling") geknüpft, in dem die kleine Suzanne Privat - der die Zeitung "Bohemia" damals "alle künstlerischen Qualitäten einer gereiften Künstlerin" zusprach - die Hauptrolle spielt, nach einem Auftritt als "Lolotte" im Vorgängerfilm "Das Kind von Paris".
Auch das hat Kafka im Blick, als er im Tagebuch den Kinobesuch im ergriffenen Stakkato festhält: "Lolotte. Der gute Pfarrer. Das kleine Fahrrad. Die Versöhnung der Eltern. Maßlose Unterhaltung. Bin ganz leer und sinnlos, die vorüberfahrende Elektrische hat mehr lebendigen Sinn." Dass man nach der Lektüre von Hanns Zischlers Buch selbst solche beiläufigen Erwähnungen wie die der passierenden Straßenbahn mit überwachem Assoziationseifer liest, zeigt neuerlich, wie fruchtbar dessen Verfahren ist.
TILMAN SPRECKELSEN
Hanns Zischler: "Kafka geht ins Kino". Überarbeitete Neuausgabe.
Verlag Galiani Berlin, Berlin 2017. 216 S., Abb., 1 DVD, geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jetzt heben die Aeroplane ab: Hanns Zischlers Kafka-Buch als fulminante Neuausgabe
"Im Kino gewesen. Geweint" ist eines der allerberühmtesten Franz-Kafka-Zitate, und meist folgt darauf die Erörterung der besonderen Sensibilität des Autors für bestimmte Sinneseindrücke. Darüber gerät leicht eine andere Frage aus dem Fokus, die man mit ebenso viel Recht - und ohnehin der anderen vorausgehend - an diese Tagebuchnotiz vom 20. November 1913 richten könnte: Was hat Kafka da eigentlich gesehen, das ihn so ergriffen hat, wo war das, und welche äußeren Umstände haben dabei eine Rolle gespielt?
Die rege Kafka-Forschung hat derlei lange eher vernachlässigt. Erst Hanns Zischlers Buch "Kafka geht ins Kino", erschienen 1996, lenkte den Blick nachdrücklich auf diesen Aspekt im Leben des Autors. Der broschierte, gerade einmal 163 Seiten umfassende Band trägt zusammen, was sich von Kafkas Kinobesuchen in den schriftlichen Quellen vor allem in den ersten beiden Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts niedergeschlagen hat, in Briefen und Tagebüchern, aber auch zu einem erheblichen Teil in den Archiven der Zeitungen, Behörden und Studios. Zischler verknüpft dafür etwa Äußerungen zu bestimmten, oft namentlich nicht genannten Filmen mit Beschreibungen, die sich in Rezensionen oder Zensurbögen finden, was besonders in den vielen Fällen erhellend ist, in denen sich die Stummfilme jener Jahre nicht erhalten haben - es ist immer wieder erschütternd, wie wenig davon auf uns gekommen ist, und sei es noch so angegriffen oder verstümmelt.
Zudem erweist sich Zischler als profunder Kenner der Umstände, unter denen damals dem Publikum überhaupt Filme und andere auf Prinzipien der Optik beruhende Spektakel geboten wurden. Da geht es um Kinosäle und Technik, und in einem der schönsten Kapitel beschreibt Zischler, welche Rolle diejenigen spielten, die die Stummfilmhandlungen verbal kommentierten und dabei Rücksicht auf die sittlichen Empfindungen der Zuschauer nehmen mussten.
Naturgemäß stehen die Filme, die Kafka nachweislich gesehen hat, im Zentrum der Darstellung, etwa der dänische Film "Die weiße Sklavin" von 1911. Der Film erzählt von einer jungen Frau namens Edith, die von einer älteren, die sich auf einer Reise in ihr Vertrauen schleicht, in die Fänge eines Zuhälterpaars befördert wird. Nun wetteifern zwei reiche Wüstlinge um sie, der eine entführt sie dem anderen, doch am Ende taucht ein Herr auf, der Edith bereits auf der Reise kennengelernt hatte, und rettet sie.
Das Besondere an Kafkas Rezeption ist nun, dass sie sich an eine einzige Szene des Films knüpft - den Moment nämlich, in dem Edith in ein Auto bugsiert wird, das sie dann zum Zuhälterpaar bringt. Diese Szene verwebt sich mit einem Abenteuer, das er gemeinsam mit Max Brod und einer Reisebekanntschaft erlebt und schließlich auch verwandelt in ein Romanfragment Eingang findet - Kafka und Brod wollten gemeinsam einen Text verfassen, der nur allzu rasch abgebrochen wird.
Nun ist Zischlers Kafka-Buch neu herausgekommen, 21 Jahre nach der Erstausgabe. Aber es ist ein anderes Buch geworden. Nicht nur, weil Zischler Irrtümer korrigieren konnte. Der Text ist gründlich überarbeitet und um Bilddokumente ergänzt worden, aber vor allem ist in ihn eingegangen, was seither an filmischen Quellen neu erschlossen werden konnte. Das betrifft nicht nur Materialfunde in entlegenen Archiven, sondern auch Restaurierungsarbeiten, die in den vergangenen Dekaden gerade im Bereich des Stummfilms großartige Ergebnisse lieferten, die wiederum die Einschätzung von Kafkas Filmrezeption teilweise ganz neu ermöglichen.
Oder auch helfen, seine Beobachtungen der Realität neu einzuordnen. So finden etwa Kafkas und Brods berühmte Schilderungen der Flugschau von Brescia im September 1909 ein Pendant in einem wiederentdeckten zeitgenössischen Dokumentarfilm desselben Ereignisses. Und "Die weiße Sklavin" ist inzwischen so hervorragend restauriert worden, dass man ihn mit Vergnügen ansehen und wiederum Kafkas Blick darauf reflektieren kann.
Das führt zur einleuchtendsten Änderung der Neuausgabe gegenüber der alten: Beigegeben ist ihr eine DVD mit gut 140 Minuten Filmmaterial, darunter "Die weiße Sklavin", der Brescia-Film oder auch "Nick Winter und der Diebstahl der Mona Lisa", alles Werke, die Kafka gesehen hat oder die mit ihm in Verbindung stehen. Natürlich stößt die dadurch genährte Illusion, mit Kafka ins Kino zu gehen, an ihre Grenzen, da sich unsere Wahrnehmung komplett geändert hat - auch Stummfilme muss man sehen lernen, und die DVD in diesem Band liefert genügend Anreize, um damit zu beginnen.
Kafka weint häufiger im Kino, belegen die Dokumente in diesem Band, und die berühmte Erschütterung vom 20. November 1913 ist an den Film "Es gibt keine Kinder mehr" (oder: "Papas Liebling") geknüpft, in dem die kleine Suzanne Privat - der die Zeitung "Bohemia" damals "alle künstlerischen Qualitäten einer gereiften Künstlerin" zusprach - die Hauptrolle spielt, nach einem Auftritt als "Lolotte" im Vorgängerfilm "Das Kind von Paris".
Auch das hat Kafka im Blick, als er im Tagebuch den Kinobesuch im ergriffenen Stakkato festhält: "Lolotte. Der gute Pfarrer. Das kleine Fahrrad. Die Versöhnung der Eltern. Maßlose Unterhaltung. Bin ganz leer und sinnlos, die vorüberfahrende Elektrische hat mehr lebendigen Sinn." Dass man nach der Lektüre von Hanns Zischlers Buch selbst solche beiläufigen Erwähnungen wie die der passierenden Straßenbahn mit überwachem Assoziationseifer liest, zeigt neuerlich, wie fruchtbar dessen Verfahren ist.
TILMAN SPRECKELSEN
Hanns Zischler: "Kafka geht ins Kino". Überarbeitete Neuausgabe.
Verlag Galiani Berlin, Berlin 2017. 216 S., Abb., 1 DVD, geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Überraschend, beglückend. (...) Eine Fundgrube für Kafka-Liebhaber, aber auch für Fans des Stummfilms. Anne-Catherine Simon Die Presse