»Kafka gelesen« versammelt 27 zeitgenössische Autorinnen und Autoren, die über ihr Verhältnis zu Franz Kafka und seinem Werk schreiben. Persönlich, künstlerisch, anekdotisch, bewegend oder lustig.
Als Franz Kafka vor 100 Jahren starb, war die Welt eine andere. Doch bis in unsere Gegenwart des 21. Jahrhunderts haben seine Romane, Parabeln, seine Tagebücher und unvergleichlichen Briefe nichts von ihrer originellen oder verstörenden, berührenden und immer auch tröstlichen Wirkung eingebüßt. Im Gegenteil: Dass seine Werke, sein Leben und sein Blick auf die Welt gerade in dieser Gegenwart, in der wir leben, eine Menge über uns selbst erzählen und dass Franz Kafka für heute Schreibende ungebrochen ein Fixpunkt der Moderne ist, zeigt dieser Band.
27 deutschsprachige und internationale Autorinnen, bildende Künstler, Denkerinnen und Lyriker schreiben über das, was in ihren Augen das Überzeitliche, das drängend Aktuelle dieses jüdischen, deutschen Jahrhundertschriftstellers aus Prag ausmacht.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Als Franz Kafka vor 100 Jahren starb, war die Welt eine andere. Doch bis in unsere Gegenwart des 21. Jahrhunderts haben seine Romane, Parabeln, seine Tagebücher und unvergleichlichen Briefe nichts von ihrer originellen oder verstörenden, berührenden und immer auch tröstlichen Wirkung eingebüßt. Im Gegenteil: Dass seine Werke, sein Leben und sein Blick auf die Welt gerade in dieser Gegenwart, in der wir leben, eine Menge über uns selbst erzählen und dass Franz Kafka für heute Schreibende ungebrochen ein Fixpunkt der Moderne ist, zeigt dieser Band.
27 deutschsprachige und internationale Autorinnen, bildende Künstler, Denkerinnen und Lyriker schreiben über das, was in ihren Augen das Überzeitliche, das drängend Aktuelle dieses jüdischen, deutschen Jahrhundertschriftstellers aus Prag ausmacht.
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Allen Büchereien sehr empfohlen. Wilfried Funke medienprofile 20241101
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit seiner Anthologie zum hundertjährigen Todestag Franz Kafkas herausgegebenen Anthologie ist Sebastian Guggolz eine facettenreiche Schau auf den bedeutenden Autor gelungen, deren Lektüre Vergnügen bereitet, urteilt Rezensent Jeremy Adler. Darin äußern sich zeitgenössische Autorinnen, Dichter, Künstler, Denkende und Lyriker zu Kafka als Person und Autor und beleuchten dabei sein Werk von verschiedenen Seiten: So arbeitet zum Beispiel Joseph Vogl die Unerschöpflichkeit des Empirischen bei Kafka heraus, Maria Stepanova zeigt, inwiefern Kafkas "Josefine" auf E.T.A. Hoffmanns "Nussknacker und der Mäusekönig" zurückverweist, und Michael Lentz betont die selbstinterpretatorische Kraft von Kafkas Texten, ihre "innere Hermeneutik" - ein Band, der originelle Kafka-Philologie versammelt, findet Adler. Ihm fehlt einzig ein Beitrag zu Kafkas Verhältnis zum Judentum, das er für dessen Literatur als sehr bedeutend einschätzt. Guggolz' Anthologie legt er den Leser:innen nicht zuletzt aufgrund ihrer beeindruckenden thematischen Spannweite sehr ans Herz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2024Wer alles Kafka in die Falle gegangen ist
Sebastian Guggolz versammelt in einer Anthologie Respekterweise zeitgenössischer Autoren an den Vater der literarischen Moderne
Wer dieses Buch aufmacht, stößt bald auf die Federzeichnungen von Christian Thanhäuser, die einen Spaziergang bei Tageslicht von Zürau nach Oberklee wiedergeben. Danach findet man sechzehn Holzschnitte von demselben Spaziergang bei Nacht. Diese faszinierenden Miniaturen im Längsformat erinnern an Kafkas Welt, an die Werke von Kubin und Masereel. Sie sind für diese neue Anthologie von Stimmen zu Kafka insofern typisch, als sie einen originellen Blick auf einen weltbekannten Autor bieten. Der Herausgeber Sebastian Guggolz hat die Beiträge mit viel Verständnis von Kafka und der heutigen literarischen Szene ausgewählt, um eine neue Perspektive auf den jetzt immerhin recht alten Autor zu werfen.
Es überrascht, wie gut die darin vertretenen Schriftsteller ihren Kafka kennen. Als Modell, als Einfluss, als Freund, ja gar als Verwandten. Diese facettenreiche Schau ergibt ein buntes Lesevergnügen. Sie überrascht und unterhält im selben Maße. So hat Marcel Beyer in einer kunstvollen subjektiven Erzählung, die in der Form an Kafka erinnert, dessen Erzählung "In der Strafkolonie" dekonstruiert. Dabei kommt es zu einem kühnen Dialog zwischen Beyer und Kafka. Karl-Markus Gauß hingegen liefert eine ulkige Geschichte über einen Stromausfall im Lift. Er widmet Kafkas Aufzeichnungen seine Aufmerksamkeit.
Die ersten Kafka-Interpreten haben einschlägige Deutungen hinterlassen: Walter Benjamin, Gershom Scholem, Hannah Arendt. Für Elias Canetti wie schon für Max Brod war Kafka geradezu ein Heiliger. So meinte jener: "Die Hypnose dieses Jahrhunderts heißt Kafka." Canettis intimer Freund, der Prager Dichter Franz Baermann Steiner, enthüllte Kafkas Entdeckung, Gott sei eine "Illusion". Guggolz hat als Herausgeber des Bandes "Kafka gelesen" jedoch einen neuen Weg eingeschlagen, indem er Autorinnen, Dichter, Künstler, Denkende und Lyriker ausgesucht hat, sich zum "Magus von Prag" - so noch einmal Franz Steiner - zu äußern. Die diversen Standpunkte bieten eine kluge Unterhaltung, indem sie ein Gespräch zwischen Kafka und seinem Publikum anregen. Außer neuen Beiträgen findet man hier auch originelle Kafka-Philologie. Michael Lentz liefert die fruchtbare Anschauung zu diesem Thema: Kafka war sein eigener Hermeneut. Da die Texte sich selbst interpretieren, spricht Lentz mit Recht von einer "inneren Hermeneutik". Man denke dabei an die Parabel "Gibs auf" oder an Josef K.s Begegnung mit dem Geistlichen in "Der Process". Diese Deutungen - oft handelt es sich um Fallen - regen die vielseitigen Anschauungen der Kafka-Leser an.
Überhaupt bietet diese Anthologie ein vielschichtiges Bild von Kafka als Mensch und als Autor. In Wahrheit sind beide Rollen nicht zu trennen - das gehört zu Kafkas Magie. Man erhält dabei stets den Eindruck, seine literarischen Nachfahren behandelten ihn mit Bewunderung oder gar mit Ehrfurcht. Mehr noch, sie bekennen sich zu ihm mit Liebe. Dabei entstehen nicht nur neue Perspektiven, sondern es entsteht auch Kafka-Philologie. Laut Patricia Görg ist Kafkas Schreiben "bodenlos" - ein vieldeutiges Wort für ein mehrdeutiges OEuvre. Sie meint, er schaffe "einen ungreifbaren, magischen Mehrwert: die allgegenwärtige Fremdheit, einen Schwindel der Existenz, in dessen Strudel wir mitgerissen werden, ohne zu wissen, wohin".
Der Ästhetik Kafkas widmet sich Joseph Vogl. Er stößt auf die "Unerschöpflichkeit der empirischen Erfahrung" bei Kafka sowie auf die "Dinge ohne Ziel" und die "Endlosigkeit von Wegen". Damit leistet Vogl einen wesentlichen Schritt zur Erklärung von Kafkas Geheimnis. Auch findet man neue Einblicke in die Texte: So weist Maria Stepanova nach, wie Kafkas Erzählung "Josefine die Sängerin oder das Volk der Mäuse" auf E. T. A. Hoffmanns "Nussknacker und Mausekönig" zurückblickt. Dabei füllt sie eine Lücke in der Kafka-Forschung, die sich zu wenig um sein Verhältnis zu Hoffmann gekümmert hat. Was Stepanova mit einer klugen Formulierung die "Demokratie des Leidens" nennt, kennzeichnet Kafkas Werk schlechthin.
Der Prager Dichter Jan Faktor, der heute in Deutschland lebt, bringt Kafka auf den Punkt: "Jeder seiner Sätze ist voller Reinheit, ist stilistisch vollkommen." Damit spricht Faktor die bei Kafka so markante Identität von Ethik und Ästhetik an: Kafkas Zauber entstammt nicht zuletzt seiner ethischen Reinheit. Jeder Satz von ihm ist gleichsam der Ausdruck einer moralischen Norm. Diese Kraft setzt neue Normen, ob in der Literatur oder in der Ethik. Man stößt aber auch auf merkwürdige Deutungen. Der Vergleich zwischen Kafka und Proust, den Ulf Erdmann Ziegler zieht, scheint mir ein wenig überzogen: "Das Außenseitertum haben sie gemeinsam." Freilich ist das Dreigestirn Proust, Kafka und Joyce für den Roman des Modernismus kennzeichnend; doch brauchte es eine ganze Monographie, diese Einsicht zu begründen.
Nur manchmal begegnet man in diesen Texten einem Steckenpferd. So wiederholt die wortmächtige englische Dichterin A. L. Kennedy ihre ständige, längst zum Gemeinplatz gewordene Jeremiade über Großbritanniens Untergang. Ihr Vergleich von Kafkas Vater mit der Brexit-Manie ist überzogen, ihre Hoffnung auf bessere Zeiten dagegen sehr erfreulich.
Kafka lesen heißt, durch Kafkas Magie eine Verwandlung zu erfahren. Das verhalf diesem bescheidensten aller Autoren zum Verständnis eines Weltbürgers. Oft haben Schriftsteller bekannt, wie Kafka sie verwandelt hat, indem sie durch sein Werk ihres Auftrags als Dichter gewahr wurden. Besonders prägnant drückt sich dazu Jon Fosse aus: "Kafkas Dichtung ist schlicht und einfach eine Voraussetzung für meine eigene." Das ist auch bei Thomas Stangl der Fall: "Dieses Lesen war eine Erfahrung, die mich selbst verwandelte, von da an musste ich ein Schriftsteller sein." Ähnlich profund war Kafkas Wirkung auf Michael Kumpfmüller und Gisela von Wysocki. Diese meint, die Wirkung Kafkas sei "unausweichlich": "Sie hinterließ die Empfindung, in eine Falle gelaufen zu sein zu sein." Kafkas Sätze verwickeln uns in sein Labyrinth. Für Michael Kumpfmüller führt dieser literarische Überfall schließlich zum eigenen Kafka-Roman "Die Herrlichkeit des Lebens".
Jan Bremer bekennt seine "Ergriffenheit" angesichts Kafkas Werk: Nun trägt er Kafkas "Das Urteil" wie ein "Schatzkästchen" in sich. Das ist eine treffende Metapher für die Art, wie Kafka in uns hineinwächst. Ganz in diesem Sinne schildert auch Esther Kinsky ihre frühe Ergriffenheit durch Kafkas Person sowie die Faszination, die vom winkligen Prag ausging, die sie aus den Abbildungen von der Stadt kannte. Für Clemens Setz sind die Erzählungen Kafkas gar "heilige Texte", und mit Recht spricht Sjón von den "Sonderlingen", die in Prag beheimatet waren. Doch der Prager Modernismus in Malerei und Architektur, in Dichtung und Politik, bleibt hier unerwähnt. Überhaupt wird der eigentliche Kontext von Kafkas Werk eher selten angesprochen.
Ein Thema, das in der Anthologie fehlt, ist Kafka und das Judentum, obgleich es genug Zeugnisse für diese Lesart seines Werks in den Tagebüchern und anderen Texten gibt. Der Talmud berichtet von Hillels Weisung, die auch fast von Kafka stammen könnte: "Alle meine Tage bin ich unter den Weisen aufgewachsen, und ich habe nichts Besseres für eine Person gefunden als Schweigen." Jude sein heißt, bestimmte Werte als Normen zu setzen. Jeder Einzelne ist für diese Ethik mitverantwortlich. Das Leben im Gesetz ist Hauptprinzip des Judentums.
Das ist auch charakteristisch für Kafkas Standpunkt. Seine Prosa, in der das zum Ausdruck kommt, reiht sich nahtlos in die Tradition jüdischer Legenden ein. Martin Buber, der große Kenner des Judentums, erzählt folgende Geschichte: "Nach dem vierten Gebet am Versöhnungstag sagte der Ropschitzer einmal: 'Ich wollte, ich würde als Kuh wiedergeboren, und ein Jude käme am Morgen, mir etwas Milch abzumelken, um sich zu erquicken, ehe er den Dienst Gottes beginnt.'"
Die typisch kafkaeske Verwandlung mit der Erniedrigung des Subjekts ist schon im Chassidismus angelegt. Die lehrhafte Erzählung, die parabolische Kurzform, die Unschuld der Anschauung, die naive Groteske, die Art, auf knappstem Raum einen Charakter zu spiegeln, verbinden Kafkas Texte mit jüdischer Lehre. Solche Denkspiele auf ethischer Basis sind sowohl in der jüdischen Tradition als auch bei Kafka zu Hause. Auch Kafkas Figuren entstammen oft der jüdischen Welt: Josef K. ist ein typischer Schlemihl. Der eigenartige Humor der Prager Juden, der heute nur eine ferne Erinnerung darstellt, beleuchtet Kafkas Bemerkungen bis hin zum Sterbebett. Die Prager deutsche Selbstironie - weniger bissig als die Wiener Variante - liefert den Grundbass von Kafkas Erzählkunst.
Der Londoner Autor Adam Thirlwell bekennt sich zu diesem Humor Kafkas. Man hört hier die typische Altprager Stimme bei seinem beachtlichsten Autor: "Mein Zustand ist nicht Unglück, aber er ist auch nicht Glück, nicht Gleichgültigkeit, nicht Schwäche, nicht Ermüdung, nicht anderes Interesse, also was ist er denn? Dass ich das nicht weiß, hängt wohl mit meiner Unfähigkeit zu schreiben zusammen." Die talmudische Art, ein Gebiet abzutasten, eignet sich nur allzu gut für humoristische Zwecke. Auch Isabelle Lehn betrachtet die Komik Kafkas. Wie sie treffend bemerkt, begleitete ihn die Selbstironie, "die Rettung ins Absurde".
Zu weitereren Themen dieser Anthologie gehören der grüne Kafka und die Männerliebe. Das ist ihre Spannweite. Jeder Leser wird sich daher diese breit angelegte Sammlung mit Gewinn zu Gemüte führen. JEREMY ADLER
Sebastian Guggolz (Hrsg.): "Kafka gelesen".
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024. 272 S., geb.,
24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Sebastian Guggolz versammelt in einer Anthologie Respekterweise zeitgenössischer Autoren an den Vater der literarischen Moderne
Wer dieses Buch aufmacht, stößt bald auf die Federzeichnungen von Christian Thanhäuser, die einen Spaziergang bei Tageslicht von Zürau nach Oberklee wiedergeben. Danach findet man sechzehn Holzschnitte von demselben Spaziergang bei Nacht. Diese faszinierenden Miniaturen im Längsformat erinnern an Kafkas Welt, an die Werke von Kubin und Masereel. Sie sind für diese neue Anthologie von Stimmen zu Kafka insofern typisch, als sie einen originellen Blick auf einen weltbekannten Autor bieten. Der Herausgeber Sebastian Guggolz hat die Beiträge mit viel Verständnis von Kafka und der heutigen literarischen Szene ausgewählt, um eine neue Perspektive auf den jetzt immerhin recht alten Autor zu werfen.
Es überrascht, wie gut die darin vertretenen Schriftsteller ihren Kafka kennen. Als Modell, als Einfluss, als Freund, ja gar als Verwandten. Diese facettenreiche Schau ergibt ein buntes Lesevergnügen. Sie überrascht und unterhält im selben Maße. So hat Marcel Beyer in einer kunstvollen subjektiven Erzählung, die in der Form an Kafka erinnert, dessen Erzählung "In der Strafkolonie" dekonstruiert. Dabei kommt es zu einem kühnen Dialog zwischen Beyer und Kafka. Karl-Markus Gauß hingegen liefert eine ulkige Geschichte über einen Stromausfall im Lift. Er widmet Kafkas Aufzeichnungen seine Aufmerksamkeit.
Die ersten Kafka-Interpreten haben einschlägige Deutungen hinterlassen: Walter Benjamin, Gershom Scholem, Hannah Arendt. Für Elias Canetti wie schon für Max Brod war Kafka geradezu ein Heiliger. So meinte jener: "Die Hypnose dieses Jahrhunderts heißt Kafka." Canettis intimer Freund, der Prager Dichter Franz Baermann Steiner, enthüllte Kafkas Entdeckung, Gott sei eine "Illusion". Guggolz hat als Herausgeber des Bandes "Kafka gelesen" jedoch einen neuen Weg eingeschlagen, indem er Autorinnen, Dichter, Künstler, Denkende und Lyriker ausgesucht hat, sich zum "Magus von Prag" - so noch einmal Franz Steiner - zu äußern. Die diversen Standpunkte bieten eine kluge Unterhaltung, indem sie ein Gespräch zwischen Kafka und seinem Publikum anregen. Außer neuen Beiträgen findet man hier auch originelle Kafka-Philologie. Michael Lentz liefert die fruchtbare Anschauung zu diesem Thema: Kafka war sein eigener Hermeneut. Da die Texte sich selbst interpretieren, spricht Lentz mit Recht von einer "inneren Hermeneutik". Man denke dabei an die Parabel "Gibs auf" oder an Josef K.s Begegnung mit dem Geistlichen in "Der Process". Diese Deutungen - oft handelt es sich um Fallen - regen die vielseitigen Anschauungen der Kafka-Leser an.
Überhaupt bietet diese Anthologie ein vielschichtiges Bild von Kafka als Mensch und als Autor. In Wahrheit sind beide Rollen nicht zu trennen - das gehört zu Kafkas Magie. Man erhält dabei stets den Eindruck, seine literarischen Nachfahren behandelten ihn mit Bewunderung oder gar mit Ehrfurcht. Mehr noch, sie bekennen sich zu ihm mit Liebe. Dabei entstehen nicht nur neue Perspektiven, sondern es entsteht auch Kafka-Philologie. Laut Patricia Görg ist Kafkas Schreiben "bodenlos" - ein vieldeutiges Wort für ein mehrdeutiges OEuvre. Sie meint, er schaffe "einen ungreifbaren, magischen Mehrwert: die allgegenwärtige Fremdheit, einen Schwindel der Existenz, in dessen Strudel wir mitgerissen werden, ohne zu wissen, wohin".
Der Ästhetik Kafkas widmet sich Joseph Vogl. Er stößt auf die "Unerschöpflichkeit der empirischen Erfahrung" bei Kafka sowie auf die "Dinge ohne Ziel" und die "Endlosigkeit von Wegen". Damit leistet Vogl einen wesentlichen Schritt zur Erklärung von Kafkas Geheimnis. Auch findet man neue Einblicke in die Texte: So weist Maria Stepanova nach, wie Kafkas Erzählung "Josefine die Sängerin oder das Volk der Mäuse" auf E. T. A. Hoffmanns "Nussknacker und Mausekönig" zurückblickt. Dabei füllt sie eine Lücke in der Kafka-Forschung, die sich zu wenig um sein Verhältnis zu Hoffmann gekümmert hat. Was Stepanova mit einer klugen Formulierung die "Demokratie des Leidens" nennt, kennzeichnet Kafkas Werk schlechthin.
Der Prager Dichter Jan Faktor, der heute in Deutschland lebt, bringt Kafka auf den Punkt: "Jeder seiner Sätze ist voller Reinheit, ist stilistisch vollkommen." Damit spricht Faktor die bei Kafka so markante Identität von Ethik und Ästhetik an: Kafkas Zauber entstammt nicht zuletzt seiner ethischen Reinheit. Jeder Satz von ihm ist gleichsam der Ausdruck einer moralischen Norm. Diese Kraft setzt neue Normen, ob in der Literatur oder in der Ethik. Man stößt aber auch auf merkwürdige Deutungen. Der Vergleich zwischen Kafka und Proust, den Ulf Erdmann Ziegler zieht, scheint mir ein wenig überzogen: "Das Außenseitertum haben sie gemeinsam." Freilich ist das Dreigestirn Proust, Kafka und Joyce für den Roman des Modernismus kennzeichnend; doch brauchte es eine ganze Monographie, diese Einsicht zu begründen.
Nur manchmal begegnet man in diesen Texten einem Steckenpferd. So wiederholt die wortmächtige englische Dichterin A. L. Kennedy ihre ständige, längst zum Gemeinplatz gewordene Jeremiade über Großbritanniens Untergang. Ihr Vergleich von Kafkas Vater mit der Brexit-Manie ist überzogen, ihre Hoffnung auf bessere Zeiten dagegen sehr erfreulich.
Kafka lesen heißt, durch Kafkas Magie eine Verwandlung zu erfahren. Das verhalf diesem bescheidensten aller Autoren zum Verständnis eines Weltbürgers. Oft haben Schriftsteller bekannt, wie Kafka sie verwandelt hat, indem sie durch sein Werk ihres Auftrags als Dichter gewahr wurden. Besonders prägnant drückt sich dazu Jon Fosse aus: "Kafkas Dichtung ist schlicht und einfach eine Voraussetzung für meine eigene." Das ist auch bei Thomas Stangl der Fall: "Dieses Lesen war eine Erfahrung, die mich selbst verwandelte, von da an musste ich ein Schriftsteller sein." Ähnlich profund war Kafkas Wirkung auf Michael Kumpfmüller und Gisela von Wysocki. Diese meint, die Wirkung Kafkas sei "unausweichlich": "Sie hinterließ die Empfindung, in eine Falle gelaufen zu sein zu sein." Kafkas Sätze verwickeln uns in sein Labyrinth. Für Michael Kumpfmüller führt dieser literarische Überfall schließlich zum eigenen Kafka-Roman "Die Herrlichkeit des Lebens".
Jan Bremer bekennt seine "Ergriffenheit" angesichts Kafkas Werk: Nun trägt er Kafkas "Das Urteil" wie ein "Schatzkästchen" in sich. Das ist eine treffende Metapher für die Art, wie Kafka in uns hineinwächst. Ganz in diesem Sinne schildert auch Esther Kinsky ihre frühe Ergriffenheit durch Kafkas Person sowie die Faszination, die vom winkligen Prag ausging, die sie aus den Abbildungen von der Stadt kannte. Für Clemens Setz sind die Erzählungen Kafkas gar "heilige Texte", und mit Recht spricht Sjón von den "Sonderlingen", die in Prag beheimatet waren. Doch der Prager Modernismus in Malerei und Architektur, in Dichtung und Politik, bleibt hier unerwähnt. Überhaupt wird der eigentliche Kontext von Kafkas Werk eher selten angesprochen.
Ein Thema, das in der Anthologie fehlt, ist Kafka und das Judentum, obgleich es genug Zeugnisse für diese Lesart seines Werks in den Tagebüchern und anderen Texten gibt. Der Talmud berichtet von Hillels Weisung, die auch fast von Kafka stammen könnte: "Alle meine Tage bin ich unter den Weisen aufgewachsen, und ich habe nichts Besseres für eine Person gefunden als Schweigen." Jude sein heißt, bestimmte Werte als Normen zu setzen. Jeder Einzelne ist für diese Ethik mitverantwortlich. Das Leben im Gesetz ist Hauptprinzip des Judentums.
Das ist auch charakteristisch für Kafkas Standpunkt. Seine Prosa, in der das zum Ausdruck kommt, reiht sich nahtlos in die Tradition jüdischer Legenden ein. Martin Buber, der große Kenner des Judentums, erzählt folgende Geschichte: "Nach dem vierten Gebet am Versöhnungstag sagte der Ropschitzer einmal: 'Ich wollte, ich würde als Kuh wiedergeboren, und ein Jude käme am Morgen, mir etwas Milch abzumelken, um sich zu erquicken, ehe er den Dienst Gottes beginnt.'"
Die typisch kafkaeske Verwandlung mit der Erniedrigung des Subjekts ist schon im Chassidismus angelegt. Die lehrhafte Erzählung, die parabolische Kurzform, die Unschuld der Anschauung, die naive Groteske, die Art, auf knappstem Raum einen Charakter zu spiegeln, verbinden Kafkas Texte mit jüdischer Lehre. Solche Denkspiele auf ethischer Basis sind sowohl in der jüdischen Tradition als auch bei Kafka zu Hause. Auch Kafkas Figuren entstammen oft der jüdischen Welt: Josef K. ist ein typischer Schlemihl. Der eigenartige Humor der Prager Juden, der heute nur eine ferne Erinnerung darstellt, beleuchtet Kafkas Bemerkungen bis hin zum Sterbebett. Die Prager deutsche Selbstironie - weniger bissig als die Wiener Variante - liefert den Grundbass von Kafkas Erzählkunst.
Der Londoner Autor Adam Thirlwell bekennt sich zu diesem Humor Kafkas. Man hört hier die typische Altprager Stimme bei seinem beachtlichsten Autor: "Mein Zustand ist nicht Unglück, aber er ist auch nicht Glück, nicht Gleichgültigkeit, nicht Schwäche, nicht Ermüdung, nicht anderes Interesse, also was ist er denn? Dass ich das nicht weiß, hängt wohl mit meiner Unfähigkeit zu schreiben zusammen." Die talmudische Art, ein Gebiet abzutasten, eignet sich nur allzu gut für humoristische Zwecke. Auch Isabelle Lehn betrachtet die Komik Kafkas. Wie sie treffend bemerkt, begleitete ihn die Selbstironie, "die Rettung ins Absurde".
Zu weitereren Themen dieser Anthologie gehören der grüne Kafka und die Männerliebe. Das ist ihre Spannweite. Jeder Leser wird sich daher diese breit angelegte Sammlung mit Gewinn zu Gemüte führen. JEREMY ADLER
Sebastian Guggolz (Hrsg.): "Kafka gelesen".
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024. 272 S., geb.,
24,- Euro.
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