DER ABSCHLUSS DER GROSSEN KAFKA-BIOGRAPHIE
»Das Beste, was in diesem Genre hervorgebracht werden kann. Selbst ein Roman.« Imre Kertész
Nach den fulminant gefeierten ersten zwei Bänden seiner Kafka-Biographie schließt Reiner Stach sein großes Werk mit Kafkas Kindheit und Jugend, Studium und ersten Berufsjahren ab. Die Entfaltung von Kafkas Sprachtalent, seine Bildungserlebnisse, die Reifung seiner Sexualität und nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit neuen Technologien und Medien sind die entscheidenden Wegmarken. Reiner Stachs Kafka-Biographie genießt schon jetzt den Ruf eines internationalen Standardwerks, das die Möglichkeiten der literarischen Biographie neu ausgelotet hat. Erneut bietet Reiner Stach ein erzählerisch dichtes und farbiges Panorama der Zeit und zugleich die einfühlsame Studie eines außergewöhnlichen Menschen.
Das Gesamtwerk:
Kafka. Die frühen Jahre (1883 - 1910)
Kafka. Die Jahre der Entscheidung (1910 - 1915)
Kafka. Die Jahre der Erkenntnis (1916 - 1924)
»Das Beste, was in diesem Genre hervorgebracht werden kann. Selbst ein Roman.« Imre Kertész
Nach den fulminant gefeierten ersten zwei Bänden seiner Kafka-Biographie schließt Reiner Stach sein großes Werk mit Kafkas Kindheit und Jugend, Studium und ersten Berufsjahren ab. Die Entfaltung von Kafkas Sprachtalent, seine Bildungserlebnisse, die Reifung seiner Sexualität und nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit neuen Technologien und Medien sind die entscheidenden Wegmarken. Reiner Stachs Kafka-Biographie genießt schon jetzt den Ruf eines internationalen Standardwerks, das die Möglichkeiten der literarischen Biographie neu ausgelotet hat. Erneut bietet Reiner Stach ein erzählerisch dichtes und farbiges Panorama der Zeit und zugleich die einfühlsame Studie eines außergewöhnlichen Menschen.
Das Gesamtwerk:
Kafka. Die frühen Jahre (1883 - 1910)
Kafka. Die Jahre der Entscheidung (1910 - 1915)
Kafka. Die Jahre der Erkenntnis (1916 - 1924)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.2014Das Leben des Buchs beginnt mit dem Tod des Autors
Dieses ist der dritte Streich: Reiner Stach schließt nach achtzehnjähriger Arbeit seine große Kafka-Biographie ab. Entstanden ist ein Werk, das auf ein seltenes Prinzip setzt: die zärtliche Langsamkeit.
Forschungsprozesse verlaufen in der Regel unabhängig von Darstellungszusammenhängen. Sie gehen ihnen voraus, und die sprachliche Ausbreitung des Stoffes erfolgt in größerer konstruktiver Freiheit, nachdem man sich mit den Phänomenen, Zeugnissen, Dokumenten vertraut gemacht hat. Aber es gibt Ausnahmen. Der dritte Band von Reiner Stachs Kafka-Biographie ist eine.
Warum der chronologisch erste Band der Biographie - er beschreibt die Jahre von 1883 bis 1911 - zuletzt erscheint, hat verständliche forschungslogische Gründe. Stach hoffte lange Zeit, er könnte für die Frühzeit Gebrauch von Max Brods Tagebüchern und Notizen machen, die ihm zu Beginn seiner Arbeit noch nicht zugänglich waren. Der bis heute anhaltende Streit um das Brodsche Erbe machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung. Die Dokumente liegen nach wie vor mehr oder weniger unzugänglich in einem Zürcher Banksafe, und obschon Stach bei einigen Details auf Fotokopien zurückgreifen konnte, ist der abschließende Band jetzt - man muss sagen: endlich - publiziert worden. Ihn noch weiter hinauszuschieben wäre bei der Unsicherheit, die das Schicksal des Brodschen Nachlasses überschattet, nicht mehr begründbar gewesen.
Man kann zudem Zweifel haben, ob die in Zürich verwahrten Materialien für die Biographie Kafkas wirklich so eine große Bedeutung haben wie vermutet. Die wenigen Belege in den Fußnoten, wo Stach auf Brods Notate zurückgreifen konnte, lassen einen da skeptisch werden. Dennoch war es im Sinne der Forschungslogik richtig, so lange wie möglich mit der Publikation zu warten, um sich nicht die Chance entgehen zu lassen, neue Dokumente einzuarbeiten.
Den chronologisch ersten Band einer biographischen Trilogie zuletzt erscheinen zu lassen bringt Konstruktionsprobleme mit sich. Das größte besteht darin, dass durch den immanenten Gang der Forschung sich die Prämissen, unter denen eine Darstellung antritt, ändern können. Bedenkt man, dass der erste Teil der Trilogie 2002, der zweite 2008 herauskam und Stach im Fortgang seines Schreibens mehr und mehr über Kafka lernte, hätte es sein können, dass auch die Sicht auf die Anfänge (etwa aufs Verhältnis Kafkas zu Vater und Mutter) dem erworbenen Kenntnisstand hätte angepasst werden müssen. Es ist das Kunststück, den ersten und zweiten Stock eines Hauses bereits gebaut zu haben und nun erst das Fundament zu legen. Stach ist es gelungen. Das heißt aber auch: Die Grundeinsichten, die er zu Beginn seiner Arbeit auf den jungen Kafka hatte, haben sich für ihn als so erstaunlich konstant erwiesen, dass der neue Band seiner Biographie nicht zugleich eine Revision der früheren Bände erforderlich machte.
Dem zweiten spezifischen Konstruktionsproblem war schwerer zu begegnen. Bei der Einteilung des Gesamtwerks war eine gleichmäßige Anordnung der Teile anzustreben. Da bei der Anlage des Ganzen damit gerechnet wurde, die Brodschen Nachlassmaterialien einbeziehen zu können, fehlt in dem neuen Band virtuell Stoff. Stach hat auf dieses Problem dadurch reagiert, dass er teilweise über den zu behandelnden Zeitraum hinausgreift und zugleich den historischen Kontexten mehr Platz einräumt, als es bei einem möglichen Rückgriff auf die Brodschen Dokumente der Fall gewesen wäre. Das erklärt etwa, warum sich in diesem Band auch ein Abschnitt zu Freud findet, der sachlich und zeitlich nicht recht hineinpasst. Der häufige Rückgriff auf die Selbstinterpretation Kafkas, die dieser im "Brief an den Vater" gab, deckt an vielen Stellen unser Unwissen über die frühe Zeit gnädig zu. Gleichwohl hat Stach seine Aufgabe geschickt gelöst und aus der Not das Beste gemacht. Es wirkt in diesem Buch durchaus eine "zärtliche Langsamkeit".
Das Werk ist eine imponierende Synthese des Forschungsstands auf dem Gebiet der Kafka-Biographik. Gerade zu Kafkas Anfängen lagen beeindruckende Studien vor, auf die Stach zurückgreifen konnte. Klaus Wagenbachs lange Zeit maßgebliche Biographie von Kafkas Frühzeit etwa, die materialreichen Studien Hartmut Binders, die Arbeiten von Hanns Zischler und Peter-André Alt zum Kino, das Buch von Peter Demetz zur Flugschau von Brescia, Benno Wagners Darstellung von Kafkas beruflicher Tätigkeit, all das ist hier in eine kohärente Zusammenfassung eingegangen, die genaues Quellenstudium und Kenntnis der Forschungsansätze verrät - mit ein paar Ausnahmen. Die Forschungen Ritchie Robertsons, John Zilcoskys und Stanley Corngolds werden nicht erwähnt.
Stachs Meisterschaft als Biograph zeigt sich vor allem an seiner Sprache. Es ist kein Leichtes, in einer Darstellung längere Zitate aus Kafkas schlackenloser Prosa der eigenen Schreibart begegnen zu lassen. In vielen Arbeiten klafft an solchen Nähten ein sprachlicher Abgrund. Nicht so bei Stach. Seine umsichtige Diktion, die nie aufdringlich pädagogisch oder besserwisserisch daherkommt, ist dem Gegenstand durchwegs angemessen. Akkomodationen an gängige Phrasen ("Fokus", "verorten", "vernetzt", "andocken", "wissen um") kommen nur äußerst selten vor, und die Gewandtheit, mit der Stach die Feder führt, erschließt dem Leser auch komplizierte Zusammenhänge scheinbar mühelos.
Bei der Menge der en detail behandelten Themen bleibt es nicht aus, dass man in manchem anderer Meinung sein kann als der Biograph. Der "Brief an den Vater" enthält gleich eingangs jenen berühmten Bericht "aus den ersten Jahren" (Kafka), der Vater habe seinen in der Nacht quengelnden Sohn aus dem Bett getragen, auf die Pawlatsche (so nennt man den Innenhofbalkon, der sich an vielen Prager Häusern findet) gestellt und ihn "allein ein Weilchen im Hemd ... vor der geschlossenen Tür" stehen gelassen. Das von vielen (bis hin zu Paul Celan) als Schlüsselerlebnis erkannte Ereignis deutet Stach als Ursprung eines lebenslangen Verlassenheitssyndroms. Kafkas eigene Deutung legt aber vielmehr nahe, dass neben der Erfahrung des Ausgesetztseins im Draußen (es ist freilich ein Innenhof!) vor allem anderen die der eigenen Nichtigkeit im Kontrast zur übermächtigen Gestalt des Vaters ("die letzte Instanz") das Entscheidende an jener Nacht gewesen ist. Der Vater war in ihr nur zu präsent, Verlassenwerden ist etwas ganz anderes.
Auch das Porträt Max Brods ist in Stachs Darstellung etwas verzerrt. Das Kapitel, das sich Kafkas Verhältnis zu seinem späteren Impresario widmet, leidet darunter, dass es unglücklich aufgebaut ist. Nachdem Stach eingangs die eher problematischen Züge des Freundes herausarbeitet (und den Leser damit unterschwellig gegen Brod einnimmt), kommt er gegen Ende auf die frühe Leidensgeschichte Brods zu sprechen (Brod litt an Kyphose, einer Rückgratverkrümmung), die viele Züge an Brods Verhalten in einem anderen Lichte erscheinen lässt. Mit Blick hierauf wäre von Anfang an ein etwas ausbalancierteres Urteil am Platz gewesen. Nicht nur verdanken wir Brods Nachlassrettung das schlechthin zentrale Geschenk, überhaupt sinnvoll vom Kafkaschen Werk sprechen zu können. Die biographischen Aufzeichnungen Brods füllen außerdem sehr viele Lücken in Kafkas Biographie, die durch Kafkas eigene Notizen und andere Dokumente nicht geschlossen werden könnten. Wäre das nicht von Stach selbst stillschweigend zugestanden, der vorliegende Band hätte nicht zuletzt erscheinen müssen.
Eigentliche Fehler weist Stachs stupende Biographie wenig auf. Der Halleysche Komet (der Termin seiner Wiederkehr ist im ersten Oxforder Quartheft als "Kometennacht" vermerkt) zog nicht in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai 1911 am Prager Himmel vorüber, sondern in der darauf. Kafka hatte das Datum erst später bei einer Durchsicht seiner Aufzeichnungen notiert und sich dabei um einen Tag vertan.
Stachs Ansicht, die "Beschreibung eines Kampfes" sei ein Missgriff gewesen und Kafkas eigentliche schriftstellerische Leistung setze erst danach ein, ist idiosynkratisch. Der Entwurf zu diesem Langtext ist zwar ebenso Fragment geblieben wie die späteren Romanentwürfe von "Der Verschollene", "Der Process" und "Das Schloss", das heißt aber hier wie dort nicht, dass man von Misslingen sprechen muss. Wie bei den späteren Texten hat Kafka auch hier - und zwar in bedeutendem Ausmaß - kleinere Erzähleinheiten aus dem ursprünglichen Kontext herausgelöst und noch Jahre später unter dem Titel "Betrachtung" als Buch publiziert, darunter "Kinder auf der Landstrasse", "Der Ausflug ins Gebirge", "Kleider" und "Die Bäume". Das sind nicht die schlechtesten Texte Kafkas, und in vielem entwickeln sie bereits jene Poetik instabiler Erzählperspektive, die sich dann in den Texten der mittleren und späten Zeit voll entfalten wird.
Positiv ist vor allem anderen Stachs widerständiges Insistieren darauf hervorzuheben, dass man aus der historischen Person Franz Kafka nichts für die Deutung einzelner Werke ableiten kann. Das ist wohltuend gegenüber Studien, die an dieser Stelle den Kurzschluss üben. Gerade für einen biographisch arbeitenden Wissenschaftler liegt hier die dauerhafteste Verlockung. Stach ist ihr nicht erlegen, und in dieser Haltung ist er Kafkas eigenen Gedanken am nächsten gekommen.
"Die Teorie, dass lebende Schriftsteller mit ihren Büchern einen lebendigen Zusammenhang haben", hielt Kafka, wie er in einem späten Brief an Milena Jesenská bekennt, für irreführend. "Das wirkliche selbstständige Leben des Buches beginnt erst mit dem Tod des Mannes oder richtiger eine Zeitlang nach dem Tode, denn diese eifrigen Männer kämpfen noch ein Weilchen über ihren Tod hinaus für ihr Buch."
Leben und Werk so diskret zu trennen, wie Reiner Stach das gelungen ist, ist das Gegenteil einer Biographik als Verzweiflung vor der Schrift. Die weise Beschränkung lässt der Schrift ihre Eigenständigkeit - und wird Kafkas Werk darin wahrhaft gerecht.
ROLAND REUSS
Reiner Stach: "Kafka". Die frühen Jahre.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 608 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieses ist der dritte Streich: Reiner Stach schließt nach achtzehnjähriger Arbeit seine große Kafka-Biographie ab. Entstanden ist ein Werk, das auf ein seltenes Prinzip setzt: die zärtliche Langsamkeit.
Forschungsprozesse verlaufen in der Regel unabhängig von Darstellungszusammenhängen. Sie gehen ihnen voraus, und die sprachliche Ausbreitung des Stoffes erfolgt in größerer konstruktiver Freiheit, nachdem man sich mit den Phänomenen, Zeugnissen, Dokumenten vertraut gemacht hat. Aber es gibt Ausnahmen. Der dritte Band von Reiner Stachs Kafka-Biographie ist eine.
Warum der chronologisch erste Band der Biographie - er beschreibt die Jahre von 1883 bis 1911 - zuletzt erscheint, hat verständliche forschungslogische Gründe. Stach hoffte lange Zeit, er könnte für die Frühzeit Gebrauch von Max Brods Tagebüchern und Notizen machen, die ihm zu Beginn seiner Arbeit noch nicht zugänglich waren. Der bis heute anhaltende Streit um das Brodsche Erbe machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung. Die Dokumente liegen nach wie vor mehr oder weniger unzugänglich in einem Zürcher Banksafe, und obschon Stach bei einigen Details auf Fotokopien zurückgreifen konnte, ist der abschließende Band jetzt - man muss sagen: endlich - publiziert worden. Ihn noch weiter hinauszuschieben wäre bei der Unsicherheit, die das Schicksal des Brodschen Nachlasses überschattet, nicht mehr begründbar gewesen.
Man kann zudem Zweifel haben, ob die in Zürich verwahrten Materialien für die Biographie Kafkas wirklich so eine große Bedeutung haben wie vermutet. Die wenigen Belege in den Fußnoten, wo Stach auf Brods Notate zurückgreifen konnte, lassen einen da skeptisch werden. Dennoch war es im Sinne der Forschungslogik richtig, so lange wie möglich mit der Publikation zu warten, um sich nicht die Chance entgehen zu lassen, neue Dokumente einzuarbeiten.
Den chronologisch ersten Band einer biographischen Trilogie zuletzt erscheinen zu lassen bringt Konstruktionsprobleme mit sich. Das größte besteht darin, dass durch den immanenten Gang der Forschung sich die Prämissen, unter denen eine Darstellung antritt, ändern können. Bedenkt man, dass der erste Teil der Trilogie 2002, der zweite 2008 herauskam und Stach im Fortgang seines Schreibens mehr und mehr über Kafka lernte, hätte es sein können, dass auch die Sicht auf die Anfänge (etwa aufs Verhältnis Kafkas zu Vater und Mutter) dem erworbenen Kenntnisstand hätte angepasst werden müssen. Es ist das Kunststück, den ersten und zweiten Stock eines Hauses bereits gebaut zu haben und nun erst das Fundament zu legen. Stach ist es gelungen. Das heißt aber auch: Die Grundeinsichten, die er zu Beginn seiner Arbeit auf den jungen Kafka hatte, haben sich für ihn als so erstaunlich konstant erwiesen, dass der neue Band seiner Biographie nicht zugleich eine Revision der früheren Bände erforderlich machte.
Dem zweiten spezifischen Konstruktionsproblem war schwerer zu begegnen. Bei der Einteilung des Gesamtwerks war eine gleichmäßige Anordnung der Teile anzustreben. Da bei der Anlage des Ganzen damit gerechnet wurde, die Brodschen Nachlassmaterialien einbeziehen zu können, fehlt in dem neuen Band virtuell Stoff. Stach hat auf dieses Problem dadurch reagiert, dass er teilweise über den zu behandelnden Zeitraum hinausgreift und zugleich den historischen Kontexten mehr Platz einräumt, als es bei einem möglichen Rückgriff auf die Brodschen Dokumente der Fall gewesen wäre. Das erklärt etwa, warum sich in diesem Band auch ein Abschnitt zu Freud findet, der sachlich und zeitlich nicht recht hineinpasst. Der häufige Rückgriff auf die Selbstinterpretation Kafkas, die dieser im "Brief an den Vater" gab, deckt an vielen Stellen unser Unwissen über die frühe Zeit gnädig zu. Gleichwohl hat Stach seine Aufgabe geschickt gelöst und aus der Not das Beste gemacht. Es wirkt in diesem Buch durchaus eine "zärtliche Langsamkeit".
Das Werk ist eine imponierende Synthese des Forschungsstands auf dem Gebiet der Kafka-Biographik. Gerade zu Kafkas Anfängen lagen beeindruckende Studien vor, auf die Stach zurückgreifen konnte. Klaus Wagenbachs lange Zeit maßgebliche Biographie von Kafkas Frühzeit etwa, die materialreichen Studien Hartmut Binders, die Arbeiten von Hanns Zischler und Peter-André Alt zum Kino, das Buch von Peter Demetz zur Flugschau von Brescia, Benno Wagners Darstellung von Kafkas beruflicher Tätigkeit, all das ist hier in eine kohärente Zusammenfassung eingegangen, die genaues Quellenstudium und Kenntnis der Forschungsansätze verrät - mit ein paar Ausnahmen. Die Forschungen Ritchie Robertsons, John Zilcoskys und Stanley Corngolds werden nicht erwähnt.
Stachs Meisterschaft als Biograph zeigt sich vor allem an seiner Sprache. Es ist kein Leichtes, in einer Darstellung längere Zitate aus Kafkas schlackenloser Prosa der eigenen Schreibart begegnen zu lassen. In vielen Arbeiten klafft an solchen Nähten ein sprachlicher Abgrund. Nicht so bei Stach. Seine umsichtige Diktion, die nie aufdringlich pädagogisch oder besserwisserisch daherkommt, ist dem Gegenstand durchwegs angemessen. Akkomodationen an gängige Phrasen ("Fokus", "verorten", "vernetzt", "andocken", "wissen um") kommen nur äußerst selten vor, und die Gewandtheit, mit der Stach die Feder führt, erschließt dem Leser auch komplizierte Zusammenhänge scheinbar mühelos.
Bei der Menge der en detail behandelten Themen bleibt es nicht aus, dass man in manchem anderer Meinung sein kann als der Biograph. Der "Brief an den Vater" enthält gleich eingangs jenen berühmten Bericht "aus den ersten Jahren" (Kafka), der Vater habe seinen in der Nacht quengelnden Sohn aus dem Bett getragen, auf die Pawlatsche (so nennt man den Innenhofbalkon, der sich an vielen Prager Häusern findet) gestellt und ihn "allein ein Weilchen im Hemd ... vor der geschlossenen Tür" stehen gelassen. Das von vielen (bis hin zu Paul Celan) als Schlüsselerlebnis erkannte Ereignis deutet Stach als Ursprung eines lebenslangen Verlassenheitssyndroms. Kafkas eigene Deutung legt aber vielmehr nahe, dass neben der Erfahrung des Ausgesetztseins im Draußen (es ist freilich ein Innenhof!) vor allem anderen die der eigenen Nichtigkeit im Kontrast zur übermächtigen Gestalt des Vaters ("die letzte Instanz") das Entscheidende an jener Nacht gewesen ist. Der Vater war in ihr nur zu präsent, Verlassenwerden ist etwas ganz anderes.
Auch das Porträt Max Brods ist in Stachs Darstellung etwas verzerrt. Das Kapitel, das sich Kafkas Verhältnis zu seinem späteren Impresario widmet, leidet darunter, dass es unglücklich aufgebaut ist. Nachdem Stach eingangs die eher problematischen Züge des Freundes herausarbeitet (und den Leser damit unterschwellig gegen Brod einnimmt), kommt er gegen Ende auf die frühe Leidensgeschichte Brods zu sprechen (Brod litt an Kyphose, einer Rückgratverkrümmung), die viele Züge an Brods Verhalten in einem anderen Lichte erscheinen lässt. Mit Blick hierauf wäre von Anfang an ein etwas ausbalancierteres Urteil am Platz gewesen. Nicht nur verdanken wir Brods Nachlassrettung das schlechthin zentrale Geschenk, überhaupt sinnvoll vom Kafkaschen Werk sprechen zu können. Die biographischen Aufzeichnungen Brods füllen außerdem sehr viele Lücken in Kafkas Biographie, die durch Kafkas eigene Notizen und andere Dokumente nicht geschlossen werden könnten. Wäre das nicht von Stach selbst stillschweigend zugestanden, der vorliegende Band hätte nicht zuletzt erscheinen müssen.
Eigentliche Fehler weist Stachs stupende Biographie wenig auf. Der Halleysche Komet (der Termin seiner Wiederkehr ist im ersten Oxforder Quartheft als "Kometennacht" vermerkt) zog nicht in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai 1911 am Prager Himmel vorüber, sondern in der darauf. Kafka hatte das Datum erst später bei einer Durchsicht seiner Aufzeichnungen notiert und sich dabei um einen Tag vertan.
Stachs Ansicht, die "Beschreibung eines Kampfes" sei ein Missgriff gewesen und Kafkas eigentliche schriftstellerische Leistung setze erst danach ein, ist idiosynkratisch. Der Entwurf zu diesem Langtext ist zwar ebenso Fragment geblieben wie die späteren Romanentwürfe von "Der Verschollene", "Der Process" und "Das Schloss", das heißt aber hier wie dort nicht, dass man von Misslingen sprechen muss. Wie bei den späteren Texten hat Kafka auch hier - und zwar in bedeutendem Ausmaß - kleinere Erzähleinheiten aus dem ursprünglichen Kontext herausgelöst und noch Jahre später unter dem Titel "Betrachtung" als Buch publiziert, darunter "Kinder auf der Landstrasse", "Der Ausflug ins Gebirge", "Kleider" und "Die Bäume". Das sind nicht die schlechtesten Texte Kafkas, und in vielem entwickeln sie bereits jene Poetik instabiler Erzählperspektive, die sich dann in den Texten der mittleren und späten Zeit voll entfalten wird.
Positiv ist vor allem anderen Stachs widerständiges Insistieren darauf hervorzuheben, dass man aus der historischen Person Franz Kafka nichts für die Deutung einzelner Werke ableiten kann. Das ist wohltuend gegenüber Studien, die an dieser Stelle den Kurzschluss üben. Gerade für einen biographisch arbeitenden Wissenschaftler liegt hier die dauerhafteste Verlockung. Stach ist ihr nicht erlegen, und in dieser Haltung ist er Kafkas eigenen Gedanken am nächsten gekommen.
"Die Teorie, dass lebende Schriftsteller mit ihren Büchern einen lebendigen Zusammenhang haben", hielt Kafka, wie er in einem späten Brief an Milena Jesenská bekennt, für irreführend. "Das wirkliche selbstständige Leben des Buches beginnt erst mit dem Tod des Mannes oder richtiger eine Zeitlang nach dem Tode, denn diese eifrigen Männer kämpfen noch ein Weilchen über ihren Tod hinaus für ihr Buch."
Leben und Werk so diskret zu trennen, wie Reiner Stach das gelungen ist, ist das Gegenteil einer Biographik als Verzweiflung vor der Schrift. Die weise Beschränkung lässt der Schrift ihre Eigenständigkeit - und wird Kafkas Werk darin wahrhaft gerecht.
ROLAND REUSS
Reiner Stach: "Kafka". Die frühen Jahre.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 608 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Roland Reuss ist rundum glücklich mit dem dritten Band von Reiner Stachs Kafka-Biografie. Gründe sind für ihn: die geringe Anzahl an Sachfehlern, Stachs erstaunliches Niederringen der mit der achronologischen Erscheinungsweise der Bände einhergehenden Konstruktionsprobleme, sein Talent bei der genauen Synthese der Forschung, die Vermeidung sprachlicher, durch die Konfrontation mit Kafkas Diktion entstehender Abgründe sowie vor allem die Widerständigkeit, die der Autor einer Parallelisierung von Leben und Werk entgegenbringt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.11.2016NEUE TASCHENBÜCHER
Wie aus Franz
Kafka wurde
Reiner Stach hat seine dreibändige Kafka-Biografie mit „Kafka. Die frühen Jahre“ beendet. Die Zeit zwischen Geburt 1883 und Reiseerlebnissen mit Max Brod 1911 bildet den wohl spannendsten Teil des mit dem Joseph-Breitbach-Preis prämierten Werks. Die dünne Quellenlage, wegen der Stach letztlich vergebens hoffte, die weitgehend unerforschten Tagebücher Brods verarbeiten zu können, kompensiert er durch kenntnisreiche Schilderungen des damaligen Lebens. Der mikrosoziale Kosmos Prags vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen Deutschen, Tschechen und Juden wird als Porträt einer Stadt, eines Landes, einer Epoche lebendig. Dazwischen bewegt sich ein schwimmbegeisterter junger Mann mit ambivalentem Verhältnis zu seinem groben Kaufmannsvater, der pragmatischen Mutter und den drei „spätgeborenen“ Schwestern: „Es gibt ein Kommen und ein Gehen, ein Scheiden und oft kein – Wiedersehen!“ vermerkte der 14-jährige Franz im Poesiealbum eines Freundes. In diesen knappen Worten finden sich gebündelt erste Erfahrungen mit den „drei fundamentalen Motiven“ seines Lebens: Macht, Angst und Einsamkeit. TOBIAS SEDLMAIER
Reiner Stach: Kafka: Die frühen Jahre. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 608 Seiten, 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie aus Franz
Kafka wurde
Reiner Stach hat seine dreibändige Kafka-Biografie mit „Kafka. Die frühen Jahre“ beendet. Die Zeit zwischen Geburt 1883 und Reiseerlebnissen mit Max Brod 1911 bildet den wohl spannendsten Teil des mit dem Joseph-Breitbach-Preis prämierten Werks. Die dünne Quellenlage, wegen der Stach letztlich vergebens hoffte, die weitgehend unerforschten Tagebücher Brods verarbeiten zu können, kompensiert er durch kenntnisreiche Schilderungen des damaligen Lebens. Der mikrosoziale Kosmos Prags vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen Deutschen, Tschechen und Juden wird als Porträt einer Stadt, eines Landes, einer Epoche lebendig. Dazwischen bewegt sich ein schwimmbegeisterter junger Mann mit ambivalentem Verhältnis zu seinem groben Kaufmannsvater, der pragmatischen Mutter und den drei „spätgeborenen“ Schwestern: „Es gibt ein Kommen und ein Gehen, ein Scheiden und oft kein – Wiedersehen!“ vermerkte der 14-jährige Franz im Poesiealbum eines Freundes. In diesen knappen Worten finden sich gebündelt erste Erfahrungen mit den „drei fundamentalen Motiven“ seines Lebens: Macht, Angst und Einsamkeit. TOBIAS SEDLMAIER
Reiner Stach: Kafka: Die frühen Jahre. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 608 Seiten, 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Stachs Kafka-Biografie ist das Meisterwerk eines Berufenen, der ohne Eitelkeit in minutiösen Beobachtungen und in leichtem und schwingenden Ton erzählt. Manfred Schneider Neue Zürcher Zeitung 20141014
Das Urteil
Goethe, Thomas Mann, Kafka - einer dieser Namen fällt immer, wenn die bedeutendsten Autoren deutscher Sprache genannt werden. Weltweite Würdigung fand Franz Kafka allerdings erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Intensität seines Stils, der oft als bedrohend und unheimlich empfunden wird, führte zur Bildung des Wortes "kafkaesk". Der Schriftsteller verdiente seinen Lebensunterhalt als Versicherungsjurist in Prag. Mit seinen Werke wie Das Urteil, Die Verwandlung und Der Prozess schrieb er Literaturgeschichte.
Ein "Trümmerfeld"
Die Jahre von 1910 bis 1915 waren laut Reiner Stach die wichtigsten im Leben Kafkas, der 1924 mit 41 Jahren an Kehlkopftuberkulose starb. Stach legt ein klug geschriebenes, aufwendig und sorgfältig recherchiertes Buch über diese Zeit vor. Seine Bilanz überrascht: "Der Eindruck ist unabweislich, dass Kafka als Schriftsteller ein Trümmerfeld hinterlassen hat." Kafkas literarisches Erbe umfasst 40 vollendete Prosatexte, davon neun Erzählungen (u.a. In der Strafkolonie, Der Heizer, Erstes Leid), sowie etwa 3.400 Druckseiten Tagebuchaufzeichnungen und literarische Fragmente.
Seltenes Glück
Kafka stand praktisch immer unter großer Anspannung. Furcht vor dem Vater und dem ersten großen Krieg, Versagensangst beim Schreiben und in der Liebe, Alpträume und Panik wurden nur selten von hoffnungsvolleren Momenten abgelöst. Auch seine materielle Lage war selten gut. Erschütternd ist für den Biografen das Missverhältnis zwischen den lebenslangen, verzweifelten Anstrengungen, die Kafka auf Erfüllung in der Liebe verwandte, und dem "seltenen Glück, das niemals frei gegeben und niemals frei empfangen wurde". Was bleibt, ist das Werk. Und das ist, Fragment hin oder her, vielleicht das Eindringlichste, was die deutsche Literatur im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat.
(Roland Große Holtforth, literaturtest.de)
Goethe, Thomas Mann, Kafka - einer dieser Namen fällt immer, wenn die bedeutendsten Autoren deutscher Sprache genannt werden. Weltweite Würdigung fand Franz Kafka allerdings erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Intensität seines Stils, der oft als bedrohend und unheimlich empfunden wird, führte zur Bildung des Wortes "kafkaesk". Der Schriftsteller verdiente seinen Lebensunterhalt als Versicherungsjurist in Prag. Mit seinen Werke wie Das Urteil, Die Verwandlung und Der Prozess schrieb er Literaturgeschichte.
Ein "Trümmerfeld"
Die Jahre von 1910 bis 1915 waren laut Reiner Stach die wichtigsten im Leben Kafkas, der 1924 mit 41 Jahren an Kehlkopftuberkulose starb. Stach legt ein klug geschriebenes, aufwendig und sorgfältig recherchiertes Buch über diese Zeit vor. Seine Bilanz überrascht: "Der Eindruck ist unabweislich, dass Kafka als Schriftsteller ein Trümmerfeld hinterlassen hat." Kafkas literarisches Erbe umfasst 40 vollendete Prosatexte, davon neun Erzählungen (u.a. In der Strafkolonie, Der Heizer, Erstes Leid), sowie etwa 3.400 Druckseiten Tagebuchaufzeichnungen und literarische Fragmente.
Seltenes Glück
Kafka stand praktisch immer unter großer Anspannung. Furcht vor dem Vater und dem ersten großen Krieg, Versagensangst beim Schreiben und in der Liebe, Alpträume und Panik wurden nur selten von hoffnungsvolleren Momenten abgelöst. Auch seine materielle Lage war selten gut. Erschütternd ist für den Biografen das Missverhältnis zwischen den lebenslangen, verzweifelten Anstrengungen, die Kafka auf Erfüllung in der Liebe verwandte, und dem "seltenen Glück, das niemals frei gegeben und niemals frei empfangen wurde". Was bleibt, ist das Werk. Und das ist, Fragment hin oder her, vielleicht das Eindringlichste, was die deutsche Literatur im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat.
(Roland Große Holtforth, literaturtest.de)