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Produktbeschreibung
An diesem streng gebauten Zyklus schrieb der Autor siebzehn Jahre von 1986 bis 2003.
Autorenporträt
Michael Roes wurde 1960 in Rhede am Niederrhein geboren. Im Anschluss an das Studium der Psychologie, Philosophie und Germanistik arbeitete er als Regie- und Dramaturgieassistent an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Ethnologische Studien sowie längere Aufenthalte im Nahen Osten und in Amerika führten zu viel beachteten Werken. Im Jahr 2000 drehte Roes in New York und im Jemen seinen ersten Spielfilm "Someone Is Sleeping in My Pain", einen arabischen Macbeth. Derzeit ist der in Berlin lebende Michael Roes Gastprofessor am Center for Art and Culture der Central European University in Budapest. 2006 erhielt Michael Roes den ersten "Alice Salomon Poetik Preis", weil "er als Poet, Romancier, Filmemacher und als Kundiger in der Lehre ein exzellentes und provokantes Werk hervorgebracht hat". Der Preis ist mit einer Alice Salomon Poetik Dozentur verbunden. 2013 wurde ihm der "Spycher: Literaturpreis Leuk 2013" der Schweiz verliehen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.11.2004

Verletzt sein heißt verändert werden
Warum Kain jetzt die Wahrheit hat: Michael Roes’ „Elegie” ist Arbeit am Mythos
Kain kam zuerst zur Welt und war Ackerbauer, sein Bruder Abel war Schafhirt. Kain und Abel brachten Gott ein Opfer, aber Gott beachtete nur das von Abel. Da überlief es Kain heiß, und er senkte den Blick. Gott sagte zu ihm: Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken. Kain sagte zu seinem Bruder: Gehen wir aufs Feld! Auf dem Feld erschlug er ihn. Gott fragte Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Ich weiß es nicht, antwortete Kain. Bin ich der Hüter meines Bruders? Da verfluchte Gott Kain und machte ihm ein Zeichen, damit niemand ihn erschlage, der ihm begegne. Und Kain ging fort von Gott und ließ sich östlich vom Paradies im Land Nod nieder.
Kain blickt zu Boden, bevor er sündigt. Es ist falsch, wenn die Strafe der Tat vorangeht. Wenn jener schlecht ist, der sich schämt und es nicht soll, tut dann recht, wer keine Scham kennt und sie spüren müsste? Kain probiert es aus. Gott bestraft ihn, aber Kain erkennt das nicht als Fußtritt des Alten an, bloß als den notwendigen Lauf der Dinge, und behält Recht. Kain hat jetzt die Wahrheit. Nod ist das Land der Wahrheit. Lass mich allein, Gott, ich brauche dich nicht mehr. Und dann zeugt er die Menschheit. Die Auslegung beschwörende Dunkelheit des biblischen Gleichnisses erhellt der 1960 geborene Michael Roes mit einem Gedicht über das, was zwischen den Sätzen der biblischen Erzählung nicht steht. Er legt einen Sinn hinein. Roes’ „Elegie”, aus sieben mal sieben Gedichten gefügt, ist ein grimmiges und ambitioniertes Auslegen, kompromisslos, eigen, auch gedrechselt und gelahrt, doch nicht ohne Stachel.
Niklas Luhmanns „Soziale Systeme” gilt Roes als adäquate, abstoßende theoretische Bestimmung der Zeit nach dem Mord. Das ist nicht ungefährlich. Vor rund zehn Jahren hat der Kunstverächter und Ironiker in „Die Kunst der Gesellschaft” gespöttelt, er schreibe keine Theorie, die einem Künstler nützen könnte, aber vielleicht komme es ja zu produktiven Missverständnissen. Roes steht auf der sicheren Seite, indem er zerknirscht anerkennt. Wenn eines der Gedichte aus dem Zyklus „Es gibt kein Gesetz und keinen Richter” Luhmann paraphrasierend „DAS SYSTEM FORDERT DIE AUSGRENZUNG einer nicht zum System gehörenden Welt. Die Grenzziehung ist konstituierend für das System” heißt, zeigt schon die Wahl des Großbuchstabenausschnitts, dass man Luhmann beeindruckend kalt und zwingend findet, Adorno aber lieber mag. Eine Theorie, die Moralität als Mechanismus zur Komplexitätsreduktion erklärt, ist moralisch zu verurteilen, denn dass in der sozialen Evolution ausdifferenziert wird und das Funktionslose wegfällt, gibt Kain recht. Zumindest als Revolutionär darf sich der systemtheoretische Kain nicht fühlen. Zwar bestätigt ihn bereits der erfolgreiche Mord, aber es wird andere Stärkere geben, und auf seinen Erstlingsstatus braucht er sich nichts einzubilden. Das Programm ist geschrieben, ehe der Erste es ausführt. „Soziale Systeme”, der hyperabstrakte Konstruktionsplan möglicher Konstruktionspläne der Systemtheorie und die Anti-Bibel von „Kain”, gibt dessen Sprache vor.
Auffahrende Wut
Es überrascht nicht, dass Roes formal wie inhaltlich frei mit der Elegie schaltet, in deren Form sein Kain die Worte setzt. Die verhaltene Klage, die wehmütige Resignation sind da, aber sie sind außerhalb von Kain, in dem, der ihm zuhört. Kains Klage nämlich weicht bald auffahrender Wut, die sich nicht aus elegischer Erinnerung speist, sondern aus Worten, die Kain wie Fäuste treffen und an deren Gewalt er sich berauscht, um sie selber in die Hand zu nehmen und mit ihnen zu handeln. Nach Adam begeht Kain den zweiten Sündenfall, und was er dem Vater voraus hat, ist die Absicht. „Blute nur verletzt sein heißt verändert werden”, sagte Gott zu Kain, und der antwortet: „Rede nur gehen wir einander doch zur Hand bei der Rodung des Buschwerks”, und Gott: „bräche ich / Deinen hirnschädel auf träte der geist der / Reue hervor”, dann aber Kain: „zerbräche ich dir den schädel / Fände ich statt eines inneren auges nur / Einen faustkeil vor”. Gott: „du irrst deine reue / Geht in meinem Rauch auf”, Kain: „wer bist du / Ein prähistorisches Tier statt brennender / Wahrheit seh ich die wahrheiten brennen”. Kain ist bei Roes das Leben und die Kraft in den Gestalten von Prometheus, Übermensch und anarchisch-asozialem Baal. Seinem Bruder schlägt er den Schädel mit reinem Gewissen ein, während dem Dichter wie dichtenden Fachärzten für Haut- und Geschlechtskrankheiten der Ekel Bilder und Metaphern einbläst: „Die genaue anschrift der nichtzeit lautet / Lungenödem”. Gelegentlich begegnet ein Alexandriner, das Ersatzmetrum der deutschen Elegie fürs antike Distichon. Den epigrammatischen Duktus wiederum teilt „Kain” etwa mit Brechts „Buckower Elegien”.
Epigramme sind Aussagen, die mit Verzückung oder Schmerz verstanden werden sollen. In „Kain” sagen sie die Gegenwart aus, deren Vorspiel die Geschichte von Kain und Abel ist. „Endlich hat feuer gefangen was nicht brennen / Kann glühfadenentwinder fäulnisgaslöscher / Nachgewühlt in der anatomischen stunde / Die wissenschaft zittert nicht angesichts des / Monströsen Wo Gott geschieht, ist der Erfolg / Garantiert! Glaube ist der Sprung ins Gelingen!” „Kain” ist Thesenlyrik, betreibt historische Anthropologie und zeichnet den Gang der Menschengestalt durch die Zeit nach, um beim Diktat der Biologie, der Festlegung durchs Klischee, der Erstarrung in Gewohnheit, der Gier und dem Wünschen aus bloßer Langeweile anzukommen. „Kain” gehört zu jener Klasse von Dichtung, deren Sätze sich sperren und eindeutig auflösen lassen. Wo bleibt das Göttliche, das über Wahrheit hinausweist? Das Göttliche gibt es in dieser nachbiblischen Bibelnachdichtung nicht mehr. Auch das gehört zu der Geschichte von Kain und seinen Nachkommen, zur Geschichte der Menschen in Nod, die allein mit der Wahrheit leben.
KAI MARTIN WIEGANDT
MICHAEL ROES: Kain. Elegie. Parthas Verlag, Berlin 2004. 94 S., 14,80 Euro.
„Kain erschlägt Abel” von Tizian
Foto: akg-images
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Geht das zusammen? Die biblische Kain-Erzählung, Niklas Luhmanns "Soziale Systeme" und die poetische Form der Elegie? Es geht, folgt man Kai Martin Wiegandt, wenn man sich Kain als Systemtheoretiker denkt und Michael Roes' Bibelnachdichtung "Kain" als Thesenlyrik liest. Wobei Roes mit der Form der Elegie völlig frei verfährt und sie eher etwas vom epigrammatischen Duktus der "Buckower Elegien" Brechts hat, meint Wiegandt, der vor seinen Lesern großes theoretisches Geschütz auffährt. Roes' Thesenlyrik definiert er folgenderweise: sperrige Sätze, die sich völlig auflösen lassen, wenn man lange genug an ihnen herumknobelt. Roes schreibe wie ein Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, konstatiert Wiegandt, seinen Metaphern sei der Ekel eingeschrieben. Kain wiederum symbolisiere für den Autor die eher anarchische Kraft eines Baal, das Kraftstrotzende, die Unmoral, die Gott mit Absicht eins auswischt, analysiert Wiegandt. Klage und Resignation fänden sich bei Kain nicht, gesteht Wiegandt, das Elegische sei dem Zorn gewichen.

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