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Seit Generationen lebt der Leghorn-Clan über dem Fluss Otsch, in einer wilden, betörend schönen Landschaft. Joas Vater, Caleb, hat sich in die Stadt abgesetzt, sein Bruder Zack, ein Holzfäller, ernährt die Familie. Calebs Tochter Joa ist dreizehn, als ihre Mutter wieder schwanger wird. An einem Gewitternachmittag kommt Timpie Leghorn in der Dachkammer zur Welt, während nebenan der Großvater stirbt. Früh zieht Timpie die Hassliebe der Mutter auf sich; ein Krieg tobt vor aller Augen, doch niemand greift ein. Während Joa ihre ersten Gedichte schreibt und sich in Zack verliebt, frisst Timpie…mehr

Produktbeschreibung
Seit Generationen lebt der Leghorn-Clan über dem Fluss Otsch, in einer wilden, betörend schönen Landschaft. Joas Vater, Caleb, hat sich in die Stadt abgesetzt, sein Bruder Zack, ein Holzfäller, ernährt die Familie. Calebs Tochter Joa ist dreizehn, als ihre Mutter wieder schwanger wird. An einem Gewitternachmittag kommt Timpie Leghorn in der Dachkammer zur Welt, während nebenan der Großvater stirbt. Früh zieht Timpie die Hassliebe der Mutter auf sich; ein Krieg tobt vor aller Augen, doch niemand greift ein. Während Joa ihre ersten Gedichte schreibt und sich in Zack verliebt, frisst Timpie Dreck, verweigert das Sprechen. Mit fünf stürzt sie ihre Mutter von der Brücke in den Otsch und gilt als Mörderin. Viele Jahre später entdeckt Joa, inzwischen verheiratete Ärztin, in einer Buchhandlung einen Gedichtband der siebzehnjährigen Timpie Leghorn. Wie die Schwestern einander wieder finden, wie Joa einer weit schockierenderen Wahrheit auf die Spur kommt und sich zuletzt des Mordes an Timpie bezichtigt, den ihr niemand glaubt - all das geschieht mit einer skandalösen Unausweichlichkeit: ein modernes Märchen über die Krankheit Familie. Nicht nur die sinnliche Sprache voll surrealer Bilder überrascht, sondern auch der Mut der Autorin, sich einer verdrängten Erfahrung zu nähern: dass das Leben unverfügbar und die Liebe schrecklich ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2000

Meine kleine Schwester
Geteilte Familienerinnerungen: Susanne Riedels erster Roman "Kains Töchter" · Von Eberhard Rathgeb

Ein Schicksal erfüllt sich meistens mit einem Donnerschlag. Darauf liegt der Held mit gebrochenem Genick im Staub, oder er wächst an dem eisernen Pfahl heran, den das Unglück in ihn hineintrieb. Nicht so im ersten Roman von Susanne Riedel. Hier rasselt der Held, es ist eine Frau, an einer Kette von Katastrophen in den Abgrund, schlägt dort auf und verstummt im Monolog. Die Familie, dieses unheimliche System der festen und diffusen, offenen und verdeckten Bindungen, hat diese Frau in die Gruft ihrer Seele getrieben, dorthin, wo man wirklich alleine ist und der eigenen gebrochenen Stimme nur noch ihr Echo antwortet. Ein paar Menschen, ein Vater, eine Mutter, eine Schwester, ein Onkel zum Beispiel, die zuerst nur durch das Blut und dann auch noch durch die Taten und Untaten, durch die Schuld und die Unschuld miteinander verbunden sind, teilen ein Haus und teilen ihr Leben, und doch verstellen sie sich oft ihr Dasein gegenseitig bis zur Existenzunmöglichkeit. Auch wenn einer auszieht und in die Fremde, raus aus dem Einflussbereich der Familie, geht, er bleibt doch von der Heimat, die ihm die Familie war, gezeichnet, bleibt gebrandmarkt von dieser allerersten Fühlungnahme mit den Menschen, von den langen Jahren, in denen eine natürliche Liebe und ein gewordener Hass ein unheilvolles und vergiftendes Gemisch waren. Von den Tragödien innerhalb einer Familie, die einzig und allein durch die Familie entstehen, von der Schuld und der Verantwortung derer, die zur Familie gehören, auch wenn sie die Familie zerstören oder nicht retten, handelt Susanne Riedels erster Roman.

In dieser Geschichte sind die Türen und Fenster fest verschlossen, und es käme keine den Leser belebende Luft in die betonierten Verhältnisse hinein, wenn nicht die kraftvolle und bilderreiche Sprache aus dem Einweckglas der nichts verstehenden Familie und der alles verstehenden Familientherapie ausbrechen und über dem familialen Bindungsgemenge den schwarzen Himmel einer talgroßen, nicht menschenweltumgreifenden Tragik aus Schuld und Verantwortung heraufbeschwören würde. Die Erzählung kommt ohne die Notfälle und Unfälle eines Lebens außerhalb der Familie aus. Mehr Boden, als Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer bieten, braucht das Unglück hier nicht. Eine Erlösung darf man weder im Vergessen noch im Verdrängen des Erlittenen erhoffen. Ein in seinen Dimensionen wahres Seelendrama, wie es der Heldin des Romans geschieht, endet im Schweigen, das einem die Schuld gebietet, von der man selbst sich nicht freisprechen kann. Dass in dieser Geschichte einige familiale Umwege und psychische Arabesken um der Dichte der Erzählung willen hätten gekürzt werden können - das ändert nichts daran, dass dieser Roman eines auch tödlichen Familiendesasters einen Leser wahrhaft leidvoll zu bewegen vermag. Und zwar auch deswegen, weil die Grenzen des Mitgefühls mit den Grenzen der Mitteilungsmöglichkeit zusammenfallen und damit sowohl die Geschichte als auch der Leser in ihre Schranken verwiesen werden. Nicht alles lässt sich erzählen, nicht alles verstehen, nicht einmal, wenn es sich um die Geschichte der Verstrickungen innerhalb einer Familie handelt. Und man kann auch nicht alles jedem erzählen. Von Schuld ist in diesem Roman immer wieder unterschwellig und im Gespräch der Figuren die Rede, insbesondere von der Schuld eines Menschen, der das Unglück in der Familie sah und nichts unternahm, es abzuwenden, weil er selbst nicht die Hand schützend über sich halten konnte.

Eine Großmutter hatte zwei Söhne, der eine hieß Caleb und der andere Zack. Caleb heiratete Rose Marie, machte ihr ein Kind und verschwand in die Stadt, weil er Besseres vorhatte, als auf dem Land mit seiner Familie zu leben. Die Mutter, das Mädchen, die Großeltern und der Bruder des Vaters wohnten in einem Haus zusammen. Das Kind wurde Joa genannt und schrieb in jungen Jahren schon Gedichte. Ihr Vater kümmerte sich weder um seine Tochter noch um seine Frau. Er schickte belanglose Postkarten und besuchte die beiden, wenn es ihm passte. Als Joa dreizehn Jahre alt war, wurde die Mutter schwanger. Joas Vater hatte den beiden einen Besuch auf dem Land abgestattet. Das Kind erhielt den Namen Thymia Sophie, kurz Thimpie genannt. Der Vater war weg, die Mutter mit ihren zwei Kindern allein. Daran muss kein Leben zerbrechen. Es kam aber schlimmer. Die Mutter begann, die Kleine zu misshandeln. Sie nahm zum Beispiel die Hände des Kindes, weil es ein Glas oder eine Tasse vom Tisch gestoßen hatte, und drückte sie ins Öl, das in der Pfanne brodelte. Das Kind hätte aufschreien müssen. Doch es war die Schmerzen gewohnt, die ihm von der Mutter zugefügt wurden. Was machte Joa? Sie schaute zu, indem sie wegsah. Sie hasste ihre kleine Schwester, die von der Mutter geschlagen wurde. Die Großmutter und der Onkel konnten die Mutter nicht bändigen. Der Tochter wurden die Haare ausgerissen und die Arme blau geschlagen. Die Kleine blieb tapfer und anhänglich. Sie liebte ungebrochen ihre Mutter und ihre Schwester. Sie war spindeldürr und stopfte Unrat in sich hinein, Dreck, Rost und Eisenspäne. War damit nicht der Unglücksbecher voll? Nein, es floss weiter, als zöge ein Leid andere Leiden nach sich. Die Mutter fiel von einer Brücke in einen Fluss und ertrank. Joa glaubte, dass ihre kleine Schwester die Mutter ins Wasser gestoßen hatte. Joa zog in die Stadt, studierte Medizin. Sie erfuhr, dass ihr Vater heimlich eine zweite Familie gegründet und noch eine Tochter bekommen hatte. Thimpie unterzog sich einer therapeutischen Behandlung, entpuppte sich als ein hochbegabtes Kind und stieg als junge Frau mit ihrem Onkel Zack ins Bett, der ihr ein Kind machte. Joa erfuhr, dass Thimpie nicht die Tochter Calebs, sondern die Tochter Zacks war. Schwappte der Unglücksbecher damit nicht über?

Joa heiratete, bekam ein Kind und schlug es. Thimpie erzählte Joa, dass sie, die größere Schwester, von ihrer Mutter misshandelt worden war, was Joa verdrängt hatte. Joa erzählte ihrer Schwester, was sie über Zack wusste. Thimpie setzte sich in ein Auto, zog das Garagentor zu, atmete die Abgase ein und erstickte. Auf der Rückbank hatte sich Joas Kind versteckt. Es starb. Joa kam in eine psychiatrische Anstalt, lag im Bett, kratzte sich die Haut auf und versuchte zu verstehen, was geschehen war und ob man seine Schuld einem anderen mitteilen könnte, wenn man ihm davon erzählte, und ob er zu verstehen in der Lage wäre.

Wie viele Katastrophen verkraftet ein Roman? Das Unglück hat seine Sprache. Wenn man diese Sprache nicht findet, landet man im billigen Verständnis derer, denen scheinbar keine Katastrophe fremd ist, und im billigen Mitleid jener, die vom Fassungslosen nicht aus der Fassung gebracht werden. Man kann sich darüber wundern, dass Susanne Riedel auf Anhieb eine Geschichte über Schuld, Vergeben und Vergessen wirklich gelang. Eindringlich ist diese Geschichte dank der sprachlichen Suchbewegungen, bestürzend dank einer manchmal ausufernden Dichte der ¿Taten aus Hass und Liebe und erhellend dank einer analytischen Vorsicht vor Erklärungen. Der Leser wird in eine anschwellende Unglücksflut hineingerissen und von den Schicksalen mitgenommen. "Kinderauschwitz" nannte die kleine Schwester, was sie überlebt hatte, weil aus dieser Familie auf dem Land kein Weg, keine Therapie, kein Vergeben und kein Vergessen in ein unbeschwertes Dasein führte.

Was hätte nicht alles schiefgehen können bei dieser Erzählung. Die Geschichte aber hält sich, und zwar auf eine heilsame Distanz, in Augenhöhe des Lesers, der seinem Eindruck dennoch manchmal nicht trauen möchte. Sie führt über einen nicht alltäglichen Abgrund der Liebe zu seinen Nächsten, deren Kehrseite der Hass sein kann. Umarmen und Würgen können eine unheimliche und unselige Allianz eingehen. So viel steht fest, dass ein Mensch in seinem Paradox, also in seinem freigelegten Inneren, nicht einfach mit fürsorglichen, verstehenden Worten zu erreichen ist. Dort drinnen, in seiner wunden Seele, sitzt der Mensch allein. Das muss man wohl Schicksal nennen, dass es von dort unten kein Entkommen gibt. Und das sollte man einen geglückten Anfang nennen, dass es eine neue Autorin in der deutschen Literatur gibt, die über genügend Talent verfügt, das Echo aus der Gruft, die der Mensch sich selber ist, zu hören und daraus eine Geschichte zu machen, durch die der Seelensarg nicht gleich wieder verschlossen wird.

Susanne Riedel: "Kains Töchter". Roman. Rowohlt Verlag Berlin. Berlin 2000. 332 S., geb., DM 39,80.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Von dieser Kindheitstragödie mit ihrem nicht aufhörenden Unglück wurde auch Rezensent Eberhard Rathgeb mitgerissen. Erst mal reiht er endlos Unglücksmetaphern und dramatische Worthülsen aneinander, bevor er zur Sache kommt. Dann folgt Kindesmisshandlung auf Kindesmisshandlung und Unglück auf Unglück, bis man beim Lesen vollends den Überblick verloren hat. Die Frage "wieviele Katastrophen verkraftet ein Roman?" wird leider nicht wirklich gestellt. Doch Rathgeb wundert sich, daß Susanne Riedel der Roman trotzdem gelang. Meint aber dann, dass die Geschichte wohl "dank ihrer sprachlichen Suchbewegung" und der klugen Weigerung zu erklären eindringlich bleibt. Am Ende ist der Rezensent erleichtert, dass es eine neue Autorin gibt, die genügend Talent hat, "das Echo aus der Gruft zu hören, die der Mensch sich selber ist". Amen.

© Perlentaucher Medien GmbH