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Produktdetails
  • Verlag: Peter Hammer
  • ISBN-13: 9783872947383
  • Artikelnr.: 25176479
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.1998

Denn was ich froh, aus vollem Herzen sprach
Das klang zurück aus deinem holden Leben: Fragmente einer Sprache der Liebe im Islam

Nichts ist exotischer als die exotische Liebe. Wollte man sich an so unterschiedliche Geister wie Gustave Flaubert und Paul Bowles halten, läßt sich im Orient wiederfinden, was der Sexualität im Abendland ausgetrieben wurde. Doch wir glauben ihnen nicht mehr, obwohl wir sie in einem Punkt durchaus bestätigen könnten: Eine Kultur ist kaum intensiver zu erfahren als durch den Einblick in ihr privates Leben, so daß Wissenschaft und Voyeurismus zuweilen ununterscheidbar ineinandergreifen. Was am Ende jedoch zählt, sind nicht die Motive, sondern das Ergebnis. Daran müssen sich auch zwei neue Bücher über die Liebe im Islam messen lassen, die "Enzyklopädie" des französischen Anthropologen Malek Chebel und Steffen Strohmengers ethnographische Studie aus Kairo.

Dem im Westen verbreiteten Bild des Islams zum Trotz weist die von Mohammed gestiftete Religion traditionell ein vergleichsweise unbefangenes Verhältnis zu Liebe und Körperlichkeit auf. Lust gilt als Geschenk Gottes, und die Sexualität ist integraler, genau kodifizierter Bestandteil des islamischen Menschenbildes. Selbst die nach religiösem Gesetz verbotenen Sexualpraktiken hatten in den Blütezeiten der islamischen Zivilisation immer einen Platz im öffentlichen Leben und in der Literatur. Eine "Histoire de la sexualité" in der islamischen Welt wäre daher ein ebenso vielversprechendes wie anspruchsvolles Unterfangen. Das Material unzusammenhängend und ohne historische Perspektiven nach Art eines Lexikons darzubieten nimmt sich dagegen eher fragwürdig aus. Geradezu abenteuerlich wird es jedoch, wenn, wie bei Chebels "Enzyklopädie", ein solches Lexikon von einem einzigen Autor verfaßt ist.

Kein Wunder also, daß an diesem Werk nur das Zettelkastenprinzip enzyklopädisch ist. Für jedes Stichwort hat Chebel im Normalfall drei Zettelchen vorgesehen. Auf dem ersten steht eine ausführliche allgemeine Definition des jeweiligen Begriffs, die den Leser erst einmal aufklären soll. Wer aber schon weiß, was ein "Orgasmus" ist, der kann die erste Hälfte dieses und der meisten anderen Artikel getrost überlesen. Etwa ein Drittel des Buches besteht aus wer weiß wo abgeschriebenen Anfangsgründen der sexuellen Aufklärung. Auf dem zweiten, meist kürzesten Zettelchen ist vermerkt, daß man auch in der islamischen Welt von dem betreffenden Sachverhalt schon einmal gehört hat: "Unter arabischen Ärzten war das Phänomen des Orgasmus seit langem bekannt." Wer hätte das gedacht? An derart erhellende Sätze schließt ohne Umschweife das dritte Zettelchen an: "Die folgende wissenschaftliche Beschreibung aus dem zehnten Jahrhundert veranschaulicht dies." Mit dem nun dargebotenen ausführlichen Zitat über die Mechanik des Orgasmus beim Tier verabschiedet sich Chebel. Und so geht es in nahezu allen Artikeln.

Es wäre gar nichts dagegen einzuwenden, daß ein solches Werk eine Zusammenschau von Bekanntem bietet. Aber wer derartiges unternimmt, sollte einen ungefähren Überblick über die Fachliteratur und einen Hauch Problembewußtsein mitbringen. Doch Chebels Nonchalance läßt ihn selbst die Vorarbeiten übersehen, die seinem ostentativen Bedauern über den männlichen Blick der islamischen Erotica entgegenkämen. Stichwort Vulva, arabisch "Fardj": Zwar bezeichnet das arabische "Fardj" heutzutage das weibliche Geschlechtsteil, aber dies war keineswegs immer der Fall. Fethi Benslama hat darauf aufmerksam gemacht, daß dieses Wort ursprünglich für beide Geschlechter gebraucht wurde und gleichsam die soziale und existentielle Achillesferse des Menschen, die zu hütende Scham, bezeichnete. Chebel übersieht diesen bemerkenswerten und für die Herabsetzung der Frau charakteristischen Bedeutungswandel von "Fardj" zu einem Wort, das allmählich nur noch für das weibliche Geschlechtsteil gebraucht wurde, und zitiert statt dessen wieder einmal aus "Tausendundeiner Nacht".

Ärgerlicher noch als mangelnde Literaturkenntnis ist aber methodische Naivität. Mit aufklärerischem Gestus wirft Chebel in dem Artikel "Orientalismus" den Malern und Schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts vor, daß deren Werk mehr über ihre Seelenlage als über ihren Gegenstand aussagt. Völlig korrekt. Doch dann wundert es schon, daß Chebel seine Darlegungen mit zahlreichen Zitaten der einschlägig bekannten Orientreisenden illustriert, deren Zeugnis er allem Anschein nach für bare Münze nimmt.

Es sei gerne zugestanden, daß dieses Lexikon für ein breiteres Publikum geschrieben wurde, doch auch Laien sollten mehr erwarten dürfen als eine Blütenlese aus der orientalischen Literatur, gepaart mit Erläuterungen zu absolut gängiger sexueller Begrifflichkeit. So ist denn dieses Werk bestenfalls orientalistisch: Man lernt daraus mehr über die Wünsche des Buchmarktes und die Selbstüberschätzung des Autors als über das Thema: die Liebe im Islam.

Nicht minder gewagt als Chebels Lexikon erscheint zunächst auch Steffen Strohmengers Versuch, den Liebesdiskurs in der heutigen ägyptischen Gesellschaft zu beschreiben. Interviews mit zweiundzwanzig jungen Ägypterinnen und Ägyptern collagiert Strohmenger zu einer Diskussionsrunde über zwölf Aspekte der Liebe. Rein wissenschaftlich betrachtet, ist der Ertrag dieser ursprünglich als Magisterarbeit konzipierten Studie trotz des beträchtlichen theoretischen Aufwands sicherlich begrenzt. Als Einführung in die Liebeskonzeptionen der heutigen arabischen Welt, ja bisweilen in die Sprache der Liebe im Sinne von Barthes unter den Bedingungen des Islams, ist dieses Buch jedoch ein herausragendes mentalitätsgeschichtliches Dokument. Die fiktiven Diskussionen sind ebenso lesenswert wie die Gespräche der Surrealisten über Sexualität, die "Recherchen im Reich der Sinne", zu denen sie einen so starken Kontrapunkt bilden, daß man unweigerlich versucht ist, diese für die jeweilige Gesellschaft so typischen Werke zu vergleichen. Betonen die Gespräche der Surrealisten radikal die individuellen Liebesvorstellungen und Praktiken, die möglichst unverfälscht von gesellschaftlicher Konditionierung zur Sprache gebracht werden sollen, so spricht hier allein das Über-Ich, zu dem sich alle Gesprächsteilnehmer bekennen - als dem rettenden Ufer vor den überall lauernden gesellschaftlichen Sanktionen.

Während Chebel die Rolle der Sexualität in der islamischen Gesellschaft hoffnungslos überzeichnet und in die selbstgestellten orientalistischen Fallen tappt, rückt Strohmenger das Bild wieder zurecht. Sex um der bloßen Befriedigung willen wird von den Teilnehmern mehrfach als unmenschlich, ja explizit als tierisch bezeichnet. Als letztes Ziel der Liebe erscheint die Heirat.

Die unflexible Rollenverteilung der Geschlechter kann paradoxe Konsequenzen zeitigen: Läßt die Frau es zu, daß der Mann im Annäherungsstadium ihre Hand ergreift, rückt ihr Verhalten in die Nähe der Promiskuität. Dennoch ist der Mann gehalten, dies zu versuchen, weil er sie, seinem Kodex gemäß, zu erobern hat, aber eben auch testen soll, wie billig oder teuer sie sich verkauft. Sosehr diese Praxis von den meisten Teilnehmern in Frage gestellt wird, so schwer scheint es, sich ihr zu entziehen.

So erweist sich dieses unauffällige Buch als lebensnahe und spannende Einführung in die Welt der Liebe im Islam. Anders als Chebels Werk ist Strohmengers Versuch ein ernsthafter Beitrag zu dem, was später einmal eine Enzyklopädie über diesen Gegenstand werden kann. Aber bis dahin wird noch viel Wasser den Nil hinabfließen. STEFAN WEIDNER

Malek Chebel: "Die Welt der Liebe im Islam". Eine Enzyklopädie. Aus dem Französischen von Ursula Günther, Wieland Grommes, Reinhard Hesse und Edgar Peinelt. Verlag Antje Kunstmann, München 1997. 496 S., geb., 98,- DM.

Steffen Strohmenger: "Kairo". Gespräche über die Liebe. Eine ethnographische Collage in zwölf Szenen. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1997. 272 S., br., 38,- DM.

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