Er ist der selbsternannte Sheriff von Raufarhöfn. Er hat alles im Griff. Doch in Kalmanns Kopf laufen die Räder manchmal rückwärts. Als er eines Winters eine Blutlache im Schnee entdeckt, überrollen ihn die Ereignisse. Mit seiner naiven Weisheit und dem Mut des reinen Herzens wendet er alles zum Guten. Kein Grund zur Sorge.
»Eine Entdeckung, die bleibt.« Denis Scheck / ARD - druckfrisch ARD - druckfrisch
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2020Wildwest auf Island
Joachim B. Schmidts Roman "Kalmann"
Kalmann Óðinnson ist 34 Jahre alt, dicklich, geistig unbedarft und hat noch nie mit einer Frau geschlafen oder ein Buch gelesen, hält sich aber für den Sheriff von Raufarhöfn. Stolz trägt er Stern, Cowboyhut und eine deutsche Mauser, die ihm sein Vater, ein amerikanischer Soldat, vermacht hat, aber der war nur Samenspender für die Mutter. Sheriff Kalmann, ohnehin kein sehr unternehmungslustiger Typ, hat wenig zu tun: Raufarhöfn, 609 Kilometer nördlich von Reykjavík gelegen, ist ein sterbendes Dorf mit noch 173 Seelen. Seit die Fischerei fast zum Erliegen kam, ziehen die Leute weg, und alles, was Raufarhöfn lebens- und liebenswert machte, wurde geschlossen oder geschrumpft: Kino, Tanzgruppe, Schule, Tankstelle.
Kalmann redet mangels anderer Gesprächspartner mit Eisbären, Polarfüchsen oder dem Kutter, mit dem er zur Jagd auf Grönlandhaie ausläuft. Sein Wortschatz beschränkt sich auf Phrasen wie "Korrektomundo" oder "Keine Chance" und lakonische Lebensweisheiten wie "Wenn etwas das Gesetz ist, kann man nichts machen" oder "Unter einem Eisbären kann es sehr dunkel sein". Kalmann vertreibt sich die Zeit gutgelaunt mit ortsüblichen Zerstreuungen: Er isst als Mutprobe rohe Fischaugen (und erbricht sie gleich wieder), besucht den Großvater im Seniorenheim und telefoniert viel mit seinem einzigen Freund, einem nerdigen Hacker aus Reykjavík, der alle Welt mit tragikomischen Hass- und Hämetiraden überzieht. Kalmann dagegen ist im Grunde eine Seele von Mensch. Und keiner macht besseren Gammelhai - eine isländische Spezialität, die fermentiert und im Boden vergraben wird, allerdings bestialisch stinkt.
Ausgerechnet Kalmann findet bei der Jagd auf Polarfüchse Blutspuren im Schnee, die seinen kriminalistischen Instinkt wecken. Ist nicht gerade der Hotelier Róbert McKenzie spurlos verschwunden, der König von Raufarhöfn, der das Dorf als "Jammerkaff" beschimpfte und sich in einem Anfall lebensmüder Verzweiflung den Haien zum Fraß vorwerfen wollte? Wurde McKenzie Opfer eines Verbrechens oder eines verirrten Eisbären? Was wissen die litauischen Saisonarbeiter in McKenzies Hotel, was die schöne Nadja, nach der Kalmann sich in seinen Tagträumen verzehrt? Er tappt ahnungslos im Polarkreis herum, die Polizei in Gestalt der molligen, warmherzigen Birna im Dunkeln, und so scheint die Story auf einen herzerwärmenden Wohlfühl-Krimi loszusteuern: Ein nordischer Forrest Gump verirrt sich in ein Abenteuer aus Kuschelsex und Crime.
Joachim B. Schmidts Roman ist dann aber doch ein bisschen mehr, nämlich eine genau recherchierte, unprätentiös erzählte Reportage vom Alltag am kalten Ende der Welt. Der gebürtige Schweizer lebt nach etlichen Zwischenstationen (Kellner, Knecht, Maurer, Journalist) seit mittlerweile dreizehn Jahren als Fremdenführer auf Island. Drei Romane hatte er schon über die geheime Verwandtschaft zwischen Schweizern und Isländern geschrieben; zuletzt, in "Moosfieber" (2013), erinnerte er ans Schicksal von dreihundert deutschen Kriegerwitwen, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen einer Bauer-sucht-Frau-Aktion auf die Insel verschickt wurden. Jetzt könnte Schmidt bei Diogenes einem größeren Publikum bekannt werden: als Außenreporter und Tourenführer für ein gemütlich vergammelndes Island.
Aus Schmidts Blog geht hervor, dass der Autor kaum etwas erfinden musste: Wie im Roman hält auch im wahren Leben von Raufarhöfn der Dorfdichter Sprechstunde in der Bücherei, stehen Tankstelle, Leuchtturm und Arctic Henge Monument als Ruinen verblichener Hoffnungen in der großartigen Einöde herum. Als Sittenbild aus Islands Provinz ist Schmidts Roman durchaus gelungen, als Porträtgalerie von verschrobenen Originalen überzeugt er weniger. Der schrullige Großvater scheint immer kurz davor, als Hundertjähriger aus dem Fenster zu steigen, und vor allem die weiblichen Figuren sind arg altbacken. "Ich mag Leute, die ich nicht kenne, grundsätzlich nicht", räsoniert Kalmann einmal. "Außer Frauen. Aber das ist etwas anderes. Die muss man nämlich mögen, denn das ist die Natur. Fortpflanzung." Korrektomundo. Aber mit solch grenzdebilen Kalendersprüchen bekäme man wohl nicht einmal in Raufarhöfn eine Chance.
MARTIN HALTER
Joachim B. Schmidt: "Kalmann". Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2020. 352 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Joachim B. Schmidts Roman "Kalmann"
Kalmann Óðinnson ist 34 Jahre alt, dicklich, geistig unbedarft und hat noch nie mit einer Frau geschlafen oder ein Buch gelesen, hält sich aber für den Sheriff von Raufarhöfn. Stolz trägt er Stern, Cowboyhut und eine deutsche Mauser, die ihm sein Vater, ein amerikanischer Soldat, vermacht hat, aber der war nur Samenspender für die Mutter. Sheriff Kalmann, ohnehin kein sehr unternehmungslustiger Typ, hat wenig zu tun: Raufarhöfn, 609 Kilometer nördlich von Reykjavík gelegen, ist ein sterbendes Dorf mit noch 173 Seelen. Seit die Fischerei fast zum Erliegen kam, ziehen die Leute weg, und alles, was Raufarhöfn lebens- und liebenswert machte, wurde geschlossen oder geschrumpft: Kino, Tanzgruppe, Schule, Tankstelle.
Kalmann redet mangels anderer Gesprächspartner mit Eisbären, Polarfüchsen oder dem Kutter, mit dem er zur Jagd auf Grönlandhaie ausläuft. Sein Wortschatz beschränkt sich auf Phrasen wie "Korrektomundo" oder "Keine Chance" und lakonische Lebensweisheiten wie "Wenn etwas das Gesetz ist, kann man nichts machen" oder "Unter einem Eisbären kann es sehr dunkel sein". Kalmann vertreibt sich die Zeit gutgelaunt mit ortsüblichen Zerstreuungen: Er isst als Mutprobe rohe Fischaugen (und erbricht sie gleich wieder), besucht den Großvater im Seniorenheim und telefoniert viel mit seinem einzigen Freund, einem nerdigen Hacker aus Reykjavík, der alle Welt mit tragikomischen Hass- und Hämetiraden überzieht. Kalmann dagegen ist im Grunde eine Seele von Mensch. Und keiner macht besseren Gammelhai - eine isländische Spezialität, die fermentiert und im Boden vergraben wird, allerdings bestialisch stinkt.
Ausgerechnet Kalmann findet bei der Jagd auf Polarfüchse Blutspuren im Schnee, die seinen kriminalistischen Instinkt wecken. Ist nicht gerade der Hotelier Róbert McKenzie spurlos verschwunden, der König von Raufarhöfn, der das Dorf als "Jammerkaff" beschimpfte und sich in einem Anfall lebensmüder Verzweiflung den Haien zum Fraß vorwerfen wollte? Wurde McKenzie Opfer eines Verbrechens oder eines verirrten Eisbären? Was wissen die litauischen Saisonarbeiter in McKenzies Hotel, was die schöne Nadja, nach der Kalmann sich in seinen Tagträumen verzehrt? Er tappt ahnungslos im Polarkreis herum, die Polizei in Gestalt der molligen, warmherzigen Birna im Dunkeln, und so scheint die Story auf einen herzerwärmenden Wohlfühl-Krimi loszusteuern: Ein nordischer Forrest Gump verirrt sich in ein Abenteuer aus Kuschelsex und Crime.
Joachim B. Schmidts Roman ist dann aber doch ein bisschen mehr, nämlich eine genau recherchierte, unprätentiös erzählte Reportage vom Alltag am kalten Ende der Welt. Der gebürtige Schweizer lebt nach etlichen Zwischenstationen (Kellner, Knecht, Maurer, Journalist) seit mittlerweile dreizehn Jahren als Fremdenführer auf Island. Drei Romane hatte er schon über die geheime Verwandtschaft zwischen Schweizern und Isländern geschrieben; zuletzt, in "Moosfieber" (2013), erinnerte er ans Schicksal von dreihundert deutschen Kriegerwitwen, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen einer Bauer-sucht-Frau-Aktion auf die Insel verschickt wurden. Jetzt könnte Schmidt bei Diogenes einem größeren Publikum bekannt werden: als Außenreporter und Tourenführer für ein gemütlich vergammelndes Island.
Aus Schmidts Blog geht hervor, dass der Autor kaum etwas erfinden musste: Wie im Roman hält auch im wahren Leben von Raufarhöfn der Dorfdichter Sprechstunde in der Bücherei, stehen Tankstelle, Leuchtturm und Arctic Henge Monument als Ruinen verblichener Hoffnungen in der großartigen Einöde herum. Als Sittenbild aus Islands Provinz ist Schmidts Roman durchaus gelungen, als Porträtgalerie von verschrobenen Originalen überzeugt er weniger. Der schrullige Großvater scheint immer kurz davor, als Hundertjähriger aus dem Fenster zu steigen, und vor allem die weiblichen Figuren sind arg altbacken. "Ich mag Leute, die ich nicht kenne, grundsätzlich nicht", räsoniert Kalmann einmal. "Außer Frauen. Aber das ist etwas anderes. Die muss man nämlich mögen, denn das ist die Natur. Fortpflanzung." Korrektomundo. Aber mit solch grenzdebilen Kalendersprüchen bekäme man wohl nicht einmal in Raufarhöfn eine Chance.
MARTIN HALTER
Joachim B. Schmidt: "Kalmann". Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2020. 352 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main