Marcel Beyer hat einen neuen großen Roman geschrieben. Der "Erfinder der Wirklichkeit", der Heinrich-Böll- und Uwe-Johnson-Preisträger, der "Dichter des ganzen Deutschland" entwirft in ihm ein Panorama deutscher Geschichte von den dreißiger Jahren bis in die Gegenwart. Wie im Erfolgsroman "Flughunde" verwebt Marcel Beyer erneut Persönliches und Geschichtliches derart überzeugend miteinander, daß wir den Ereignissen im katastrophischen Deutschland des 20. Jahrhunderts gebannt folgen.Ludwig Kaltenburg, geboren 1903, Biologe, arbeitet Ende der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts in Posen. Dort begegnet er zum ersten Mal dem Ich-Erzähler, zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind. Im Gefolge des Zusammenbruchs des "Dritten Reichs" flüchtet der Junge mit seinen Eltern nach Dresden. Dessen Bombardierung im Februar 1945 überlebt er und beginnt ein Studium der Ornithologie, das ihn erneut in engen Kontakt zu Kaltenburg bringt. Der kann in Dresden ein eigenes Institut gründen und sich internationales Renommee erwerben. Wie erfahren die beiden Wissenschaftler, der angehende und der erfolgreiche, die Gründung und Konsolidierung der DDR in Dresden, welche Wendungen nehmen die Lebensläufe der beiden in den unterschiedlichen Stadien der DDR, wie erlebt der Ornithologe schließlich das Ende der DDR?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2008Fallende Vögel
Marcel Beyer erzählt in "Kaltenburg" von Bombennächten und ostdeutscher Nachkriegszeit und häuft viel zoologisches Wissen an
"Dort in der Dunkelheit des Kehlkopfs: Das ist deine eigene Geschichte, die du nicht entziffern kannst", hieß es 1995 in Marcel Beyers Roman "Flughunde". Den eigenen Entzifferungswahn heizte das nur an. "Flughunde" war ein Buch, das man glaubte, gar nicht oft genug lesen zu können, da man immer noch mehr entdeckte in dieser Geschichte über den Stimmenforscher Karnau, der Wachmann im Führerbunker gewesen war und für die Westalliierten erster Zeuge für Hitlers Tod. Von Rilkes "Ur-Geräusch" über Borges' "Unerbittliches Gedächtnis" bis zu Kittlers "Grammophon, Film, Typewriter" hatte Beyer den Roman vollgepackt mit Literatur- und Theorieverweisen, und all das funktionierte wie ein Feuerwerk, das überhaupt nicht verglühte.
Deshalb freut man sich auf Beyers neues Buch "Kaltenburg", das ähnlich konstruiert zu sein scheint: Kein Stimmenkartograph ist es diesmal, sondern der Ornithologe Ludwig Kaltenburg, dessen Weg - wie auch der des Ich-Erzählers, der sein Schüler wird - von Posen nach Dresden führt und der später im Westen über die Dresdner Jahre sein Werk "Urformen der Angst" verfasst. Die Ornithologie ist das Paradigma, anhand dessen Beyer, von den Bombennächten 1945 in Dresden bis zur Konsolidierung der DDR, ein ganzes Kapitel deutscher Geschichte erzählt: Im Rauch der Bomben fallen im Großen Garten tote Vögel als verbrannte Brocken vom Himmel, während an anderer Stelle Menschen verbrennen. "Kaltenburg" ist zuallererst ein Roman über die "Todesatmosphäre".
Nur gibt sich Marcel Beyer der Vogelforschung dabei so exzessiv hin, häuft so viel diskurshistorisches Wissen an, dass sich die erzählten Lebensläufe im Positivismus der Vogelforscherenergie gar nicht entfalten können. Zwischen Wissen und erzähltem Leben funkt es diesmal nicht. Alles steht wie präpariert und ausgestopft vor einem da. Man weiß hinterher sehr viel mehr über Vögel als vorher. Aber die Figuren lassen einen ganz kalt.
JULIA ENCKE
Marcel Beyer: "Kaltenburg". Roman. Suhrkamp, 400 Seiten, 19,80 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marcel Beyer erzählt in "Kaltenburg" von Bombennächten und ostdeutscher Nachkriegszeit und häuft viel zoologisches Wissen an
"Dort in der Dunkelheit des Kehlkopfs: Das ist deine eigene Geschichte, die du nicht entziffern kannst", hieß es 1995 in Marcel Beyers Roman "Flughunde". Den eigenen Entzifferungswahn heizte das nur an. "Flughunde" war ein Buch, das man glaubte, gar nicht oft genug lesen zu können, da man immer noch mehr entdeckte in dieser Geschichte über den Stimmenforscher Karnau, der Wachmann im Führerbunker gewesen war und für die Westalliierten erster Zeuge für Hitlers Tod. Von Rilkes "Ur-Geräusch" über Borges' "Unerbittliches Gedächtnis" bis zu Kittlers "Grammophon, Film, Typewriter" hatte Beyer den Roman vollgepackt mit Literatur- und Theorieverweisen, und all das funktionierte wie ein Feuerwerk, das überhaupt nicht verglühte.
Deshalb freut man sich auf Beyers neues Buch "Kaltenburg", das ähnlich konstruiert zu sein scheint: Kein Stimmenkartograph ist es diesmal, sondern der Ornithologe Ludwig Kaltenburg, dessen Weg - wie auch der des Ich-Erzählers, der sein Schüler wird - von Posen nach Dresden führt und der später im Westen über die Dresdner Jahre sein Werk "Urformen der Angst" verfasst. Die Ornithologie ist das Paradigma, anhand dessen Beyer, von den Bombennächten 1945 in Dresden bis zur Konsolidierung der DDR, ein ganzes Kapitel deutscher Geschichte erzählt: Im Rauch der Bomben fallen im Großen Garten tote Vögel als verbrannte Brocken vom Himmel, während an anderer Stelle Menschen verbrennen. "Kaltenburg" ist zuallererst ein Roman über die "Todesatmosphäre".
Nur gibt sich Marcel Beyer der Vogelforschung dabei so exzessiv hin, häuft so viel diskurshistorisches Wissen an, dass sich die erzählten Lebensläufe im Positivismus der Vogelforscherenergie gar nicht entfalten können. Zwischen Wissen und erzähltem Leben funkt es diesmal nicht. Alles steht wie präpariert und ausgestopft vor einem da. Man weiß hinterher sehr viel mehr über Vögel als vorher. Aber die Figuren lassen einen ganz kalt.
JULIA ENCKE
Marcel Beyer: "Kaltenburg". Roman. Suhrkamp, 400 Seiten, 19,80 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Um Längen besser" als das sich schon gut verkaufende "Flughunde" sei dieses neue Buch von Marcel Beyer, will Jens Bisky erst einmal festgehalten haben. Kein einziges kritisches Wort hat er übrig für die Geschichte des Ornithologen Ludwig Kaltenburg, erzählt aus der Erinnerung von dessen Schüler Hermann Funk, wie sie Marcel Beyer imaginiert. Beyer widme sich der Frage, wie es nach der großen Erschütterung durch den Zweiten Weltkrieg weiterging im Leben seiner Protagonisten. Besonders gut gefällt Bisky dabei, dass der Autor nicht jedes Geheimnis klärt, keinen Wert auf Posen legt und auch nicht mit seinem enormen zeitgeschichtlichen Wissen prahlt. Spannend ist das Ganze, "überlegt und haltbar" zusammengefügt überdies, ohne dass sich aber am Schluss ein solides Ganzes ergibt. Immer lasse Marcel Beyer Raum für ein gesundes Misstrauen gegenüber der Wahrhaftigkeit von Erzählung und Erinnerung, und die Leseerwartungen werden ohnehin niemals erfüllt. Was Bisky wiederum erfüllt, und zwar mit Rezensentenglück.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wie Marcel Beyer die verborgene Poesie der Fachsprachen in der eigenen Prosa zum Klingen bringt, ist einzigartig.«
Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung